Nachrichtenbeitrag
„Ein Kongress, der Mut gemacht hat“
Im 2. Teil unserer Serie zur integrativen Medizin in der Pandemie bespricht Dr. Tido von Schoen-Angerer die wachsende internationale Bedeutung der integrativen Medizin, auch wie Coronaskeptiker unter den Ärzten dem Image schaden.
GENF/BRÜSSEL (NNA) – Was bedeutet der AIHM-Kongress für die Integrative Medizin hier bei uns? NNA hat Dr. Tido von Schoen-Angerer, Vizepräsident der Internationalen Vereinigung der Anthroposophischen Medizin, IVAA, danach gefragt, er hat die IVAA bei dem Kongress vertreten.
NNA: Was waren für Sie die wichtigsten Ergebnisse des Kongresses?
von Schoen-Angerer: Der ganze Kongress hat mich sehr hoffnungsvoll gestimmt, er hat ganz viel positive Energie ausgestrahlt trotz der Pandemie und gezeigt, was alles gemacht werden kann zur medizinischen, gesellschaftlichen und persönlichen Weiterentwicklung. Es wurden ja wichtige Aspekte angesprochen zur Gesunderhaltung, sowohl spirituell als auch seelisch und physisch, z.B. wie man sich gesund ernährt oder was man gegen Stress tun kann. Das war sicherlich nicht alles neu, aber ein Aufruf, stärker auf das alles zu achten.
Es konnte einem schon viel Mut machen, bei dem Kongress zu erleben, wie so nach vorne geschaut wird in einem Land wie den USA, das ja noch viel stärker von gesellschaftlicher Polarisierung betroffen ist als wir hier.
Sehr berührt haben mich auch die Darstellungen über die indigene Bevölkerung, die ja viel mehr Opfer zu beklagen hat in der Pandemie, die Benachteiligung von Minderheiten stand auch im Fokus des Kongresses.
Ein weiteres Plus war sicherlich die Mischung der Beiträge, es wurden viele Erfahrungen mit integrativen Behandlungen dargestellt, aber auch eine ganze Reihe von wissenschaftlichen Studien zur konventionellen und zur integrativen Medizin. Die anthroposophischen Ärzte konnten ihre Erfahrungen beisteuern aus der Versorgung von Covid-19-Patienten in Kliniken und Praxen.
NNA: Wie ist denn generell die Stellung der Integrativen Medizin in den USA, kann man sagen, sie ist mehr etabliert als hier in Europa?
von Schoen-Angerer: In den USA ist die Integrative Medizin gut aber anders verankert, es gibt seit vielen Jahren das National Center for Complementary and Integrative Health (NIH) als nationale Förderung der Forschung, außerdem im Academic Consortium for Integrative Medicine and Health einen Zusammenschluss der Spitzenuniversitäten, die auch zu diesem Thema forschen.
Skeptiker und Querdenker
NNA: Wenn man diese internationale Ebene anschaut, gewinnt man einen ganz anderen Eindruck als hier bei uns gerade in der letzten Zeit, da wurden ja die integrativen Behandlungsansätze regelrecht lächerlich gemacht in den Medien.
von Schoen-Angerer: Die Kritiker, die aus den Kreisen der Skeptikerbewegung kommen, sind schon sehr effektiv in ihrer Einflussnahme auf die öffentliche Darstellung. Dabei handelt es sich bei der Integrativen Medizin um ein international anerkanntes Forschungs- und Praxisfeld mit zunehmender Evidenz – das wird hier in Deutschland derzeit so nicht wahrgenommen.
NNA: Seit Ausbruch der Pandemie war allerdings in der Öffentlichkeit von den komplementären medizinischen Richtungen wenig zu hören, hat man da der konventionellen Medizin in der Pandemie nicht zu sehr das Feld überlassen?
von Schoen-Angerer: In der Realität war es so, dass viele Kollegen, die integrativ behandeln, tätig waren und Covid-19-Patienten behandelt haben, auch in der Prävention. Das wurde nur nicht unbedingt so in die Öffentlichkeit getragen, was vielleicht einer gewissen Vorsicht entsprochen hat.
Es geht ja keinesfalls darum, jetzt Heilsbotschaften zu verbreiten zur Bekämpfung von Covid-19 oder alternative Behandlungen anzupreisen – die integrative Medizin, das kann man nicht oft genug betonten, arbeitet wissenschaftsbasiert auf der Basis des State of the Art der konventionellen Medizin.
Trotzdem gibt es inzwischen gute Erfahrungen in der integrativen Behandlung der Pandemie. Das wollten wir mit unserem Beitrag zum Kongress von AIHM zeigen. Es wurden beim Webinar zwar auch Arzneimittel genannt, die eingesetzt worden sind, aber wir wollten damit keine Behandlungsempfehlungen geben, es ging zunächst einmal um Erfahrungsberichte.
