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Historiker Osterrieder: Forschung zum Ersten Weltkrieg richtet sich auch nach zeitgenössischen Trends

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By NNA-Korrespondent Wolfgang G. Vögele

~ Fortsetzung der NNA-Serie: Zeitenwende Erster Weltkrieg ~

Den Auftakt der Serie zum Ersten Weltkrieg bildete im Dezember 2013 ein Bericht über den Bestseller „Die Schlafwandler“ des australischen Historikers Prof. Christopher Clark, der sich mit den Ursachen des Kriegsausbruchs befasst. Jetzt geht es um das neue Buch des Münchner Historikers Markus Osterrieder, das Ende April erscheint. Osterrieder behandelt darin die Haltung Rudolf Steiners während des Weltkriegs. NNA-Korrespondent Wolfgang G. Vögele hat den Autor zu seiner Arbeit befragt. (Emailinterview) Der Historiker hat vor einigen Jahren auch an der Neuausgabe von Steiners „Zeitgeschichtlichen Betrachtungen“ mitgearbeitet.

München/Stuttgart (NNA) – NNA: Wie sind Sie dazu gekommen, sich mit dem Thema Erster Weltkrieg zu befassen?

Osterrieder: Während meines Studiums der Osteuropäischen Geschichte und Slavistik vor 30 Jahren wurde mir bewusst, welcher Einschnitt der Erste Weltkrieg für die Beziehungen zwischen Deutschen und Slaven einerseits und andererseits der Menschen und Völker des östlichen Europa untereinander bedeutete. Den mannigfaltigen Gründen hierfür wollte ich seitdem nachgehen.

NNA: Warum war es Ihnen wichtig, die Vorgeschichte des Weltkriegs im 19. Jahrhundert, aber auch dessen Nachwirkungen bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zu beschreiben?

Osterrieder: Weil man die Faktoren, die auf den Weltkrieg hinsteuerten, nur in einem größeren Kontext verstehen kann, der zurückreicht zumindest bis in die Zeit der Napoleonischen Kriege. Zudem schien es wichtig, zu skizzieren, warum die Architekten der Pariser Friedensordnung schon unmittelbar nach Kriegsende selbst begriffen, dass dieser „Friede“ (peace to end peace, Alfred Milner; Carthaginian peace, J.M. Keynes, beide im März 1919) nicht Bestand haben und vielmehr einen neuen Krieg nach sich ziehen würde (there is not one chance in ten of preventing another great war within the next 20 or 30 years, Edward Grigg 1924). Auch Rudolf Steiner warnte bereits 1921 vor einem kommenden zweiten Weltkrieg, weil die in Paris geschaffenen Verhältnisse bereits im Moment der Entstehung als gescheitert gelten konnten.

NNA: Spätestens seit Karl Liebknecht behaupten Sozialisten, dass nicht einzelne Völker den Weltkrieg verursachten, sondern der Imperialismus als solcher. Stimmen Sie dem zu?

Osterrieder: Wie jede pauschale, ideologisch (in Liebknechts Fall sozialistisch) gefärbte These beinhaltet auch diese einen simplifizierenden, monokausalen Reduktionismus, dem ich so nicht zustimmen kann.

NNA: Der Historiker Christopher Clark sagte, dass schon lange vor Erscheinen seines Buches „Die Schlafwandler“ (2013) ein Paradigmenwechsel in der Beurteilung der „Kriegsschuldfrage“ eingesetzt hatte. Würden Sie das bestätigen?

Osterrieder: Ja. Überhaupt ist es besser, anstelle über eine vermeintliche „Schuld“ stattdessen über tiefer reichende Ursachen zu forschen, die den Kriegsausbruch erst ermöglichten. Fritz Fischers Arbeiten der 1960er Jahre waren zwar sehr verdienstvoll, fanden jedoch lange Zeit keine Entsprechung in ähnlichen Untersuchungen über die Motive anderer kriegführender Mächte und blieben allein schon aus diesem Grund einseitig. Seine Thesen wurden jedoch schon damals von einer großen Zahl gerade westlicher Historiker nicht widerspruchslos übernommen. In der internationalen Geschichtswissenschaft bestand seit den 1920er Jahren generell noch nie ein völliger Konsens über dieses Thema.

