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Lang erwartete Osterrieder-Studie zum Ersten Weltkrieg erschienen
Im Verlag Freies Geistesleben/Urachhaus ist jetzt die lang erwartete umfassende Darstellung des Münchner Historikers Markus Osterrieder zum Thema Rudolf Steiner und der Erste Weltkrieg erschienen. Der Historiker Bruno Schaller hat in das 1700 Seiten starke Buch für NNA hineingeschaut und vermittelt einen ersten Eindruck.
STUTTGART (NNA) – Anthroposophische Geschichtsschreibung ist bisher kaum über den Kreis der Anhänger von Rudolf Steiner hinausgedrungen, wenn man von den Pionierleistungen eines Karl Heyer oder Christoph Lindenberg einmal absieht. Was Steiner als „geschichtliche Symptomatologie“ anregte und selbst praktizierte, hat so noch nicht viele Nachfolger gefunden. Auch außerhalb der anthroposophischen Bewegung gibt es nur wenige Historiker, die sich mit Steiner beschäftigen.
Geht es um seine Haltung während des Ersten Weltkriegs, so sehen sie bei Steiner meist Belege für Deutschnationalismus, Kriegsverherrlichung, Einkreisungstheorien und eine antiwestliche (antiamerikanische) Haltung. Generell kann man sagen, folgen sie damit dem Trend der akademischen Wissenschaft, spirituelle Inhalte als „irrational“ abzuqualifizieren und sie schnell mit nationalistischen, rassistischen oder antisemitischen Tendenzen in Verbindung zu bringen.
So durfte man auf die Replique Osterrieders gespannt sein, für die der ausgewiesene Osteuropa-Kenner 14 Jahre lang recherchiert hat. Osterrieder macht sich akribisch daran, die oben genannten Befunde anhand historischer Quellen zu widerlegen, die nicht aus der anthroposopophischen Bewegung stammen.
Scharfsinniger Zeitbeobachter und politisch Handelnder
Wie schon im Untertitel ersichtlich, räumt der Autor der Haltung Rudolf Steiners im Krieg einen wesentlichen Platz ein. Demnach war Steiner nicht nur ein scharfsichtiger Zeitbeobachter und -interpret, sondern auch ein politisch Handelnder, der seit 1917 maßgeblichen Politikern der Mittelmächte konkrete Vorschläge (Memoranden) für eine friedensfördernde Nachkriegsordnung unterbreitete. Einer breiteren Öffentlichkeit wurden diese Ideen erst nach dem Krieg im Rahmen der so genannten „Dreigliederungsbewegung“ bekannt. Ihr ging es – auch als Konsequenz aus dem Kriegsausbruch – um eine strikte Entflechtung von Staat, Wirtschaft und Kultur. Von den Institutionen, die im Zusammenhang mit der Steinerschen Gesellschaftsreform begründet wurden, erwiesen sich vor allem die Freien Waldorfschulen als zukunftsfähig.
Das Buch besteht aus zwei Teilen: „Die Nationalitätenfrage in Mitteleuropa und der Weg in den Weltkrieg“ und „Das Ringen um eine ‚neue Weltordnung’“. Im ersten Teil geht es um die Ausgangslage vor Kriegsausbruch mit Kapiteln wie „Vielvölkerraum und Heimatlosigkeit“, „Von der Humanität zur Nationalität“, „Der ‚Völkerfrühling’ in der Habsburgermonarchie“, „Im ‚okkulten Untergrund’“, „Der Weg nach Sarajevo“ und „Allianzen auf dem Weg in den Krieg“.
Der zweite Teil enthält Kapitel wie „The English Speaking Idea“, „Das Ringen um ‚Mitteleuropa’“, „Die Revolutionierung der Nationalitäten“, „Das Jahr 1917 und der Beginn der bipolaren Weltordnung“ und „Der unvollendene ‚Umbruch’“.
In einer Schlussbetrachtung („Ruf nach der versunkenen Mitte“) will der Autor zeigen, dass die Fragen, die Rudolf Steiner gegen Ende seines Lebens aufwarf, noch immer von existentieller Bedeutung für Gegenwart und Zukunft der zusammenwachsenden Menschheit sind. Das Denken, das den Ausbruch des Weltkriegs bedingt hat, kann keineswegs als überwunden angesehen werden – dies ist die Lehre, die Steiner und mit ihm Osterrieder aus den Ereignissen zieht.
Realistische Vision
Neue Weltkatastrophen, wie etwa ein globaler Konflikt zwischen dem Westen und Ostasien, sind aus seiner Sicht unabwendbar, wenn nicht eine neue Form von Spiritualität in der Menschheit zum Tragen kommt. Eine besondere Verantwortung dafür liege in Europa und im angloamerikanischen Westen. Möglichkeiten einer Verständigung zwischen West und Ost habe schon der anthroposophische Kongress in Wien (Juni 1922) aufgezeigt. Vorrangig und entscheidend sei die Installation eines freien, von Staat und Wirtschaft emanzipierten Geisteslebens. Steiner hoffte, dass aus dem Geistesleben heraus eine „Verständigung über die ganze Kulturwelt der Erde“ kommen werde. [GA 83, S. 359] Unter den heutigen Bedingungen der Globalisierung erscheint diese Vision alles andere als rückständig.
Sollte sich diese Vision nicht realisieren, so meint Steiner, werde die westliche Zivilisation untergehen „und aus den asiatischen Kulturen muß sich etwas Zukünftiges für die Menschheit ergeben“ [Steiner am 2. November 1919, GA 191, S. 211 f.]