NNA: Hier in Deutschland gibt es ja die Demonstrationen der Querdenker gegen die Coronamaßnahmen, dort sind auch Ärzte aufgetreten aus dem Bereich der komplementären bzw. integrativen Medizin und haben sich damit in den Zusammenhang von Coronaskeptikern oder sogar -leugnern begeben. Hat das nicht erhebliche Auswirkungen auf die öffentliche Wahrnehmung?
von Schoen-Angerer: Diese ganzen Tendenzen in der Gesellschaft machen auch vor der Community der integrativen Medizin nicht halt, ob dort mehr Vertreter anzutreffen sind, weiß ich nicht, aber es schädigt das Image der ganzen Bewegung, wenn Ärzte die Gefahr durch das Virus kleinreden oder den Nutzen der Impfung grundsätzlich infrage stellen. Das ist Wasser auf die Mühlen der Kritiker.
NNA: Was meinen Sie, kann man gegen diesen Imageschaden unternehmen?
von Schoen-Angerer: Wir als IVAA müssen deutlich machen, wo wir stehen, wir sind keine Impfgegner. Sinnvoll ist es sicher, die Realität der klinischen Versorgung darzustellen, wie wir das jetzt auf dem Kongress getan haben, damit nicht einige wenige, die bei den Querdenkerdemonstrationen auftreten, das Bild bestimmen. Auf der anderen Seite sollten wir auch innerhalb der Bewegung versuchen, im Dialog mit anderen Meinungen zu bleiben. Wichtig ist es sicherlich auch, die Medienkompetenz in der Ausbildung von Ärzten und Therapeuten zu schulen, damit Quellen von Informationen besser geprüft werden.
Global denken
NNA: Wie geht es aus Ihrer Sicht weiter mit der Integrativen Medizin?
von Schoen-Angerer: Die Zukunft sehe ich positiv: die Bewegung der integrativen Medizin wächst. Die Pandemie führt möglicherweise auch dazu, dass hier noch mehr Kräfte freigesetzt werden. Die Integrative Medizin ist auf jeden Fall bereits jetzt eine politische Realität, die WHO hat die Einbeziehung traditioneller, komplementärer und integrativer Medizin explizit als Strategie formuliert. Bereits zu Beginn der Pandemie gab es einen Workshop der WHO, auf dem sich diese Richtungen ausgetauscht haben.
Für viele Länder, gerade in Afrika z.B. hat es politisch Priorität, ihre Traditionen einzubeziehen. Das wird eine große Aufgabe, sein diese Traditionen in die konventionelle Medizin einzubeziehen auch in Ausbildung und Forschung.
NNA: Wenn wir global denken – Sie waren ja als Arzt schon in vielen Ländern tätig, auch für „Ärzte ohne Grenzen“: Lässt sich die Pandemie überhaupt auf einem Kontinent bekämpfen? Gegenwärtig ist es ja so, dass die Impfstoffe vorwiegend den Industrienationen zur Verfügung stehen und in ärmeren Ländern oft noch nicht einmal die Mitarbeiter im Gesundheitswesen geimpft werden können.
von Schoen-Angerer: Das ist eine Katastrophe mit Ansage, denn sowohl die Organisationen der Zivilgesellschaft als auch die der Ärzte haben von Anfang an darauf hingewiesen, dass die Resultate der Forschung zur Pandemie weltweit zur Verfügung gestellt werden müssen, Patente z.B. keine Hindernisse bilden dürfen und die Impfstoffe gleich verteilt werden müssen.
Jetzt haben sich aber doch wieder die Nationalismen durchgesetzt – die reichen Nationen, auch die EU, haben sich eingekauft bei den Pharmafirmen und es sind nur die Reste, die an die ärmeren Länder gehen. Das kann so nicht funktionieren, den armen Ländern bleibt ja gar nichts anderes übrig, als zu impfen zur Bekämpfung der Pandemie. Sie können sich oftmals weder Maßnahmen wie Lockdowns leisten, weil Menschen von der Hand in den Mund leben und auch Social Distancing ist bei beengten Wohnverhältnissen nicht möglich.
So ist zu erwarten, dass es in ärmeren Ländern weiterhin zu hohen Infektionsraten kommt, was wiederum das Risiko von Mutanten erhöht und das wirkt sich auch wieder auf die Bekämpfung der Pandemie bei uns aus.
NNA: Dieser Hintergrund wirft noch ein anderes Licht auf die Impfdiskussion hier bei uns...
von Schoen-Angerer: Die Frage “Lasse ich mich jetzt impfen oder nicht“ ist vor diesem Hintergrund eine echte Luxusdiskussion!
NNA: Herr Dr. von Schoen-Angerer, vielen Dank für das interessante Gespräch!
Das Gespräch führte Cornelie Unger-Leistner
END/nna/ung
Bericht-Nr.: 2105.04-02DE Datum: 4. Mai 2021
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