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Publikationsreihe zu Gründung der Waldorfschule fortgesetzt
BUCHBESPRECHUNG | Der Historiker Prof. Zdražil hat eine Chronik zu den Anfangsjahren der Waldorfschule vorgelegt. Detailreich und spannend fand NNA-Rezensent Wolfgang G. Voegele.
Eine Reihe von Publikationen widmet sich anlässlich des 100jährigen Jubiläums in diesem Jahr den Umständen der Gründung der Waldorfschule, ihrer Geschichte und ihrer internationalen Ausbreitung. (NNA berichtete, siehe in Verbindung stehende News unten) Eine jetzt erschienene Studie des Historikers Prof. Tomáš Zdražil, Dozent an der Freien Hochschule Stuttgart, zeichnet den Verlauf der ersten Jahre detailreich und spannend nach, findet NNA-Rezensent Wolfgang G. Voegele.
STUTTGART (NNA) – Die Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen hat die 500 Seiten starke, materialreiche Dokumentation herausgegeben, die den Zauber, aber auch die Schwierigkeiten der Pionierjahre von 1919 bis zu Rudolf Steiners Tod 1925 miterleben lässt. Sie soll den geschichtlichen Kontext liefern für die gleichzeitig erscheinende erweiterte Ausgabe der Lehrerkonferenzen mit Rudolf Steiner: Konferenzen mit den Lehrern der Freien Waldorfschule 1919-1924 (5. erweiterte Auflage, GA 300a-c, Basel 2019).
Das Buch von Tomáš Zdražil, der in seinem Heimatland Tschechien als Waldorflehrer gearbeitet hat, wendet sich vor allem an Waldorfpädagogen und an alle, die sich mit Rudolf Steiner verbunden fühlen. Der Autor schildert überwiegend chronologisch, aber auch mit thematischen Exkursen. Er erreicht Authentizität durch zahlreiche originale Wortlaute und Zitate.
Nie zuvor sind die Anfangsjahre der Stuttgarter „Mutterschule“ so vollständig und aus der Sicht unmittelbar Beteiligter geschildert worden. Herangezogen wurden u.a. unveröffentlichte Tagebücher (insbesondere von E.A. Karl Stockmeyer) und Memoiren von Lehrern und Schülern, unbekannte Briefe der Waldorflehrer an Rudolf Steiner, Auszüge aus bisher noch ungedruckten Konferenzen und gegenseitige Charakterisierungen der Lehrkräfte. Erstmals konnte auch die „Menschen-Entdeckungsreise“ Stockmeyers zwecks Lehrersuche mit allen Erwartungen, Fehlschlägen und Erfolgen rekonstruiert werden. Unliebsame Vorkommnisse, die zum Ausschluss von Schülern führten, werden ebenso ausführlich geschildert wie die Gutachten der staatlichen Schulaufsicht. So entstand eine spannend zu lesende Chronik.
Da von den Schulkindern der Anfangsjahre heute keines mehr lebt, musste der Autor auf Memoiren, Briefe und (im wesentlichen drei) Archive zurückgreifen. Negativ auf die Quellenlage wirkten sich auch die acht Jahre Verbotszeit in der NS-Zeit aus.
In einem einleitenden Kapitel, das den Werdegang Steiners skizziert, verweist Zdražil (ähnlich wie Volker Frielingsdorf in seiner „Geschichte der Waldorfpädagogik“, siehe NNA-Besprechung) auf Steiners langjährige Erfahrungen als Lernender und Lehrender und seine frühen bildungspolitischen Konzepte.
Spirituelle Grundlage
Zum Innenleben der Waldorfschule gehörte von Anfang an die Überzeugung von der realen Wirksamkeit der spirituellen Welt; die Lehrerkurse Steiners sprechen dies deutlich aus.
Charakteristisch für die rosenkreuzerisch inspirierte Theosophie, wie Steiner sie vertrat, ist die Freiheit des Individuums und eine lebenspraktische Orientierung. Steiner sei „ein früher Vorläufer der Aufmerksamkeits-, Wahrnehmungs- oder Denkschulung“ gewesen (S. 29). Schon sein anthroposophisches Schulungsbuch (1904, GA 10) enthalte wichtige pädagogische Grundsätze, seine Schrift „Die Erziehung des Kindes“ (1907) erste Keime der späteren Waldorfpädagogik. Aber erst die 1917 gereifte Erkenntnis des dreigliedrigen Menschen ermöglichten 1919 die sukzessive Ausgestaltung der neuen Pädagogik. Diese trat aber ebensowenig wie die soziale Dreigliederung als abgeschlossenes, starres Programm auf. Das ganze Fundament der Waldorfpädagogik beruhte auf mündlicher Vermittlung, nie gab es ein theoretisches Standardwerk. Wie konnte diese Schule dennoch gelingen?
