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Rudolf Steiner – die Sensation des Tages

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By NNA-Korrespondent Wolfgang G. Vögele

BÜCHERBESPRECHUNG | Rudolf Steiners „Blockbusters“ sind erstmals im Archivmagazin dokumentiert worden. Wolfgang Vögele hat sich darin vertieft und sich auch die neue erschienenen Vorträge der Wolff & Sachs Tourneen angeschaut.

DORNACH (NNA) – Anfang der 1920er Jahre rollte eine Okkultwelle über Deutschland, Jenseitskontakte und Astrologie hatten Hochkonjunktur. Heute würde man von einem Esoterikboom sprechen.  [1] Auch der Stummfilm profitierte von dieser Situation und lockte mit zwielichtige Gestalten zwischen Mystery und Crime in die Kinos: „Das Cabinet des Dr. Caligari“ oder „Dr. Mabuse, der Spieler“. Zur gleichen Zeit elektrisierte ein anderer Name das Publikum: „Dr. Rudolf Steiner“. Sie strömten in seine Vorträge, weil sie ihn für eine Art Magier oder Hellseher hielten.

Seine damalige Popularität schlug sich auch satirisch nieder: Der „Simplicissimus“ brachte eine ganzseitige Zeichnung, auf der sich snobistische Damen und Herren in einem Berliner Salon über die jüngste Modekollektion und das Neueste in der Wissenschafts- und Kulturszene unterhalten: „Picasso soll auch nicht mehr kubisch malen.“ – „Einstein hält fest an seiner Formel.“ – „Übrigens, waren Sie bei Rudolf Steiner?“ [2]

Die berühmte Konzertagentur Wolff & Sachs, die sich um die Organisation zweier Vortragstourneen Steiners duch mehrere deutsche Großstädte beworben hatte, konnte zufrieden sein. Allein in der ersten Tournee, im Januar 1922, sprach Steiner vor etwa zwanzigtausend Menschen. Doch dieser Höhenflug endete unerwartet schnell, als während der zweiten Tournee im Mai militante Gegner aus national-völkischen Kreisen Tumulte in München und Elberfeld inszenierten, so dass Steiner auf eine erbetene dritte Tournee verzichtete.

Was war geschehen? In München war Steiner „durch Radaumacher, auf Anstiften einer Zeitung, körperlich bedroht und in Lebensgefahr gebracht [worden].“ [3] Hatten Verschwörer tatsächlich geplant, Rudolf Steiner durch ein Attentat zu beseitigten? [4]  Oder handelte es sich um einen von Anthroposophen konstruierten Mythos, wie ein amerikanischer Historiker meinte? [5]

Eine einzigartige Dokumentation

Wer das jüngste Archivmagazin (Nr. 8) des Rudolf Steiner Archivs zur Hand nimmt, wird sich diese Fragen selbst beantworten können. Der Schwerpunkt des Magazins bildet eine erstmalige umfassende Dokumentation der beiden „Wolff & Sachs“-Vortragstourneen 1922, in denen Steiner wie nie zuvor im Blickpunkt der deutschen Öffentlichkeit stand.

Wie kam es, dass Steiner in der zeitgenössischen Außenperspektive damals eher dem politisch linken Spektrum zugeordnet wurde, während ihn heute manche Kritiker als deutschnational oder völkisch-rassistisch darstellen?  Steiner erfuhr schon zu Lebzeiten  die widersprüchliche Wirkung seiner Worte: „Jenseits der Grenzen bin ich Alldeutscher, innerhalb Deutschlands bin ich bei den Alldeutschen und ihren Gesinnungsgenossen ein Feind, ein Verräter des Deutschtums.“ [6]

Die Herausgeberin Anne-Kathrin Weise stützt sich auf Dokumente der Dornacher Archive, darunter Augenzeugenberichte und Briefe, von denen viele erstmals veröffentlicht werden.

Eine längere zeitgeschichtliche Einführung zeigt, dass die Demokratie der jungen Weimarer Republik keineswegs gefestigt war. Rechte, terroristische Organisationen verübten Attentate auf hochrangige Politiker. Die wachsende Inflation verunsicherte weite Bevölkerungskreise.

