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Rudolf Steiner – Pionier der Goetheforschung

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By NNA-Korrespondent Wolfgang G. Vögele

REZENSION | Der achte Band der kritischen Steiner-Ausgabe ist im frommann holzboog Verlag erschienen. Er befasst sich mit Steiners frühen Schriften zur Goethe-Deutung. Der Band zeigt wie Rudolf Steiner erstmals versucht, eine Weltanschauung zu formulieren, schreibt NNA-Korrespondent Wolfgang G. Vögele.

Mit dem Band „Rudolf Steiner: Frühe Schriften zur Goethe-Deutung: Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung – Goethes naturwissenschaftliche Schriften“ liegt jetzt die erste Abteilung (Bände 1 – 8) der 2013 begonnenen kritischen Ausgabe von Rudolf Steiners Schriften (SKA) vollständig vor. Eine zweite Abteilung (Bände 9 – 16) ist in Vorbereitung. NNA-Korrespondent Wolfgang G. Vögele hat sich den Band angeschaut. Sein Fazit: er zeige, wie Rudolf Steiner erstmals versuche, eine Weltanschauung zu formulieren.

STUTTGART (NNA) – Warum blieb die Anthroposophie eine weitgehend unverstandene und daher rätselhafte geistige Schöpfung? Diese Frage wirft Herausgeber Christian Clement in seinem Vorwort auf. Eine Ursache sieht er darin, dass die meisten Kritiker sich auf die Nachschriften interner Vorträge fokussiert hätten, während sie Steiners grundlegende Schriften, die von vornherein zur öffentlichen Debatte bestimmt waren, nicht beachteten. Mit der SKA werde nun dasjenige Material vorlegt, dessen eine kritische Wissenschaft und eine interessierte Öffentlichkeit bedarf, um sachgemäß über Steiner und seine Anthroposophie urteilen zu können. (S. XIX)

Schon als Schüler und Student hatte sich Steiner in die Gedankenwelt des philosophischen Idealismus eingelebt, im Verlauf der Editionsaufgabe wurden ihm Goethes Naturwissenschaftliche Schriften zur „zweiten geistigen Heimat“. Von hier aus bildete er seine eigene Weltanschauung aus, die er während der Auseinandersetzung mit Darwin, Haeckel und Nietzsche erweiterte. Eine weitere Metamorphose vollzog sich ab 1900: Steiner wendet sich der Mystik und der anglo-indischen Theosophie zu, ab 1910 fand eine Transformation zur Anthroposophie statt. Aus dieser entstanden nach dem Ersten Weltkrieg die vielfältigen, heute selbstverständlichen „Kulturimpulse“.

So sehr diese bekannt sind, so sind sich doch nur wenige Zeitgenossen der philosophischen, wissenschaftstheoretischen und spirituellen Grundlagen dieser Bewegung bewusst. Der englische Philosoph Owen Barfield hat Steiners Denken als das vielleicht „bestgehütetste Geheimnis des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet. Das möchte Clement mit seiner SKA ändern und einen „sachlichen, öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs über Steiner und seine Anthroposophie anregen. Einen solchen könne die Steiner-Gesamtausgabe (GA) nicht leisten, da sie die textlichen Veränderungen der Grundtexte der Anthroposophie durch die verschiedenen Auflagen nicht transparent mache.

Umstrittenes Werk

Auch Prof. Jost Schieren geht in seinem Vorwort zum Band der Frage nach, warum Steiners Werk und Person bis heute so umstritten sind. Die Ursache sieht er darin, dass Steiners spirituell-esoterische Weltsicht als mit einer empirischen Naturwissenschaft unvereinbar angesehen werde, von daher werde auch Steiners Anspruch der Wissenschaftlichkeit für sein Werk die Berechtigung abgesprochen.

Die gesellschaftlich-akademische Öffentlichkeit sehe Steiners Verdienst vor allem in der Herausgabe von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften, dadurch habe er den Naturwissenschaftler Goethe sichtbar und einer weiteren Erschließung zugänglich gemacht.

Wenn Steiners Goethe-Deutung auch umstritten sei, so bilde doch sein Goethebezug „eine zentrale Quelle zum Verständnis seiner Werkbiographie“. Goethe sei sowohl in seiner theosophischen als auch anthroposophischen Phase Steiners zentraler Bezugspunkt gewesen, wie die beiden monumentalen Goetheanumbauten zeigten. Auch in seiner Kunstauffassung nehme er auf Goethes Ästhetik Bezug.

Selbst die bekanntesten anthroposophischen Praxisfelder (Medizin, Landwirtschaft, Waldorfschulen) seien eine letzte Konsequenz von Steiners Goethe-Orientierung, da Goethes Schaffen eine intensive Verbindung mit der sinnlichen Erscheinungswelt aufweise. Diese Verbindung schildert Schieren an Beispielen, wobei er Goethes Gegensatz zu Schiller und Kant herausarbeitet.

Steiner sei es bei seiner Goethe-Edition darum gegangen, Goethes Ideenbildung und Methodik nachzuvollziehen. Wie Goethe die Balance zwischen einem ideenlosen Empirismus und einem erfahrungsabstinenten Idealismus hält, habe ihn fasziniert. Steiner habe Goethes Methode des „anschauenden Erkennens“ nach innen gewendet, um Bewusstseinsvorgänge phänomenologisch zu erschließen. Seine philosophischen Schriften zeigten den Weg zu einer Beobachtung und Erfahrung des eigenen Denkvorgangs und damit, so Steiner, zu einer unmittelbaren Geistgewissheit.

