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Inklusion als „Generationenaufgabe“

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By NNA-Korrespondent Ronald Richter

Letzte Woche berichteten wir von der Pressekonferenz des Bundes der Freien Waldorschulen zum Thema Inklusion. Ihr Anlass war der Kongress, der heute in Berlin beginnt, auf dem die Waldorfschulbewegung zum Erfahrungsaustausch über Inklusion beitragen will. Hier geht NNA-Korrespondent Ronald Richter noch einmal ausführlicher auf das Thema ein.

BERLIN (NNA) – Inklusion ist zwar derzeit in aller Munde - aber was muss alles geschehen, damit sie auch wirklich im Herzen ankommt? Dieses Thema – wie Vorstandsmitglied Henning Kullak-Ublick es formulierte - hatten sich die Vertreter des Bundes der Freien Waldorfschulen (BdFWS) für ihre diesjährige Jahrespressekonferenz gewählt.

Je nachdem, wen man schon alles dazu zählt, gibt es derzeit sechs bis acht Waldorfschulen, die schon seit Jahren Kinder mit besonderem Förderbedarf in sog. normale Klassen integrieren, also inklusiv arbeiten. Tatsächlich aber ist das Inklusionsmodell so alt wie die Waldorfschulbewegung selbst. 1920 gründete der Lehrer Karl Schubert eine, wie es damals hieß, „Hilfsklasse“, die zu bestimmten Tageszeiten Kinder besonders förderte. Rudolf Steiner, der vom Fabrikanten Emil Molt zur theoretischen und praktischen Realisierung einer Reformschule für die Arbeiterkinder der Waldorf-Astoria-Fabrik beauftragt worden war, sah in der Waldorfschule die Möglichkeit, alle Kinder zu fördern, keins sollte abgelehnt werden: „In diesem Unterricht [der Hilfsklasse] muss man sich mit den Einzelnen beschäftigen. Nicht viel anders, aber man muss alles langsamer machen.“

Auch Henning Kullak-Ublick vom Vorstand des BdFWS spielte in seinen einleitenden Worten auf diesen Gründungsimpuls an und führte aus, dass in den Waldorfschulen die vorhandenen Fähigkeiten der Kinder den Ausgangspunkt für die pädagogische Arbeit bilden, während ein auf Selektion ausgelegtes Schulwesen jährlich 240.000 Sitzenbleiber produziere. Er beschwor die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels im Bildungswesen, zu dem der BdFWS anlässlich der Bundestagswahl „Sieben Kernforderungen an die Bildungspolititik“ vorgelegt hat. Inklusion und Selektion schließen sich aus - darauf wiesen die Vertreter des BdFWS mit aller Deutlichkeit hin.

In den „Sieben Kernforderungen“ wird ein „Recht auf umfassende Bildung für jedes Kind“ verlangt, ferner, dass „Inklusion kein Sparmodell“ sein dürfe und sich die “Lehrerausbildung radikal erneuern“ müsse. Vom alten Gedanken der Schulpflicht müsse man zum umfassenden Recht auf Bildung gelangen und dies im Grundgesetz verankern, betonte Kullak-Ublick.

Historisch hätten sich, bedingt durch die Schulgesetzgebung der Länder, auch bei den Waldorfschulen getrennte Förder- und Regelschulen herausgebildet, sehr oft arbeiteten beide Schulformen aber unter einem Dach zusammen in der Überzeugung, dass sie „eine Schule für alle“ sein wollten nach dem Motto: Jedes Kind - ein Könner. „Die innovative Kraft der Inklusionsidee müssen wir auch innerhalb der Waldorfpädagogik wieder neu entdecken“, so das BdFWS-Vorstandsmitglied.

Dr. Thomas Maschke, Studiengangsleiter im Institut für Waldorfpädagogik, Inklusion und Interkulturalität in Mannheim ergänzte, dass der notwendige Paradigmenwechsel auch für die Lehrerbildung gelte. Lehrerbildung sei kein abgeschlossener Prozess, der mit dem Universitäts- oder Hochschulabschluss oder dem Zweiten Staatsexamen ende, sondern Lehrerbildung vollziehe sich während der ganzen Zeit des Lehrerseins. „Das heißt, wir sprechen im Grunde von einer Lehreraus-, -fort- und -weiterbildung.“

Zur Umsetzung des Inklusionsgedankens sei es notwendig, Lehrer zu qualifizieren, die dann auch die Kompetenzen entwickeln, sich zu hinterfragen, sich Hilfe zu holen für ihren Unterricht. Teamfähigkeit sei gefragt und auch die Erkenntnis, dass das Erleben eigener Grenzen keine Schwäche, sondern die Möglichkeit der Weiterentwicklung biete. Inklusion erfordere einen Wandel in der Gestaltung des Unterrichts im Sinne der methodischen Vielfalt. Schülern – aber auch Eltern – müsse die Unterschiedlichkeit von Lernwegen und Ergebnissen vermittelt werden.