Die praktischen Lösungsansätze der Anthroposophie auf verschiedenen Wissens- und Lebensgebieten, vor allem die Bewegung für Dreigliederung des sozialen Organismus, machte sie zur Zielscheibe völkisch-antisemitischer Kräfte. Diese sahen in Steiner einen Handlanger der Siegermächte und den Agenten einer jüdisch-freimaurerischen Weltverschwörung. Hitlers Mentor Dietrich Eckart hatte 1919 einen langen Artikel über Steiner veröffentlicht, worin er dessen Sozialimpuls als „Dreigliederpuppe“ verhöhnte. [7] Hitler selbst lehnte schon 1920 die Dreigliederung dezidiert ab. Als nach seiner Rede im Hofbräuhaus am 11. Mai 1920 ein Diskussionsteilnehmer die Dreigliederungsidee als mögliche Lösung der sozialen Frage empfahl, erwiderte Hitler: „Wir wollen keine neuen Ideen, sondern die alten, als richtig erkannten Ideen verfechten.“ [8] 

Die völkischen Reaktionen auf Rudolf Steiner werden eingehend dargestellt. Es folgen die Kapitel Tourneeverlauf, Korrespondenz, Geschäftsunterlagen, Verzeichnis der im Rudolf Steiner Archiv befindlichen Unterlagen zu den Wolff & Sachs-Tourneen, Verzeichnis der überlieferten Pressestimmen, Pressestimmen und Erinnerungen von Augenzeugen. Alle Texte sind mit erläuternden Anmerkungen versehen.

Der dramatische Zwischenfall, der sich am Abend des 15. Mai 1922 im Münchner Nobelhotel „Vier Jahreszeiten“ abspielte, hat als „riot“ (Krawall) sogar in die New York Times Eingang gefunden: Die Überschrift lautete: „RIOT AT MUNIC LECTURE.  Reactionaries  Storm Platform When Steiner Discusses Theosophy“.

Erinnerungen

Aus den Augenzeugenberichten wird deutlich, dass viele Menschen gerade durch diese Tourneevorträge den Entschluss fassten, sich tiefer mit der Anthroposophie zu verbinden.

„So schrieb Heinrich Liedvogel, wie dankbar er sei, dass sein Vater ihn als widerspenstigen Achtzehnjährigen zum Vortrag mitgenommen habe und dass Rudolf Steiner damals einen ‘unauslöschlichen Eindruck’ auf ihn gemacht habe, der ihn zeitlebens getragen und begleitet hat. Er war beeindruckt, wie Rudolf Steiner die Zwischenrufer zum Schweigen brachte, die dann doch an die Macht kommen sollten. Fünfzehn Jahre später (1933) erlebte er im gleichen Saal, wie die ‚Clique der damaligen Zwischenrufer zum Drachen herangewachsen‘ war, ‚der das geistige Leben Deutschlands wenigstens äußerlich vernichtet hatte‘.“ (S. 48)

Hans Büchenbacher, der in München schon frühzeitig Kenntnis davon erhalten hatte, dass Steiner auf einer Todesliste stand und dass ein Anschlag auf ihn geplant war, organisierte eine eigene Schutztruppe, da die Polizei es abgelehnt hatte, entsprechende Maßnahmen zu treffen.

Auch Steiner war sich der Lebensgefahr bewusst, er fragte Büchenbacher, ob er den Vortrag überhaupt halten solle.„Es wird wohl noch so weit kommen, dass ich nur noch in dem besetzten Rheinland werde öffentlich sprechen können.“ (Das Rheinland war 1918 bis 1930 von den Alliierten besetzt.)

