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Rudolf Steiner als Berater
Das neues Buch von Wolfgang Gädeke beleuchtet Rudolf Steiners unbekannte Seite als Lebensberater und Seelsorger, wie NNA-Korrespondent Wolfgang G. Vögele in seiner Rezension entdeckt.
STUTTGART (NNA) – In einer Zeit, in der Coaching in aller Munde ist, erscheint ein neuer Sammelband zu Rudolf Steiner sehr aktuell: Wolfgang Gädeke hat eine Sammlung von Gesprächen – darunter auch viele bisher unveröffentlichte – herausgebracht, in denen Steiner als Lebensberater und Seelsorger tätig wurde.
Der Sammelband Viel mehr als nur die Antwort auf meine Frage. Rudolf Steiner als Seelsorger (Stuttgart 2016) eröffnet einen neuen Zugang zu einer unbekannten Seite Rudolf Steiners. So erinnert Gädeke daran, wie groß rein quantitativ dieser Teil von Steiners Wirksamkeit war. Zur Zeit seiner größten Popularität (z.B. während des Wiener Anthroposophenkongress 1922) bildeten sich lange Warteschlangen von der Eingangshalle des Hotels bis hinauf zu seinem Zimmer. Helfer mussten eingreifen, um den Besucherstrom zu regeln. Man suchte seinen Rat in Lebenskrisen, für Beruf und Studium, für die Kindererziehung, für Gesundheit und Ernährung.
Auch Nichtmitgliedern, die sich in ausweglos scheinenden Situationen oder Lebenskrisen befanden, wurde immer wieder empfohlen, sich persönlich an Steiner zu wenden. Diesen Rat befolgte bekanntlich auch Franz Kafka, dem Gädeke ein eigenes Kapitel widmet.
Es war der Theologe Friedrich Rittelmeyer, der auf die Schattenseite dieser von Steiner immer wieder gern übernommenen Aufgabe hingewiesen hat: Er war überzeugt, dass ihn die Menschen für ihre persönlichen Angelegenheiten „rücksichtslos ausnützten“ (Friedrich Rittelmeyer: Meine Lebensbegegnung mit Rudolf Steiner. Stuttgart 1953, S. 145). Auch Rittelmeyer hat in seinem Buch seine privaten Unterredungen mit dem Geistesforscher publiziert. Rittelmeyer rechnete auch mit dem „Missbrauch, der mit solchen Erzählungen von Gegnern getrieben wird.“ Durch die Memoirenliteratur der folgenden Jahrzehnte wurden zahlreiche weitere Privatgespräche mit Steiner bekannt.
Steiner selbst hatte bereits in einem Vortrag am 19. Mai 1917 darauf reagiert, dass ehemalige Anhänger in verleumderischer Absicht die Inhalte vertraulicher Gespräche in entstellter Form veröffentlichten. „Von mir aus kann jeder, so viel er will, mitteilen von dem, was ich mit irgend jemand gesprochen habe, denn ich habe nichts zu verbergen. Wer will, kann jedem alles mitteilen. Auch das Vergangene kann in das volle Licht der Öffentlichkeit gestellt werden.“ (In GA 174a.)
Seelsorge
Gädecke ordnet Steiners Beratungstätigkeit von Anfang an in den Kontext der Seelsorge ein, indem er die Angaben Steiners für die angehenden Priester der Christengemeinschaft zur Seelsorgetätigkeit an den Anfang seines Buches stellt.
Daran schließt sich eine lange Reihe von Erlebnissen, die Gesprächspartner Steiners notiert oder in Briefen mittgeteilt haben. Vieles davon fand sich in Archiven, vor allem im Zentralarchiv der Christengemeinschaft in Berlin. Gädeke fügt jedem Bericht eine kurze biographische Skizze (mit einer kleinen Fotografie) bei und informiert über die Anlässe und, soweit bekannt, die konkreten Nachwirkungen der jeweiligen Unterredung. In manchen Fällen muss von einer Langzeitwirkung gesprochen werden.