Die Verwirklichung des Inklusionsgedankens ist nach den Worten Maschkes „eine Generationenaufgabe“. Ein Wandel in den Köpfen sei notwendig, der vermutlich langwierig und nicht linear sei. Schule allein könne diesen Paradigmenwechsel nicht leisten, sie stehe vielmehr in einem gesellschaftlichen Kontext.

Birgitt Beckers, im Vorstand des BdFWS zuständig für das Inklusionsthema, machte in ihrem Beitrag deutlich, wie viel die Waldorfschulen zu diesem gesellschaftlichen Umdenk- und Lernprozess beitragen können und stellte die Debatte in einen größeren, politisch-philosophischen Zusammenhang. In der UN-Konvention, die zur Hälfte von Menschen mit Behinderung entwickelt worden sei, gehe es um Würde, Gleichheit und Brüderlichkeit. Zu einem Leben in Würde gehöre es, sich freiheitlich entwickeln zu können. Bei Menschen mit Behinderung bedeute es Autonomie, auch wenn zuweilen von assistierter Autonomie zu sprechen ist. Gleichheit, gleichberechtigtes Leben werde ermöglicht z.B. durch Barrierefreiheit. Brüderlichkeit ermahne zum liebenswerten Miteinanderumgehen, wie es der Inklusionsgedanke voraussetze.

Beckers berichtete auch von der Praxis an den Waldorfschulen, die Kinder mit Behinderung in die Regelschulklassen aufnehmen. Was man aus den betroffenen Kollegien erfahre, sei ausnahmslos Begeisterung: „Alle, die sich entschlossen haben, diesen Weg zu gehen, sagen: Wir wollen es nie wieder anders haben.“ Dennoch dürfe man nicht die Augen davor verschließen, dass die Lehrer und Erzieher großen Belastungen ausgesetzt seien.

Auch Beckers unterstrich den großen Veränderungsbedarf, den der Inklusionsgedanke mit sich bringt: Um jedem einzelnen Kind gerecht zu werden, müsse eine völlig neue Pädagogik entwickelt werden, die von individuellen Lernzielen ausgehe. Die Kultusbehörden forderte sie auf, die notwendigen Bedingungen für die Umsetzung des Inklusionsgedankens zu schaffen und ihn nicht als Sparmodell zu missbrauchen.

Prof. Dr. Steffen Koolmann, Leiter des Instituts für Bildungsökonomie an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter, unterstrich ebenfalls die finanziellen Voraussetzungen, die zur Umsetzung des Inklusionsgedankens notwendig sind. In Zusammenhang mit dem wirtschaftlichen Jahresabschluss, den das Institut für Bildungsökonomie jährlich für den BdFWS erhebt, nannte Koolmann auch erste Zahlen zu inklusiven Tendenzen an den Waldorfschulen.

Sieben Prozent der rund 9000 Lehrer an den Waldorfschulen seien beispielsweise im Bereich Förderunterricht/Unterstützung tätig. Entsprechend erhielten ca. drei Prozent der Waldorfschüler schon jetzt besondere Fördermaßnahmen. Bei den staatlichen Regelschulen liege dieser Anteil wesentlich niedriger, bei ca. eineinhalb Prozent. Aus diesen Zahlen werde deutlich, dass die Waldorfschulen seit jeher schon mit dem Thema Inklusion umgegangen seien, ohne dies so zu bezeichnen. Dies bedeute aber auch, dass es die Waldorfeltern seien, die mit ihren Schulbeiträgen diese inklusive Pädagogik finanzierten: Auf rund zehn Millionen Euro bezifferte Prof. Koolmann diese Leistung. In aller Regel erhielten die Waldorfschulen auch keine besonderen Zuschüsse der öffentlichen Hand für diese speziellen Fördermaßnahmen.

In der Diskussion mit den anwesenden Journalisten verwies die langjährige Waldorfklassenlehrerin Birgitt Beckers noch auf die besondere Bedeutung der Klassengemeinschaft bei den Erfahrungen, die sie selbst mit behinderten Kindern in Regelklassen gemacht habe: „Dass diese Kinder ihren positiven Weg auf unserer Schule genommen haben, liegt einfach daran, weil sie in die Klassengemeinschaft aufgenommen wurden. Das heißt: Man darf nicht nur auf die Lehrer gucken. Das hat zu 80 % ausgemacht, dass es gut gegangen ist.“

END/nna/ror

Bericht-Nr.: 130920-01DE Datum: 20. September 2013

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