Viel ist in der Forschung von den zeitgenössischen Modetendenzen abhängig. Wenn jetzt im Westen sehr viel über die kriegsauslösende Politik Russlands und Serbiens geforscht wird, so ist das auch im Zusammenhang mit dem heutigen politischen Geschehen zu sehen (Stichwort „Putin“). Und im Moment ist es im Sinne der transatlantischen Bündnispolitik auch opportun, Deutschland militärisch wieder etwas zu „ermuntern“.

NNA: Was konnte Steiner – als Nichthistoriker – zur Klärung der Kriegsursachen und des Kriegsausbruchs beitragen und wie sind seine Beiträge aus heutiger Sicht zu bewerten?

Osterrieder: Man muss nicht Fachidiot sein, um als Zeitgenosse Verständnis für die treibenden Kräfte des Zeitgeschehens zu entwickeln. Steiner machte schon vor Kriegausbruch auf Symptome aufmerksam, die weit über die eigentliche Diplomatie der damaligen Zeit hinausreichten und gesellschaftliche Krankheitsbilder kennzeichneten. So konstatierte er früh ein viel umfassenderes Ursachengeflecht, das in einen Weltenbrand führen musste und auf das die historische Forschung zum Teil erst in den letzten 20 Jahren aufmerksam wurde: Von spirituellem und politischem Imperialismus über die Krisen im wissenschaftlichen Weltbild, die vorherrschende Wirtschaftsideologie, die ungelösten sozialen und nationalen Fragen, bis hin zu Symptomen wie der grassierenden Neurasthenie (Joachim Radkau sprach 1998 vom „Zeitalter der Nervosität“), der Bewußtseinstrübung führender Persönlichkeiten (von Christopher Clark kürzlich als „Schlafwandler“ beschrieben), aber auch geistige Schicksalfragen. Dabei wird deutlich, dass der Erste Weltkrieg mehr als ein historischer Knotenpunkt verstanden werden kann, in dem viele verschiedene Menschheitsfäden zusammenliefen, ohne Umwandlung sich verknoten mussten und dadurch katastrophale Umwälzungen herbeiführten.

NNA: Christian Morgenstern, der wenige Monate vor dem Kriegsausbruch 1914 starb, wollte seinen Lehrer Rudolf Steiner für den Friedensnobelpreis vorschlagen. Inwiefern wollte Steiner zum Weltfrieden beitragen? Kann man ihn als Pazifisten bezeichnen?

Osterrieder: Steiner war kein Pazifist im landläufigen Sinn und hat sich während des Kriegs über pazifistisch phrasierende Zeitgenossen, die „unklare Phrasen unter die Menschheit […] bringen“ und sich „einschmieren in das menschliche Gefühlsleben“, auch deutlich geäußert. Steiner kritisierte damit die unreale Phrasenhaftigkeit, mit der oftmals über Pazifismus gesprochen wurde, ohne die Ursachen, die zu Konflikten führten, zu erkennen und aufzulösen. Er wertete vielmehr das Anschwellen der pazifistischen Bewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts als „das deutliche Zeichen, dass wir vor dem größten Kriege der Menschheit stehen“.

Als eine „Friedenssonne, eine Sonne der Liebe und Harmonie über die Menschen hin“ erblickte er hingegen alle Anstrengungen der individuellen Menschen, die auf eine Spiritualisierung des Welt- und Menschenbildes zielten, ohne welche die tiefere Konfliktursachen nicht zu beseitigen waren.

NNA: Ist die von Steiner vertretene Auffassung, das zukünftige Schicksal der Anthroposophie sei an dasjenige Mitteleuropas geknüpft während die angloamerikanischen Mächte die Vernichtung der mitteleuropäischen Kultur anstrebten, aus Ihrer Sicht heute noch vertretbar?