Alle Erinnerungsberichte schildern übereinstimmend, dass nach dem Vortrag, noch während des Schlussapplauses, Angreifer das Podium erstürmten, als der Redner den Saal gerade verlassen wollte. Es gelang ihm gerade noch rechtzeitig, die Tür hinter sich zu schließen. Inzwischen drängten Anthroposophen die Angreifer vom Podium herunter. Es folgte ein Handgemenge, in anderen Berichten ist von einer Saalschlacht die Rede. Die Angreifer hätten Hakenkreuze getragen. Ausgerüstet waren sie mit Schlag-, Stich- und Schusswaffen. Das Vorstürmen sei schon am Vormittag im Saal geprobt worden. Dass die Schilderungen der Anthroposophen nicht übertrieben waren, zeigen Zeitungsberichte aus München, die das brutale Vorgehen der Nazis gegen Einzelpersonen und Veranstaltungen Andersdenkender dokumentieren. [9]

Kurz vor dem Zwischenfall war im Münchner Wochenblatt „Heimatland“ (herausgegeben von dem späteren Chefredakteur des „Völkischen Beobachters“) zu lesen: „Gibt es in München keine deutsch fühlenden Männer mehr, die die Ankunft eines solchen Schurken verhindern? Wird vor allem unsere im Feld gestandene vaterländisch gesinnte Jugend diese Herausforderung dulden? Wenn je faule Eier und Äpfel eines Zielobjekts würdig sind, einen Würdigeren für diese Art Projektile der Verachtung als den anthroposophischen Kagliostro und Vaterlandsschurken gibt es nicht mehr.“

Für die Nazis war Steiner ein „Volksschädling“. Der „Völkische Beobachter“, das Parteiorgan der NSDAP, schrieb: „Mit einem solchen deutschfeindlichen Scharlatan sich ernsthaft auseinanderzusetzen, sträubt sich der Bleistift.“ „Millionen stehen ihm zur Verfügung, unser Volk mit seinen Lehren zu verseuchen, und durch seinen Einfluss auf weiteste Kreise ist er zu einer Gefahr für unsere Gegenwart und Zukunft geworden.“ (S. 211).

Steiners Dornacher Mitarbeiterin Edith Maryon, die schon im Vorfeld sehr besorgt um Steiner war, erhielt ein Telegramm: „München überstanden. Steiner“.

Fazit

Diese Dokumentation verdeutlicht einmal mehr die Unvereinbarkeit von Anthroposophie und völkisch-rassistischem Denken. Es wird heute kaum noch jemand geben, der dazu neigt, Steiner als Märtyrer darzustellen. Dennoch muss man schon viele Details ausblenden, um zur Ansicht zu gelangen, es habe sich bei dem Zwischenfall in München um eine harmlose Störung durch einige übermütige Studenten gehandelt. Steiner, gegen den vorher in der Presse gehetzt worden war, stand in Gefahr, misshandelt und wenn möglich „beseitigt“ zu werden. Dass es nicht dazu kam, war den klugen Abwehrmaßnahmen der Anthroposophen zu danken.

Man bewundert den außergewöhnlichen Mut, mit dem Steiner, um seine Lehre darzustellen, sich einer immer brutaler agierenden Gegnerschaft aussetzte. Die für ihn erklärtermaßen anstrengenden Tourneen führte Steiner in unerschütterlicher Gelassenheit und mit der gewohnten Selbstdisziplin zu Ende.

Das Magazin enthält außerdem einen Editionsbericht zur Steiner-Gesamtausgabe, sowie vier Artikel von Herausgebern über Neuerscheinungen der GA. Abschließend benennt die Kuratorin Silvana Gabrielli externe und interne Ausstellungen der Jahre 2017 und 2018/19.

Die Tourneevorträge

Neuerscheinung der Steiner Gesamtausgabe, Band 80a

Anne-Kathrin Weise hat auch die auf den Tourneen gehaltenen Vorträge herausgegeben, die jetzt unter GA 80a in der Gesamtausgabe erschienen sind. Sie bilden ein außergewöhnliches Konvolut innerhalb der öffentlichen Vorträge Steiners. Zwar sind es Einzelvorträge – der Redner konnte hier vieles nur andeuten, was er in zusammenhängenden Vortragszyklen ausführlicher darstellte – doch haben sie den Reiz des Komprimierten. Sie sind eine Einführung in das Wesen seiner Weltanschauung vom reifen Standpunkt des 60-jährigen.