Osterrieders zentrale These geht dahin, dass es Steiner 1923 nicht mehr primär um die „Schuld“ am Weltkrieg gegangen sei, sondern um die unmittelbare Zukunft, in der er mit großem Realismus einen neuen, noch verheerenderen Weltkrieg auf die Menschheit zukommen sah. Das Hitlerregime und der Zweite Weltkrieg seien, so Osterrieder, als ein Versagen der Mitte zu werten, ja es habe eine „spirituelle Selbstzertrümmerung“ stattgefunden.
Die Nachkriegsordnung des Kalten Krieges konnte nach Osterrieder den Ruf nach einem Geistesleben der Mitte nicht ersetzen. Viele der größten Krisen und Konflikte der Gegenwart seien noch immer zutiefst mit den Weichenstellungen verbunden, die während des Ersten Weltkriegs und in den Jahren danach erfolgt seien.
Umstrittene Haltung
Rudolf Steiners Haltung im Ersten Weltkrieg war in den letzten hundert Jahren immer wieder umstritten. In den frühen 1920er Jahren geisterte das Schlagwort vom „Verräter am Deutschtum“ durch die nationale deutsche Presse. F. Rittelmeyer schreibt 1928: „[...] die Gegner haben es fertiggebracht, die Behauptung auszustreuen, Rudolf Steiner sei an dem Verlust der Marneschlacht und damit an dem Verlust des Krieges der Hauptschuldige.“ [zit. nach Friedrich Rittelmeyer: Meine Lebensbegegnung mit Rudolf Steiner. Stuttgart 1953, S, 64.] Diese Kampagne gegen Steiner, die sich auf dessen Freundschaft mit dem Chef des deutschen Generalstabs, Helmuth von Moltke bezog, setzte sich in der NS-Zeit fort.
Zwar ist eine Einmischung Steiners in militärische Angelegenheiten heute eindeutig widerlegt, doch bewerten einige Autoren (Mombauer z.B.) Steiners Freund Moltke als Kriegstreiber und stellen dabei Steiners Rolle zumindest ins Zwielicht. Der US-Historiker Peter Staudenmaier schreibt z.B.: „Die deutsche Aggression im 1. WK führte zu Deutschlands Niederlage, zum katastrophalen Vertrag von Versailles, zum Aufstieg des Nationalsozialismus, zum 2.WK und zum Holocaust“ und stellt die These auf, dass Steiner zu diesen unglücklichen Folgen mit beigetragen habe dadurch, dass er Moltke unterstützt, antisemitische und rassistische Äußerungen verbreitet und die Ansicht vertreten habe, dass Deutschland eine hervorragend wichtige Mission in der Welt hat. [Peter Staudenmaier: „Defending Steiner“ on WWI: waldorfcritics, 2007.] Dabei mutiert Steiner nur dadurch zu einem geistigen Wegbereiter des NS-Regimes, dass von ihm verwendete Begriffe wie „Deutschtum“ oder „Volksgeist“ im chauvinistischen und rassistischen Sinne gedeutet werden.
Osterrieder grenzt demgegenüber das idealistische „Deutschtum“ Steiners scharf gegen das „Deutschtum“ seiner völkischen Gegner ab, das von Blut und Rasse bestimmt war. Dabei geht er auch auf den Zwischenfall am 15. Mai 1922 ein, als Steiner in München nach einem Vortrag von rechtradikalen Angreifern bedroht wurde. Dieses Ereignis wird heute kontrovers beurteilt: Die einen sehen in ihm ein Zeichen für das Märtyrerschicksal Steiners, die anderen interpretieren es harmlose Störung, die von Anthroposophen nachträglich zum Mythos aufgebauscht worden sei. [Peter Staudenmaier: Anschlag auf Rudolf Steiner? Steiner’s disrupted lecture in Munich, May 1922. Egoisten (Blog von Michael Eggert, 2014). Dieser Aufsatz beruht nur auf wenigen Quellen, und selbst von diesen werden entscheidende Aussagen verschwiegen.]
Hohes wissenschaftliches Niveau
Wie wird die Fachwelt der Geschichtswissenschaft Osterrieders „opus magnum“ rezipieren? Auch wenn sich bereits Tendenzen bei den Lesern abzeichnen, den Autor als „Steiner-Versteher“ abzutun und als Verschwörungstheoretiker, dürfte das Buch langfristig schon aufgrund seines hohen wissenschaftlichen Niveaus und wegen seiner in der Historiographie ungewohnten Perspektiven allgemeine Aufmerksamkeit und Anerkennung finden. Auch andere Forschungen, wie z.B. die Darstellung von Markus Michael Zech, die zeigen, dass die Waldorfpädagogik keineswegs ein nationalistisches, sondern ein weltweites Geschichtsbild zugrunde gelegt hat, werden dazu beitragen, Osterrieders Sichtweise zu untermauern.
In verschiedenen Seminaren und anderen Veranstaltungen anlässlich des Jahrestags des Kriegsausbruchs war Osterrieder in den letzten Wochen und Monaten ein gefragter Referent. NNA veröffentlichte bereits ein Interview mit dem Autor (siehe Link unten).
END/nna/bus
Literaturhinweis:
Markus Osterrieder: Welt im Umbruch. Nationalitätenfrage, Ordnungspläne und Rudolf Steiners Haltung im Ersten Weltkrieg. Verlag Freies Geistesleben & Urachhaus, Stuttgart 2014, 1722 Seiten, 32-seitiger Bildteil, 79 EUR. ISBN 987-3772526008
Bericht-Nr.: 140609-02DE Datum: 9. Juni 2014
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