Osterrieder: Rudolf Steiner war sich nach Kriegsende völlig bewusst, daß die anglo-amerikanische Welt zur Hegemonialmacht aufgestiegen war, und appellierte 1920 an die „intensive Verantwortlichkeit“ der Englisch sprechenden Welt, „daß in den Wirtschaftsimperialismus des ‚Open Door‘ die Pflege eines wahren Geisteslebens […] hineingegossen werden muß“. Er vertrat also in Anbetracht der entstandenen Verhältnisse die Auffassung: „Die anglo-amerikanische Bevölkerung hat damit, daß sie dasteht als diejenige, deren Macht sich ausbreitet, deren Einfluß vor allen Dingen sich ausbreitet, die unbedingte Verantwortung, dem Geistesleben sich zuzuwenden.“

NNA: Am rechten Rand der anthroposophischen Bewegung existiert seit langem eine Subkultur mit eigenen Tagungen, Publikationen und Internetpräsenz. Zu ihren Themen gehören Holocaust-Relativierung, Einkreisungsphantasien, mehr oder weniger offener Antisemitismus, Antiamerikanismus usw. Offiziell wird darüber nicht gesprochen. Wäre aber die Anthroposophische Gesellschaft nicht verpflichtet, sich von diesen Kreisen, deren Angehörige größtenteils Mitglieder der AAG sind und sich auf Rudolf Steiner berufen, deutlich zu distanzieren?

Osterrieder: Obwohl ich mich seit 37 Jahren mit Person und Werk Rudolf Steiners beschäftige, bin ich niemals Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft gewesen und habe auch keine Absicht, es in der Zukunft zu werden. Es steht mir darum allein schon aus diesem Grund nicht zu, dass ich der Anthroposophischen Gesellschaft irgendeine Empfehlung zu geben hätte.

Was das oben angesprochene Problem betrifft, das zumeist auf ein reichlich primitives Wirklichkeitsverständnis und monokausalen Reduktionismus, wenn nicht auf offener Lüge aufbaut, ist ihm allgemein gesprochen nicht damit beizukommen, dass man sich von etwas „distanziert“, sondern, dass man es, wo nötig, widerlegt und das eigene Wirklichkeitsverständnis darlegt. „Distanzierungen“ haben in der Regel selbst ideologischen Charakter und sind oft der erste Schritt zu einer Selbstzensur.

Mit Ideologien und Herdendenken jeglicher Couleur (politischer, religiöser, wirtschaftlicher oder weltanschaulicher), d.h. phrasenhaften Begriffshülsen als Transportmittel unverdauten Gedankenbreis und emotionaler Ressentiments, kann ich persönlich als Forscher und als Mensch nicht das Geringste anfangen.

NNA: Was folgt aus Ihrer Forschung für die Europapolitik unserer Zeit?

Osterrieder: Dass man aus den Geschehnissen der Jahre 1912 bis 1922 erschreckend wenig gelernt hat, was die tieferen, weltanschaulichen und machtpolitischen Prämissen betrifft, die in einen Krieg münden mussten. Die von Rudolf Steiner angemahnte „Pflege eines wahren Geisteslebens“ hat nicht stattgefunden. Im Gegenteil. Nicht umsonst evozieren so viele Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft eine Wiederholung der Situation von 1914 in der Gegenwart (innerhalb der EU, aber auch in Ostasien). Und das ist eigentlich erschütternd, weil sie damit selbst eine Bankrotterklärung des gegenwärtigen politischen und wirtschaftlichen Systems konstatieren.

NNA: Herr Osterrieder, vielen Dank für die ausführliche Auskunft zu Ihrer Arbeit. Zu Ihrem Buch im einzelnen, vor allem auch der Haltung Rudolf Steiners verweisen wir auf die Rezension zu Ihrem Buch, die NNA demnächst bringen wird.

END/nna/vog

Literaturhinweis:

Osterrieder, Markus, Welt im Umbruch. Nationalitätenfrage, Ordnungspläne und Rudolf Steiners Haltung im Ersten Weltkrieg,Stuttgart 2014 (ISBN: 978-3-7725-2600-83)

Bericht-Nr.: 140311-01DE Datum: 11. März 2014

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Markus Osterrieder: "Man muss nicht Fachidiot sein, um als Zeitgenosse Verständnis für die treibenden Kräfte des Zeitgeschehens zu entwickeln."