Mehrere glückliche Umstände trugen zum Erfolg bei: Steiner konnte ein hochqualifiziertes Kollegium berufen, dem die anthroposophischen Grundlagen bereits vertraut waren. Auch der Unternehmer Molt, der die Schule zunächst finanzierte, war langjähriger Anthroposoph. Hinzu kam eine günstige bildungspolitische Situation in Württemberg. Für Steiner sollte diese Schule den öffentlichen Beweis für die praktische Wirksamkeit der Anthroposophie liefern. Ohne ein bestimmtes Welt- und Menschenbild hätte die Waldorfschule und ihre Methodik nicht ausgestaltet werden können; dennoch ist sie keine Weltanschauungsschule im Sinne einer Konfessionsschule. Empirische Studien konnten keine Indoktrination feststellen.
Kirchlicher und politischer Gegenwind
Die zeitgenössische Kritik betraf nicht explizit die Schule oder ihre Pädagogik, sie wirkte eher klimatisch, aber nicht weniger spürbar, da die soziale Dreigliederung, aus der die Waldorfschule entstanden ist, die Anthroposophie als Grundlage der Waldorfpädagogik und Steiner als ihr pädagogischer Leiter attackiert wurden. Alle diese Angriffe vergifteten die Atmosphäre und erschwerten neben den finanziellen Problemen die Arbeit der Schule zusätzlich. Eltern und Behörden mussten informiert und beruhigt werden. Waldorflehrer wie Kolisko und Stein meldeten sich in gegnerischen Versammlungen zu Wort.
Die hasserfüllte Atmosphäre, die ihnen entgegenschlug, ist heute kaum noch vorstellbar. Stein: „Es war ein Kampf auf Leben und Tod“. (S. 269). Kritische Stimmen kamen von Sozialisten und den beiden großen Kirchen. „Bereits im Juli 1919 hatte die Kongregation des Heiligen Offiziums in Rom verboten, theosophische Bücher zu lesen und theosophischen Vereinigungen beizutreten. Die von Papst Benedikt XV. veröffentlichte Entscheidung wurde selbstverständlich auch auf die Anthroposophie angewendet.“ (S. 267)
Aber auch von deutschvölkischer Seite war von Anfang an der Wille erkennbar, die Entfaltung der Waldorfschule zu behindern. Als die Sympathie des deutschen Ex-Außenministers Walter Simons für Dreigliederung und Waldorfschule (seine Tochter studierte Eurythmie) bekannt wurden, veranlasste das die Nazis, gegen Steiner zu hetzen (Aufsätze von Dietrich Eckart und Adolf Hitler, 1921). In München kam es am 15. Mai 1922 „zu einem Überfall auf Rudolf Steiner von nationalsozialistischer Seite“ (S. 278). Vor den erwarteten Attacken beschützten ihn vor allem Waldorflehrer. Das waren die ersten Anzeichen „der prinzipiellen nationalsozialistischen Feindschaft gegenüber Rudolf Steiner, der Anthroposophie und Waldorfpädagogik, die 1935 zum Verbot der anthroposophischen Gesellschaft und in den späten 1930er Jahren zu der Schließung der deutschen Waldorfschulen führte.“ (S. 278).
Konferenzgespräche, Inspektionen, erster Lehrplan
Jedes Schuljahr wird im Spiegel der Konferenzgespräche erfasst. Zdražil gibt einen ungeschminkten Einblick in die Sorgen, Nöte, Befürchtungen und Probleme eines sich bildenden Kollegiums. So kann man die Entwicklung der Schule von Monat zu Monat mitverfolgen. Besonders das vierte Schuljahr verlief krisenhaft. Ein Teil der Waldorfschüler war „schwer unterernährt“ (S. 360). Steiner übte zuweilen Kritik an der Unterrichtspraxis, es kam zum Ausschluss von Schülern. Mit dem Goetheanumbrand verloren die Anthroposophen ihren Zentralbau. In das fünfte Schuljahr 1923/24 fiel die Weihnachtstagung in Dornach und die erste Reifeprüfung der 12. Klasse.
