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Wirklichkeit als dialogischer Prozess

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By NNA-Korrespondentin Edith Willer-Kurtz

ALFTER (NNA) - „Das Goetheanum – Die Freie Hochschule als geistig-sozialer Raum“ war Thema eines Vortrags von Bodo von Plato, Vorstandsmitglied der Anthroposophischen Gesellschaft, in der Alanus Hochschule in Alfter. Rund 200 Zuhörer waren zu der Veranstaltung gekommen, die im Rahmen der Ringvorlesung zum Rudolf-Steiner-Jubiläum stattfand und zu der Prof. Jost Schieren begrüßte.

Die Ringvorlesung hat das Ziel, die einzelnen gesellschaftlichen und kulturellen Impulse darzustellen, die von Rudolf Steiner in den unterschiedlichen Praxisfeldern initiiert worden sind. Gleichzeitig thematisiert sie in einem wissenschaftlichen Diskurs deren Verankerung in der Anthroposophie. Seit fünf Jahren besteht ein gemeinsames Forschungskolloquium der Alanus Hochschule mit der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft in Dornach.

Bodo von Plato begann die Entstehungsgeschichte der Hochschule für Geisteswissenschaft damit, dass Steiner der Frage nach gegangen sei, wie Architektur aussehen müsse, die für den Menschen gebaut sei. Die Hochschulidee habe Rudolf Steiner von Anfang an beim Bau des Goetheanums verfolgt. Keine Hochschule in Konkurrenz zu bestehenden sollte entstehen, eine menschliche Hochschule, die ergänze. Entstehung und Entwicklung allerdings gingen in mehreren Schritten, was sich einerseits an der Biographie Steiners beschreiben lasse und sich auch am Gebäude zeige.                                  

Ein reiner Kubus im Osten, eine bewegte Form in der Mitte und eine stark durchgestaltete geformte Architektur, die zur Skulptur wird zum Westen hin bilde das Goetheanum. Zuerst aber habe Steiner Emotionen des Menschen wecken wollen bis hin zu der Frage: „Was ist der Mensch eigentlich als Mensch?“

Als fundamentalen Ausgangspunkt und Orientierung Steiners schilderte von Plato den folgenden Gedanken: Die Wirklichkeit die uns umgibt, die wir wahrnehmen, ist nicht die wahre Gestalt der Wirklichkeit, sondern als erkennende Menschen schaffen wir Wirklichkeit. Wir machen das, was uns begegnet, zu dem, was das Ich daraus gestaltet. Biographie, Kriterien dessen, was man schon kennengelernt hat, spielten dabei eine Rolle. So habe jeder seine eigene Wirklichkeitskonstituierung mit einem schöpferischen Anteil und auch mit der damit verbundenen Verantwortung. Von Plato wies an dieser Stelle darauf hin, dass Moralität und Erkenntnis ein Stück näher zusammenrückten.

Diese eigene Konstitutionierung der Erkenntnis für den einzelnen Menschen sei ein notwendiger Ausgangspunkt für die Hochschulidee gewesen. Steiner habe die Welt nicht als gegeben angesehen, den Menschen habe er nicht als Rezipienten betrachtet.

Zu Steiners Erkenntnisphänomen gehöre damit die Entdeckung, dass Wirklichkeit ein dialogischer Prozess sei, also immer ein relatives Geschehen. Die Anschauung der Wirklichkeit, die der Mensch für wirklich erachte, müsse von Zeit zu Zeit neu als Gegenstand der Frage betrachtet werden. Die Grundstruktur aber tauche nur leise auf, erst in der Summe werde Entwicklung wahrnehmbar in der Biographie.

Menschen, die anfangen, sich selbst zu erziehen, an sich zu arbeiten, würden einen Dialog mit sich selbst als Kultur entwickeln. Die erste Folge dessen sei meistens nicht, dass jemand „besser“ werde, sondern vielmehr zeigten sich eher seine problematischen Seiten, Defizite und Unfähigkeiten. Beobachte man den alltäglichen Umgang mit sich selbst, habe das ein System. Es stelle sich die Frage, ob man Freude daran finden könne, was man selbst erkannt und entschieden habe mit Verantwortung, ob man selbst handle nach eigener Entscheidung oder ob man seine Lebensthemen regeln lasse z.B. von Psychologen oder Priestern. 

