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Verschwörungstheorien als Kennzeichen von Umbruchsituationen
BIELEFELD (NNA) – Verschwörungstheorien haben Konjunktur in Umbruchzeiten, die die Zeitgenossen in ihrer Komplexität überfordern. Sie stellen einen Bewältigungsversuch der Individuen dar – allerdings mit fragwürdigem Ausgang. Diese These vertritt Karl Hepfer, Privatdozent für Philosophie an der Universität Jena, in seinem neuen Buch „Verschwörungstheorien – Eine philosophische Kritik der Unvernunft“.
Nicht nur zum Anschlag auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001 kursieren alternative Erklärungsansätze, die im Mainstream der Medien mit dem Etikett „Verschwörungstheorie“ versehen und damit auch abgewertet werden. Nur auf den ersten Blick, so Hepfer, seien solche Theorien für eine seriöse Auseinandersetzung ungeeignet. Man mache es sich zu leicht, wenn man sie „auf dem Haufen der wahnhaften und wirren Ideen“ ablade.
Hepfer nähert sich dem Phänomen Verschwörungstheorie mit erkenntnistheoretischen und ontologischen Fragen, also Fragen nach dem, was es in der Welt gibt und was nicht. Philosophie könne diejenigen Aspekte diskutieren, die bisher von den anderen Wissenschaftsdisziplinen nicht behandelt werden.
So weise die Geschichtswissenschaft nach, dass Verschwörungstheorien ein überholtes Geschichtsbild zugrunde liege, das einzelnen einen zu großen Einfluss auf den Lauf der Geschichte einräume, Psychologen und Soziologen untersuchten den pathologischen Charakter der Verschwörungstheorie und ihre Funktion für den einzelnen oder die Gesellschaft. Die Philosophie mit ihren Fragestellungen könne demgegenüber einen „frischen Zugang zum Thema“ eröffnen, argumentiert Hepfer.
Rückzug auf einfache Welterklärungen
Für ihn ist die zunehmende Konjunktur von Verschwörungstheorien in der Gegenwart Ausdruck der „Krise des modernen Subjekts“. Zunehmend werde es für den Einzelnen schwerer, eine einheitliche und befriedigende Selbstwahrnehmung herauszubilden. Die Arbeitsbiographie sei durch „massive Brüche“ gekennzeichnet, der Druck zur Mobiliät untergrabe die Beständigkeit sozialer Bindungen. Die unmittelbare Erfahrung schließlich werde zunehmend ersetzt durch mittelbare „Informationen“ , die die Urteilskraft und Orientierungsfähigkeit des Individuums in einer bisher nicht gekannten Weise fordern.
Der Rückzug auf einfache Welterklärungen, wie Verschwörungstheorien sie anböten, sei eine naheliegende Antwort auf diese Krise. Wem es gelinge, sich selbst davon zu überzeugen, dass eine einflussreiche Minderheit im Verborgenen das Weltgeschehen lenke, gewinne „sofort ein Ordnungsmuster, das es ihm erlaubt, sich zurechtzufinden.“ Außerdem entlaste die Unterstellung der Fremdsteuerung auch von der Verantwortung für eigene Entscheidungen.
Die Strategie, verwirrende und Angst einflößende Ereignisse durch eine Verschwörung zu „erklären“, habe in der Geschichte der Menschheit eine lange Tradition. Sie ziehe sich schon durch die Pestepidemien des Mittelalters, für die die jüdische Bevölkerung verantwortlich gemacht worden sei oder interpretiere Niederlagen auf dem Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs als Verschwörung der Heimatfront.
Komplexität der Lebenswirklichkeit
Neu sei das Ausmaß der verschwörungstheoretischen Deutungen in der Gegenwart: Sie existierten für viele Anlässe – vom internationalen Großereignis bis hin zur bizarren regionalen Begebenheit. Gerade diese Vielfalt sei es, die eine sehr viel umfassendere Sicht auf die verschiedenen Strategien eröffne, durch die sich die Individuen Sinnfragen beantworten angesichts einer überkomplexen Lebenswirklichkeit, die sich anders kaum noch zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfügen lasse. Einen „klaren Sinn für Sein und Schein zu bewahren“, werde im aktuellen Dauerfeuer von Daten und „Informationen“ nicht eben leichter, betont Hepfer.
Den Lesern seines Buches gibt er aus der Methodologie der Philosophie Kriterien an die Hand, um Verschwörungstheorien zu beurteilen. Um sein Werk nicht zu einer trockenen philosophischen Reflektion werden zu lassen, ist es von Beispielen für Verschwörungstheorien aus verschiedenen Zeiten durchzogen, anhand derer der Leser die Wirksamkeit von Hepfers Kriterien selbst ausprobieren kann.