Erfahrungsräume erschließen

Auch seine späteren esoterisch-spirituellen Werke seit 1900 beruhen darauf, dass durch eine „Selbstqualifizierung des Subjekts“ weitere Erfahrungsräume auch spiritueller Art erschlossen werden können. So kann der Dualismus von Subjekt und Objekt, der bis heute das naturwissenschaftlich-technizistische Weltbild prägt, überwunden werden.

Im Hinblick auf den reduktionistischen Wissenschaftsbegriff werde Steiners Goethe-Deutung wieder aktuell. Steiner stelle die Allmacht des in der Aufklärung generierten vernünftigen Subjekts in Frage, das nicht mehr mit der natürlichen Welt verbunden scheint. Solche Aufklärungskritik findet sich wieder in der postmodernen Philosophie von Foucault und zuletzt bei Hartmut Rosa (2016), was zu einer neuen ökologischen Ethik führe, die Mensch und Natur ganzheitlich umfasst [1]. Schon in früheren Publikationen hatte Schieren bedauert, dass Anthroposophie bisher vergeblich an die Pforten der Wissenschaft geklopft habe [2]. Ohne einen Paradigmenwechsel der Wissenschaft werde sich daran auch nichts ändern.

Der jetzt vorliegende erste Band der SKA ist auch insofern bedeutungsvoll, als er Texte enthält, in denen Steiner erstmals versucht, seine Weltanschauung zu formen. Clements Zugang zu Steiners Texten ist hermeneutisch, („Was man nicht versteht, kann man nicht kritisieren“) es geht ihm weder um Kritik noch um Apologie, sondern zunächst um die Offenlegung der Genese des Werks. Eine Bewertung und Kritik im nachfolgenden Diskurs hält er gleichwohl für selbstverständlich.

Aus der Forschungsliteratur zu diesem Thema hebt Clement vier Publikationen hervor: die Dissertation von Wolfgang Raub („Rudolf Steiner und Goethe“, 1964), Karl Robert Mandelkows Studie „Goethe in Deutschland“ (1980, zur Rezeptionsgeschichte), Helmut Zanders „Anthroposophie in Deutschland“ (2007), der dem Thema 70 Seiten widmete, und schließlich Renatus Zieglers Studie „Geist und Buchstabe. Rudolf Steiner als Herausgeber von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften (2018).

Von Wien bis Weimar

Clement zeichnet den Weg von Steiners Goetheforschung von Wien bis Weimar nach und zitiert aus zeitgenössischen Rezensionen, in denen Steiners Goethekommentare vielfach anerkannt und gelobt werden. Letztere hätten dazu beigetragen, dass Goethe nicht nur als Dichter wahrgenommen worden sei.

Fazit: Rudolf Steiner war ein Pionier der Goetheforschung, weil er als einer der ersten Goethes Naturforschung als gleichrangig mit dessen Dichtung würdigte. Dass es Clement immer wieder gelingt, für die Vorworte der einzelnen Bände international renommierte Gelehrte wie etwa den Religionswissenschaftler Wouter Hanegraaff heranzuziehen, dürfte dazu beitragen, die Aufmerksamkeit für die SKA in akademischen Kreisen zu erhöhen. Im Hinblick auf den vorliegenden Band darf man auf Reaktionen von Goethespezialisten gespannt sein.

END/nna/vog

Hinweise
[1] In einem Interview mit der Zeitschrift „Goetheanum“ (4.1.2019) sagt Peter Heusser (Universität Witten/Herdecke): „Die erkenntniswissenschaftlichen Grundlagen der Anthroposophie bilden gleichzeitig die Basis der anthroposophischen Wissenschaftsmethode wie auch die Basis einer streng an Wahrnehmung und Denken orientierten Naturwissenschaft, auch im Sinne Goethes.“ Durch ein auf dieser Grundlage geschultes Beobachten und Denken könnten die materialistischen Modellvorstellungen, mit denen die akademische Wissenschaft ihre naturwissenschaftlichen Fakten auch heute noch interpretiert (was nicht zwingend notwendig sei), allmählich überwunden und eine neue, menschen- und geistgemäße wissenschaftliche Gesamtsicht von Mensch, Natur und Kosmos entwickelt werden. Diese könne dann „den Boden abgeben für einen sukzessiven Ausgleich der vielen Schäden, die durch die einseitig materialistische Weltanschauung und die aus ihr folgende Gesinnung in der modernen Zivilisation und in der Natur entstanden sind.“

[2] Jost Schieren: Die Wissenschaftlichkeit der Anthroposophie. RoSE (Research on Steiner Education), Bd. 2. Nr. 2, S. 99-108, Dezember 2011.

Literaturhinweis:
Rudolf Steiner: Frühe Schriften zur Goethe-Deutung: Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung – Goethes naturwissenschaftliche Schriften. Rudolf Steiner: Schriften. Kritische Ausgabe, Band 1, herausgegeben, eingeleitet und kommentiert von Christian Clement. Vorwort von Jost Schieren. Stuttgart-Bad Cannstatt (frommann-holzboog Verlag) 2022. CIX, 451 Seiten., € 108,-

Bericht-Nr.: 221128-02DE Datum: 28. November 2022

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