So könne man sagen, es sei ein gutes Zeichen, wenn eine Gesellschaft, die an sich arbeite und nach Erkenntnissen suche, konfliktreicher lebe.

Mit Konsequenz begründe man eine Kultur mit sich selbst. Daraus erwachse, wie auch bei Steiners Erkenntnisbegriff tiefer Respekt und hohe Wertschätzung vor dem Ich des Menschen. Die geistige Kultur begründe sich. Das sei eine andere Dimension als die, die jetzt in Erscheinung trete. Ein höheres Ich als das Ich, das ich kenne, mache sich bemerkbar und zeige auf, was die geistige Kultur ausmache.

Der Mensch bemerke, dass das mit ihm zu tun habe. Er gehe andere, intensivere und nachhaltigere Verbindungen ein. Reflektiert und geordnet träten Innerlichkeit und Außenwelt näher zusammen, Leben werde schöpferischer, künstlerischer, gestaltend. In Steiners Leben wurde durch diese Entwicklung etwas sichtbar, was zuvor verborgen gewesen sei. Er habe begonnen zu gestalteten, habe Kontakt mit Künstlern aufgenommen, gedichtet, Mysteriendramen seien entstanden, erläuterte von Plato.

Wenn es stimme, so beschreibt von Plato den Entwicklungsweg Steiners, dass der Mensch durch seine Tat Wirklichkeit schaffend wirke, so mussten Initiativen auf vielen Gebieten Neues schaffen. Verschiedene Menschen kamen auf Steiner zu, neue Kulturinitiativen seien nach der Hochschulgründung aufgetreten, wie wir sie heute kennen: Medizin, Pädagogik, Landwirtschaft und Kunst – letztendlich Anwendungsgebiete der allgemeinen Menschenkunde.

Elf Sektionen bilden heute die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft in Dornach. Die eigentliche Praxis liege in der sogenannten Esoterik, d.h. im Dialog vom Ich zum Ich und zu anderen Ichen. Jeder Mensch könne heute seinen inneren Weg beschreiten, betonte von Plato. Man denke nicht nur über Dinge nach, sondern beginne etwas zu tun. Eine Übungen dazu sei, die Summe der Vorstellungen ständig zu vermehren: Neue Vorstellungen zu formen, neue Kombinationen dessen, was man wahrnehme. Keinen Tag ohne neue Vorstellung, forderte von Plato auf. Erkenntnisse sollten allerdings nie durch Wünsche oder Neigungen gestört werden.

Bodo von Plato zeichnete abschließend drei entscheidende Gegenentwürfe zur Hochschule: Dogmatismus, fehlende Kooperation und politisches Bestreben im negativen Sinn. Die Hochschule sei undogmatisch, weil sie ständig in Bewegung und schöpferisch sei. Sektierertum bedeute, abgeschlossen sein zu wollen von der übrigen Welt, wenn keine Kooperation, kein Zusammenwirken mit anderen stattfänden. Bei der Hochschule am Goetheanum sei dies aber nicht der Fall, sie befinde sich in ständigem Austausch. Politisches Bestreben in negativem Sinne hieße, etwas durchsetzen zu wollen. Es gäbe Engagement, da wo es nötig sei nach anthroposophischen Gesichtspunkten. Dogmatismus, Sektierertum und politisches Streben seien Verzerrungen, die sich der geistig-sozialen Hochschulidee Steiners als Herausforderungen an die Seite stellten. Durch diese Gegenentwürfe könne aber auch deutlich werden, was Anthroposophie sein will.

END/nna/wil

Die nächsten Themen im Rahmen der Ringvorlesung sind:

Der Bau wird Mensch - Architektur als Mitwirkende auf allen Lebensfeldern. Prof. Nikolaus von Kaiserberg / Alanus Hochschule am 16.11.2011 / 19.15 Uhr

Die politische Dimension der Anthroposophie: Neugestaltung des Rechtslebens – Für Freiheit, Demokratie und Solidarität. Gerald Häfner//Mitglied des Europäischen Parlaments am Do 17.11.2011 / 19.15 Uhr (als Terminverschiebung)

Bericht-Nr.: 111120-01DE Datum: 20. November 2011

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