Dargestellt wird eine breite Palette, sie reicht von einer geheimen Kommunikation aus den Entstehungszeiten des Buchdruck über Freimaurer und Illuminaten bis hin zu heutigen Beispielen wie den sog. Chemtrails, der Mondlandung, den Bedingungen für die Einführung des Euro, die RAF-Selbstmorde in der Vollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim und dem Anschlag auf das World Trade Center. In einem Anhangteil sind auch Beurteilungen des Autors selbst zu einzelnen Theorien zu finden.
Dass es Verschwörungen gibt, sei grundsätzlich nicht abzustreiten, betont Hepfer mit Hinweis auf die Watergate Affäre. Im Zentrum seiner Analyse steht von daher die Frage, wie wahrscheinlich ist es, dass es sich bei den Hypothesen, die die betreffende Theorie vorbringt, tatsächlich um eine Verschwörung handelt? Diese definiert Hefner als Vorgänge, die im Geheimen ablaufen und an denen mehrere Personen beteiligt sind. Diese beeinflussen den Lauf der Dinge zugunsten ihrem eigenen Vorteil und zulasten der Allgemeinheit.
Unterschiedliche Bewertung
Prinzipiell unterscheiden sich Verschwörungstheorien von ihrem Herangehen nach der Analyse Hepfers zunächst nicht von anderen Theorien. Sie gehen induktiv vor, treiben einen hohen Aufwand, um ihre Hypothesen zu belegen und ihre Verfechter achten darauf, dass die Theorie in sich stimmig ist.
Den Unterschied der Verschwörungstheorien zu „normalen“ wissenschaftlichen Theorien sieht Hepfer vor allem in der Wertung des Beweismaterials – Beweise, die für und gegen die Theorie sprächen, würden nicht gleichgewichtig behandelt. Außerdem sei die Verschwörungstheorie resistent gegenüber gegenteiligen Erfahrungen und Beobachtungen, die in anderen Theorien eine Revision der Ausgangshypothese nach sich ziehen würden. Änderungen des Modells seien in den Verschwörungstheorien nicht vorgesehen, sie missachteten jede Gegenevidenz. Der Anhänger einer Verschwörungstheorie werde von daher leicht zum Gefangenen seiner eigenen Gedankenwelt.
Ein weiteress Kennzeichen von Verschwörungstheorien ist für Hepfer auch die Reduktion von komplexen Ursachengeflechten auf wenige Prinzipien und die Benennung von Schuldigen. Die Welt werde in Gut und Böse geteilt, wobei sich die Verfechter der Verschwörungstheorie auf Seiten des Guten wähnten. Hieran werde auch deutlich, dass in diese Theorien Wertungen eingehen.
Traditionellerweise schaffen Mythen oder Religionen den Zusammenhalt einer Gemeinschaft. In dieser Rolle sieht Hepfer auch die Verschwörungstheorien, falls es ihren Schöpfern gelingt, sie als kollektives Interpretationsmuster einer Gemeinschaft zu etablieren. Clever inszenierte Verschwörungsszenarien seien geeignet, eine soziale Dynamik hervorzurufen, die bis zu einer kollektiven Hysterie reichen könnte, meint Hepfer mit Hinweis auf die McCarthy-Ära in den USA.
Negative und Positive Wirkungen
Verschwörungstheorien leisten nach dieser Analyse auch gerade keinen Beitrag zur einer Veränderung von gesellschaftlichen Misständen: Die Verantwortung für soziale Verwerfungen werde außerhalb der Gemeinschaft angesiedelt, betont Hepfer, und wer ständig damit beschäftigt sei, Belege für dunkle Machenschaften hinter den Kulissen zu sammeln, scheue meist die mühsame Auseinandersetzung mit den tatsächlichen Bedingungen, unter denen sich gesellschaftlicher Wandels realisieren lasse.
Hintergrund für die derzeitige Popularität der Verschwörungstheorien ist für Hepfer die Komplexität gesellschaftlicher Realität – diese Komplexität gilt in seiner Analyse auch für die Verschwörungstheorien selbst, denen er am Ende auch positive Wirkungen attestiert: diese liegen darin, den Finger auf Ungereimtheiten und Brüche zu legen. Dadurch werde der Einzelne aufgerufen, jegliche offizielle Verlautbarung sorgfältig zu prüfen und über das Ausmaß des Vertrauens nachzudenken, das er sozialen Institutionen und seinen Mitmenschen entgegenbringt.
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Literaturhinweis:
Hepfer, Karl (2015): Verschwörungstheorien – Eine philosophische Kritik der Unvernunft. Bielefeld. 189 Seiten. ISBN Nr. 978-3-8376-3102-9
Bericht-Nr.: 151105-06DE Datum: 5. November 2015
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