Wir erfahren, wie sich Steiner persönlich um einzelne „schwierige“ Schüler kümmerte. So veranlasste er, dass ein frühreifer Hochbegabter als Gastschüler aufgenommen wurde (S. 430) oder dass ein gehörloses Mädchens in die Hilfsklasse kam.
Die ersten Waldorfschüler, darin stimmen alle Erinnerungen überein, liebten und respektierten Rudolf Steiner. Er sei „zu einer lebendigen Legende in der Schule geworden, gleichsam zu einem Wundertäter, den alle sehen, begrüßen und berühren wollten.“ (S. 472) Zdražil ziziert aus Erinnerungen der Schüler, wie sie Steiner auf dem Schulgelände, im Unterricht oder im persönlichen Gespräch erlebten, darunter sind auch humorvolle Anekdoten.
Für Steiner selbst blieb die Waldorfschule ein „Wahrzeichen für die Fruchtbarkeit der Anthroposophie“ innerhalb des Kulturlebens, wie er in einem letzten Brief an die Lehrer betonte. Die führende Rolle der Stuttgarter Schule wurde unter den später entstandenen Waldorfschulen durchaus anerkannt. In den folgenden Jahren war das Stuttgarter Kollegium beratend und helfend tätig.
Im Oktober 1925 erschien ein erster, von Caroline von Heydebrandt verfasster Lehrplan von knapp 40 Seiten, der viele Jahrzehnte hindurch maßgeblich blieb. Die im Herbst durchgeführte Schulinspektion verlief außerordentlich erfreulich. Die Berichte des Schulrats (auch 1929) aus neutraler Außenperspektive trugen viel zu einem positiven Bild in der Öffentlichkeit bei. Bis zur Zehnjahresfeier 1929 verlief die Entwicklung der Schule erfolgreich und ungestört, als in den 1930er Jahren Schatten von innen und außen der Schule zu schaffen machten. Die Spannungen und Konflikte unter den Anthroposophen nach Steiners Tod verschonten auch die Waldorfschule nicht.
Verbindung mit dem Ursprungsimpuls
Zdrazil stellt die für das Entstehen und die Aufbaujahre der Schule wichtigen spirituellen Hintergründe dar, deren fortdauernde Bewusstmachung es dem Kollegium ermöglichte, auch schwierige Situationen zu meistern. Sein Buch will dazu beitragen, dass Waldorfpädagogen mit dem Ursprungsimpuls verbunden bleiben.
Positiv hervorzuheben ist eine Würdigung des erfahrenen Lehrers Michael Bauer, des Freundes und ersten Biographen Christian Morgensterns. Bauer hatte als erster (1920) in einer nichtanthroposophischen Zeitschrift über die Waldorfschule berichtet, war aber selbst aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage, an dieser mitzuarbeiten. Bis zu seinem Tode (1929) stand er den Waldorflehrern beratend zur Verfügung.
Belebt wird die Chronik durch eine Fülle historischer Fotos. U.a. sind zu sehen: Porträts der (auch nur kurzfristig tätigen) Lehrkräfte, der Vertreter der zuständigen Behörden, von Räumlichkeiten des Betriebes der Zigarettenfabrik, handschriftliche Notizen Steiners und einzelner Lehrer, Faksimiles der Morgensprüche, Tagungs- und Festprogramme und von Schulzeugnissen. Ferner seltene Schnappschüsse aus dem Schulleben, besonders kostbar farbige Reproduktionen von Wolffhügel-Gemälden (Lehrer-Porträts). Im Anhang sind verzeichnet: der Ablauf des Lehrerkurses 1919; eine Übersicht über die Klassenlehrer und ihre Klassen bis 1926; Anfang und Ende der ersten sechs Schuljahre und die durchschnittlichen Klassengrößen. Zuletzt ein Personenregister.
Zražils Werk stellt eine wichtige Ergänzung der historischen Waldorfliteratur dar. Es bereichert das Wissen der „Insider“ über ihre eigene Geschichte und gewährt zeitgeschichtlich Interessierten ungewohnte Einblicke in die Entstehung eines besonderen Schulmodells.
END/nna/vog
Tomáš Zdrazil: Die Freie Waldorfschule in Stuttgart 1919-1925. Rudolf Steiner – das Kollegium – die Pädagogik. Herausgegeben von der Pädagogischen Forschungsstelle, Stuttgart 2019. 528 Seiten, ISBN: 978-3-944911-93-9, 32 Euro.
Bericht-Nr.: 190807-02DE Datum: 7. August 2019
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