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Können sich Impfgegner auf Rudolf Steiner und die Anthroposophie berufen?
Die Antwort scheint „Nein“ zu lauten. Ein Blick in das Werk und die Biografie von Rudolf Steiner zeigt Ambivalenzen und Pragmatismus.
DORNACH (NNA) – Anthroposophen sind derzeit als potenzielle Coronaleugner und Impfgegner in den Medien präsent. Aber inwieweit können sich Impfgegner überhaupt auf Rudolf Steiner berufen? Auch in dieser Frage kommen – wie bei vielen Themen – Ambivalenzen im Werk Steiners zum Tragen, die vielfältige Anschlussmöglichkeiten eröffnen.
Einerseits hegte Steiner Bedenken gegenüber dem massenhaften Einsatz von Impfungen, vor allem als Zwangsimpfung (1), auf der anderen Seite sprach er sich aber auch dafür aus, dass Anthroposophie den medizinischen Fortschritt anerkennen solle.
Anthroposophische Medizin, so wie sie Steiner zusammen mit der Ärztin Ita Wegmann entwickelt hat, versteht sich von daher immer als „erweiterte Medizin“, die auf den Erkenntnissen der Schulmedizin aufbaut: „Nicht um eine Opposition gegen die mit den anerkannten wissenschaftlichen Methoden der Gegenwart arbeitende Medizin handelt es sich. Diese wird von uns in ihren Prinzipien voll anerkannt“, heißt es z.B. in der Einleitung zu dem von Steiner und Wegmann verfassten Buch Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst von 1925. (2)
Entsprechend dachte und handelte Steiner dann auch in konkreten Situationen, wo es um das Impfen ging. Dies zeigen seine Äußerungen gegenüber Ärzten 1924 zum Thema sowie sein Verhalten während der Pockenepidemie in Berlin 1917 während des Ersten Weltkriegs, vom dem die Stenografin Hedda Hummel berichtet.
1924 wurde Steiner von praktizierenden Ärzten gefragt, was die Anthroposophie zur Impfung sage. Steiner berichtet ihnen, wie er sich in seiner Zeit als Hauslehrer bei Familie Specht in Wien dem Risiko aussetzte, sich mit den schwarzen Pocken zu infizieren, von denen die Mutter seiner Schüler befallen war. Er habe darauf gebaut, dass er widerstandsfähig genug sei, der Ansteckung zu trotzen, man könne das Risiko einer Ansteckung minimieren durch Furchtlosigkeit, argumentierte er gegenüber den Ärzten. D.h. eine positive psychische Einstellung stärkt aus seiner Sicht das Immunsystem – nichts anderes vertritt heute die Resilienztheorie.
Kein Fanatismus
Steiner wies aber die Ärzte auch darauf hin, dass in Gegenden, in denen die Bevölkerung definitiv Angst vor einer Ansteckung habe, „Erziehungsmaßnahmen“ in eine solche Richtung sinnlos seien. „Da muss man eben impfen. Es bleibt nichts anderes übrig“, betonte Steiner. Denn „das fanatische Sichstellen gegen diese Dinge ist dasjenige, was ich, nicht aus medizinischen, aber aus allgemein anthroposophischen Gründen, ganz und gar nicht empfehlen würde“, ergänzt er. Es sei „ein völliges Unding“, so im einzelnen fanatisch vorzugehen“. (3)
Während des 1.Weltkriegs war Steiner dann mit der Pockenepidemie in Berlin konfrontiert – auch in seinem unmittelbaren Umfeld. Wie Marie Steiner berichtet (4), hatte Steiner das große Kunstzimmer seiner Wohnung in der Motzstrasse mit seinen Nebenräumen für einen Kinderhort zur Verfügung gestellt, er selbst wohnte in Räumen im Hinterhaus während der Aufenthalte in Berlin – zur damaligen Zeit pendelte Steiner zwischen Dornach und Berlin.
Mit dem Ausbruch der Pocken in Berlin stellte sich nun die Frage, wie Kinder und Bewohner zu schützen seien. An Schulen und Kindergärten in Berlin wurde auch damals schon geimpft. Dazu berichtet Hedda Hummel (5): „Dr. Steiner ordnete an, dass auch die Kinder in unserem Kinderhort geimpft würden und auch die Menschen, die im Kinderhort aus- und eingingen.“
Auch Steiner selbst und seine Frau hätten sich impfen lassen, erzählt die Stenographin weiter. Steiner habe unter Nebenwirkungen der Impfung gelitten – genau wie die anderen Geimpften, meistens Frauen. Diese hätten sich oft den durch die Pockenimpfung in Mitleidenschaft gezogenen schmerzenden Arm gerieben, was Steiner ebenfalls tat. So habe ein Scherz in der Motzstrasse kursiert: der ‚Doktor‘ mache „die Frauenbewegung mit“.
Pragmatischer Ansatz
Vor dem Hintergrund dieser Berichte kann man sich die Frage stellen, wo Steiners Platz heute, zu Zeiten der Corona-Pandemie sein, würde. Sicherlich nicht bei den Impfgegnern und Coronaleugnern, denn wie oben gesagt, sprach er sich gegen ein „fanatisches Vorgehen“ aus. Auf die neuen Impftechnologien – mRNA und Vektor-basiert – würde er mit großem Interesse schauen, da sie dem medizinischen Fortschritt dienen, Zwangsimpfungen würde er jedoch eine Absage erteilen.
Und ob er sich selbst impfen lassen würde oder auf die eigene Resilienz gegenüber COVID-19 vertrauen würde? Hier kann man mit einem Blick auf Steiners Biografie ebenfalls seine Schlüsse ziehen: Als junger Hauslehrer in Wien in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts setzte Steiner – damals noch unter 30 Jahre alt – auf die eigene Resilienz. Im Berlin der Kriegsjahre mit Mitte 50 verließ er sich dann doch lieber auf die Pockenschutzimpfung und auch die Kinder im Waldorfhort wurden durch diese geschützt.
So können sich im derzeitigen Streit um Impfen und Coronamaßnahmen im Grunde nur die Pragmatiker auf Rudolf Steiner berufen.
END/nna/vog
Quellen:
(1) siehe GA 178, S. 90
(2) GA 27, S.7
(3) GA 314, S. 287. Dornach, Besprechung mit Ärzten, Nachschriften fragmentarischen Charakters, 22.4.1924
(4 ) Marie Steiner, zit. in GA 262, S.283. Vgl. auch Jakob Streit (Hg.): Anna Samweber: Erinnerungen an Rudolf Steiner und Marie Steiner-von Sivers, Dornach 2009.
(5) Hedda Hummel: Erlebnisse mit Rudolf Steiner", unveröffentlichtes Manuskript, S. 7, Rudolf Steiner Archiv Dornach. Gekürzt abgedruckt in: Wolfgang G. Vögele (Hg.): „Sie Mensch von einem Menschen!“ Rudolf Steiner in Anekdoten. Basel 2012, S. 43. Biographisches zu Hedda Hummel findet sich im Archivmagazin Nr. 6 (Dornach, Juni 2017), Geburtsdatum unbekannt, gestorben 1939. Sie lebte in Köln, Berlin und Dornach. Ab 1912 hat sie einige Hundert Vorträge Steiners mitgeschrieben.
Bericht-Nr.: 210225-01DE Datum: 25. Februar 2021
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