Ohne dem Leser seine Deutung aufzudrängen, interpretiert Gädeke die Berichte in knappen Worten. Es gelingt ihm, deren qualitative Aspekte herauszustellen. Er macht darauf aufmerksam, wie feinfühlig und individuell abgestimmt Rudolf Steiners auf die Sorgen und Nöte seiner Besucher einging, ja wie er in bestimmten Fällen sogar die verschiedenen Temperamente seiner Gesprächspartner berücksichtigte.
Die Kapitelüberschriften (hier eine Auswahl) lassen die unterschiedlichen Methoden und Qualitäten des Steinerschen Gesprächs erahnen: Der Zuhörende und Fragende/Der Antwortende/Der Ermutigende/Der Ratende/Der Freilassende/Der Ablenkende/Der Tröstende/Der Provozierende/Der aktiv Eingreifende/Der persönliche esoterische Lehrer/Der Heilende/Der Wegweisende usw.
Vorbildliche Art
Gädeke räumt ein, dass Steiner bei den Beratungen vieles aus nicht-sinnlicher Erkenntnis geschöpft hat z.B. hinsichtlich Gesundheits- und Schicksalsfragen der Ratsuchenden, doch die Art seiner Beratung sei auch heute noch vorbildlich und lehrreich. Er habe „durch seine Art des Zuhörens und Sprechens und durch den Inhalt seines Rates entscheidend in die Schicksale seiner Gesprächspartner eingewirkt“. Er sei ein „Meister der Seelsorge“ gewesen, so das Fazit Gädekes, der selbst Priester der Christengemeinschaft ist.
Bekanntlich waren es nicht die vielen von ihm abgehaltenen Vortragsreihen, die Steiner zuletzt gesundheitlich überforderten, sondern „die Anforderungen, welche die Menschen daneben stellen.“ Er meinte damit die zahlreichen ungeplanten Audienzen.
Gädeke tritt hier dem manchmal erhobenen Vorwurf entgegen, die Priester der Christengemeinschaft treffe eine Schuld an Steiners Zusammenbruch, weil sie den gesundheitlich schon schwer Angeschlagenen nach Beendigung der Herbstkurse 1924 mit zahlreichen Einzelgesprächen belastet hätten. Gädeke weist nach, dass es nicht nur Priester waren, die damals quasi „in letzter Minute“ noch eine Audienz begehrten und bringt Beispiele, wie manche auf ihr Gespräch verzichteten, als sie erfuhren, wie schlimm es um Steiner stand.
Im letzten Kapitel wird eine Geschichte wiedergegeben, die romanhaft und phantastisch klingt. Eine Dame, die Steiner nie physisch begegnet war, erkannte erst viele Jahre später, nachdem sie zur anthroposophischen Bewegung gefunden hatte, dass der unbekannte Herr, der sie eine Zeitlang begleitet und beraten hatte, Rudolf Steiner gewesen sein müsse. Sie hatte ihn nach dem zweiten Weltkrieg zeitweise wie leibhaftig vor sich gesehen. So legt Gädeke den Gedanken nahe, „dass Rudolf Steiner auch nach seinem Tode Menschen geholfen hat, ihr Schicksal zu meistern.“
Anregung
Das historische Interesse gebietet heute, auch einstmals vertraulich geführte Gespräche Steiners zu veröffentlichen, so weit es davon Aufzeichnungen gibt. Wolfgang Gädekes in langer Recherche entstandenen Sammlung tut dieser Forderung Genüge. Sie bietet reiche Anregungen für alle, die beratend und seelsorgerisch tätig sind. Auch künftige Steiner-Biographen dürften von dem Buch profitieren.
END/nna/vog
Literaturhinweis:
Wolfgang Gädeke: Viel mehr als nur die Antwort auf meine Frage. Rudolf Steiner als Seelsorger. Stuttgart (Verlag Urachhaus) 2016. 159 Seiten, € 17, 90, ISBN 987-3-8251-7956-4, auch als eBook erhältlich.
Bericht-Nr.: 160623-01DE Datum: 23. Juni 2016
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