Man merkt es dem Duktus dieser Vorträge nicht an, dass sie in einer teilweise spannungsgeladenen Atmosphäre stattfanden. Ein Großteil der Zuhörer schien bereit, dem Redner in seinen für sie ungewohnten, anspruchsvollen Gedankengängen zu folgen. Der starke Beifall, den selbst die Pressevertreter als ungewöhnlich erlebten, ging sicher nicht nur von Anthroposophen aus, da diese unter den jeweils über tausend Zuhörern eine verschwindende Minderheit bildeten.

Fast in jedem Vortrag kämpft Steiner gegen Missverständnisse und Zerrbilder seiner Lehre. Er grenzt seine Erkenntnismethode scharf von der experimentellen Parapsychologie, von orientalischem Yoga und gefühlsbetonter Mystik ab und versucht in immer neuen Aspekten die Wissenschaftlichkeit seiner Forschungsmethode deutlich zu machen Auch weist er auf die Fruchtbarkeit der Anthroposophie für Pädagogik, Medizin, religiöses Leben usw. hin.

Diese Vorträge geben einen Einblick, wie vor fast 100 Jahren eine Einführung in das Wesen der Anthroposophie aussehen konnte. In den Hinweisen werden Lokalität und Zuhörerzahl vermerkt. Beigegeben sind Notizbucheinträge Steiners, Pressestimmen und zwei Erinnerungen an den Zwischenfall in München.

END/nna/wgv

ARCHIVMAGAZIN. Beiträge aus dem Rudolf Steiner Archiv: Nr. 8/2018, Wolff & Sachs-Vortragstourneen 1922 und der  Zwischenfall in München. Rudolf Steiner Verlag, Basel 2018 (285 Seiten, Abbildungen), € 24,80.

Rudolf Steiner: Das Wesen der Anthroposophie. Dreizehn von der Konzertagentur Wolff & Sachs organisierte öffentliche Vorträge, gehalten in Berlin, München, Stuttgart, Frankfurt am Main, Mannheim, Köln, Elberfeld und Breslau zwischen dem 19. November 1921 und dem 18. Mai 1922, Rudolf Steiner Verlag Basel 2019 (625 Seiten, Abbildungen) € 68,-

Quellenangabe

[1] Christian Bouchholtz: Das abergläubische Berlin. Okkulte Volksschulen und spiritistische Laboratorien. Berliner Tageblatt und Handelszeitung Nr. 39, Dienstag, 25. 01.1921, 1. Beiblatt.

[2] „Nach Tisch“ Zeichnung von Karl Arnold, „Simplicissimus“, 26.04.1922, in: Wolfgang G. Vögele (Hg.): Der andere Rudolf Steiner. Dornach 2005, S. 351.

[3] Friedrich Rittelmeyer: Meine Lebensbegegnung mit Rudolf Steiner. Stuttgart 1953, S. 131. 

[4] „In München hatte die Reaktion Mordbuben bestellt, um Dr. Steiner während eines Vortrages zu überfallen und zu ’beseitigen’. La Republique, Strasbourg. Zit. nach: Ausländische Zeitungsstimmen zum Brande des Goetheanum. In: Das Goetheanum, 2. Jg. Nr. 24, 21.1.1923, S. 190.

[5] Peter Staudenmaier: Anschlag auf Rudolf Steiner? Steiners disrupted lecture in Munich, May 1922. In: Die Egoisten. Blog von Michael Eggert (2014).

[6] Rudolf Steiner, öffentlicher Vortrag Stuttgart, 25.Mai 1921, GA 255b, s. 330.

[7] Lorenzo Ravagli: Unter Hammer und Hakenkreuz. Der völkisch-nationale Kampf gegen die Anthroposophie. Stuttgart 2004, S. 173 f.

[8] Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte. Dokumentation: Hitler als Parteiredner im Jahre 1920. Berichte des Münchener Polizei-Nachrichtendienstes (PND), Berlin 1963, S. 302 f.  Diese Quelle scheint anthroposophischen Autoren entgangen zu sein.  

[9] Vgl. Hans-Günter Richardi: Hitler und seine Hintermänner. Neue Fakten zur Frühgeschichte der NSDAP. München 1991.

Bericht-Nr.: 190404-02DE Datum: 4. April 2019

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