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Zweiter Band der textkritischen Steiner-Ausgabe erschienen

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By Ansgar Martins

Der zweite von geplanten acht Bänden der beim Stuttgarter Verlag Frommann-Holzboog herausgegebenen textkritischen Ausgabe von Rudolf Steiners Schriften (SKA) ist seit kurzem erhältlich. Der erste Band war in der anthroposophischen Bewegung teilweise auf massive Kritik gestoßen. Ansgar Martins hat für NNA in den zweiten Band der SKA hineingeschaut.

STUTTGART (NNA) – Der Band – herausgegeben von Christian Clement, Professor an der Brigham Young University, Utah – enthält unter dem Titel „Rudolf Steiner: Schriften zur Erkenntnisschulung“ dessen Schriften „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten“ (1904-5) und „Die Stufen der höheren Erkenntnis“ (1905-8). Im Anhang sind Dokumente zu Steiners Arbeit in der „Esoterischen Schule“ der Theosophischen Gesellschaft sowie aus seinen freimaurerischen Riten abgedruckt.

Mit dem neuen Band liegt eine Dokumentation vor, die weit über die beiden publizierten Schriften hinausgreift und diese genau dadurch in ganz neuem Licht erschließt. Beide Bücher gehen auf Aufsätze Steiners in der theosophischen Zeitschrift „Lucifer-Gnosis“ zurück. „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“ hat Steiner bei Neuauflagen teilweise stark überarbeitet. Die kritische Edition nun stellt die Unterschiede der verschiedenen Auflagen dar und macht so die Vertiefungen wie Umbrüche in Steiners Denken über die Jahre hinweg nachvollziehbar.

Im Stellenkommentar werden beide Schriften ausführlich auf ihre philosophischen und literarischen Vorlagen hin untersucht. Dabei zeigt sich, dass Steiner theosophische Vorstellungen übernahm und deren Motive zwar beibehielt, ihnen aber immer mehr einen eigenen Zug verlieh, wie Clement herausarbeitet. Zu Anfang sei für Steiners Konzept der „Einweihung“ beispielsweise eine spirituelle Lehrerfigur unumgänglich gewesen, woraus sich mit der Zeit die Idee einer individuellen geistigen Schulung ohne Lehrerautorität entwickelt habe.

Bezüge

Clement macht in Einleitung und Kommentar deutlich, dass sich die intellektuellen Bezüge von Steiners esoterischem „Schulungsweg“ keineswegs in dessen theosophischen Quellen erschöpften. Clement deutet sie in einem weiten geistesgeschichtlichen Panorama, in dem die christliche Mystik, Schillers „höherer Mensch“, Goethes „Faust“ ebenso wie der „Animalische Magnetismus“ Franz Anton Mesmers oder die Pioniere der Psychotherapie eine Rolle spielen. „Zwischen neomystischer Esoterik und wissenschaftlich betriebener Tiefenpsychologie als charakteristischen Erscheinungen des europäischen fin de siècle nehmen die Schriften Rudolf Steiners zur Erkenntnisschulung eine eigentümliche Mittelstellung ein“, so Clement.

Außerdem erschöpfe Steiners Vorstellung der Erkenntnisschulung sich nicht in den zwei edierten Schriften, man müsse auch Steiners freimaurerische Riten, seine „Mysteriendramen“, Pädagogik und Ästhetik heranziehen, um ihre vielfältigen Dimensionen auszuschöpfen. Clements multiperspektivische Analyse ermöglicht ein vielfältiges Verständnis des „Schulungswegs“, bei dem weder die Widersprüche, die sich aus Steiners Überarbeitung ergeben, noch die Kontinuitäten zu kurz kommen.

Blinde Flecken

Clements Einleitung und Kontextualisierungen weisen allerdings auch blinde Flecken auf, wenn Steiners „Freie Hochschule für Geisteswissenschaft“, die Fortsetzung seiner erkenntniskultischen Arbeit in den 1920ern, kaum erwähnt werden. Außerdem geht Clement nicht wirklich auf Steiners Anspruch ein, eine empirische Wissenschaft der „geistigen Welt“ zu begründen. „Das einzige Wesen, dem der Mensch in der Meditation begegnet, ist nach Steiner letztlich das eigene“, schreibt Clement dazu, obwohl Steiner unmissverständlich vom Gegenteil ausgeht.

Auch relevante Sekundärliteratur kommt nicht zur Sprache, wie z.B. Johannes Kierschs Buch über die „Freie Hochschule“ (Dornach 2012), Wouter Hanegraaffs methodologische Reflexionen zur Erforschung esoterischer Praxis oder Olav Hammers Studie „Claiming Knowledge“ (Leiden 2004), in der besonders die erkenntnistheoretische Dimension von Steiners „Schulungsweg“ religionsgeschichtlich analysiert wird. Von der Auseinandersetzung mit solchen Parallelen in der Esoterikforschung, insbesondere der Frage nach der methodologischen Herangehensweise an esoterische Praxis, hätte Clements Analyse profitieren können.

END/nna/ams

Literaturhinweis: Rudolf Steiner: Schriften – Kritische Ausgabe (SKA). Band 7. Schriften zur Erkenntnisschulung: Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten – Die Stufen der höheren Erkenntnis. Hrsg. und kommentiert von Christian Clement. Mit einem Vorwort von Gerhard Wehr, Stuttgart 2014. CXXX, 495 S.

Bericht-Nr.: 141127-04DE Datum: 27. November 2014

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