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Ein Leben im Dienst des Nicht-Sichtbaren
SCHWARZENBRUCK/NÜRNBERG (NNA) – Der renommierte Autor und international bekannte Esoterikforscher Gerhard Wehr ist Ende April im Alter von 83 Jahren gestorben. Seine lebenslange Arbeit über die Erfahrung des Nicht-Sichtbaren gründete in einem eigenen Erlebnis.
Wehr hat sein Thema über alle Grenzen von Wissenschaft und Theologie hinweg in beispielloser Weise behandelt – unter Einbeziehung von sowohl östlicher als auch westlicher Spiritualität. Mehr als 60 Bücher sind entstanden, die Bandbreite reicht von deutschen Mystikern des Mittelalters wie Jakob Böhme bis hin zum zeitgenössischen amerikanischen Bewusstseinsforscher Ken Wilber. Eine nicht geringe Anzahl seiner Titel befassen sich mit der Anthroposophie Rudolf Steiners. Wie kam der evangelische Diakon Wehr zu diesem ungewöhnlichen Ansatz?
Die Erfahrung des „Urgrund allen Seins“ machte Gerhard Wehr im Alter von 20 Jahren, als er mit dem Fahrrad bei Bayreuth unterwegs war. Erst viele Jahre später fand er für dieses Erlebnis eine Erklärung im Werk des mittelalterlichen Mystikers Jakob Böhme. Auf Böhme war Wehr schon im Deutschunterricht in der Schule aufmerksam geworden und er hatte den Gedanken, dessen Werk unbedingt kennenlernen zu wollen.
Als 17jähriger versucht er 1948 gleich nach dem Krieg, das Hauptwerk Böhmes zu erwerben, wie er in einem Interview schildert: „Ich verkaufte mein Akkordeon, bekam dafür vierzig Deutsche Mark – das war gerade nach der Währungsreform – und fuhr in meine Geburtsstadt Schweinfurt am Main, in die Rückert-Buchhandlung. Schweinfurt war damals noch total zerstört und der Buchhändler seufzte: ‚Ob wir jemals wieder solche Bücher haben werden?‘ – Statt der ‚Aurora‘ bekam ich zwei Bände Novalis und ein Bändchen Hölderlin“.
Transparenzerlebnis
So dauert es noch weitere Jahre, bis Wehr in der Stadtbibliothek in Nürnberg endlich auf das Hauptwerk Böhmes stößt. Dort liest er dann über das Erlebnis des schlesischen Schusters, der beim Schein einer Lampe plötzlich „durch alles hindurchsieht“, ein „Transparenzerlebnis“ hat, wie Böhme es bezeichnet. So findet Wehr einen Begriff für das, was er selbst damals in der Nähe von Bayreuth erlebt hat. „Das war der Anfang. Und dann hat mich das Thema nicht mehr losgelassen“, schildert er im Interview mit dem evangelischen Portal „Zeitzeichen“.
Wehr wird Diakon der bayerischen Landeskirche und unterrichtet knapp zwanzig Jahre lang an der Diakonenschule Rummelsberg, einer Fachakademie für Sozialpädagogik. Seine auch weiterhin aus eigener Initiative betriebenen Forschungen führen ihn dann weit über Jakob Böhme hinaus, er wird zum Verfasser zahlreicher Studien zur neueren Religions- und Geistesgeschichte. Seine Biographien über C.G.Jung, Martin Buber, Jean Gebser u.a. sind in zahlreichen europäischen und asiatischen Sprachen verbreitet.
Durch seinen Hintergrund in der evangelisch-lutherischen Kirche bringt Wehr seine Forschungen auch in diesem Kontext ein – ungeachtet der Tatsache, dass die Kirchen des 20.Jahrhunderts mit spirituellen Erfahrungen eher nichts zu tun haben wollen. Mystik – wie Wehr alle Erfahrungen bezeichnet, die sich nicht auf Objekte der Sinneserfahrung richten – werde mit dem Hoch- oder Spätmittelalter oder mit der fernöstlichen Religiosität in Verbindung gebracht, kaum jedoch mit der eigenen protestantischen Tradition, schreibt die protestantisch-theologische Augustana-Hochschule in ihrem Nachruf auf Wehr. Hier habe Wehrs schriftstellerische Arbeit „ihren höchst verdienstvollen Platz“.
Dass besonders der lutherische Protestantismus einen „großen Schatz von Schriften“ besitze, die aus eigener, tiefer religiöser Erfahrung schöpfen, sei den Theologiestudierenden heute fast unbekannt. Die Hochschule nennt als Beispiele neben Böhme Valentin Weigel, Johann Arndt und die Schlesier Daniel Czepko und Johannes Scheffler (Angelus Silesius). Im Jahr 2002 verleiht die Hochschule Gerhard Wehr den Ehrendoktortitel im Fach Theologie für seine Forschungen und Studien zur neueren Religions- und Geistesgeschichte, insbesondere für seine Beiträge zu Jakob Böhme und zur christlichen Mystik.
„Spirituelles Defizit“
Wehr ist seinem Thema über Jahrzehnte hinweg treu geblieben, erlebt er doch die westliche Zivilisation nach dem zweiten Weltkrieg als „betont extravertiert, nach außen gerichtet und in betont einseitiger Weise auf materielle Werte ausgerichtet“, wie er in einem seiner neueren Bücher betont, in dem er Lebensbilder der Mystik im 20. Jahrhundert zusammengestellt hat. Ein „spirituelles Defizit“ zeichne sich ab, denn die Menschen beginnen, sich zunehmend für Theorien und Lebensmöglichkeiten zu interessieren, die einen „Zugang zu einer anderen Wirklichkeit verheißen“. Ursache seien ein Sinnverlust zivilisatorischen Fortschritts, ein Überdruck an technologischer Rationalität sowie die „schal gewordenen Verheißungen utopischer Gesellschaftsdoktrinen“.
In diesen steigenden „Erfahrungshunger in geistig-religiöser Hinsicht“ unserer Zeit hat Wehr hineingeschrieben, weil er erkannte, dass dieses Bedürfnis der Menschen in den Grenzen herkömmlicher Religionsformen nicht mehr oder nicht mehr allein befriedigt werden kann. Hinzukomme, dass immer mehr Zeitgenossen von Erlebnissen berichten, wie er es als junger Mensch in der Nähe von Bayreuth gehabt hat.
Auf vielfältige Art kommen sie dabei mit jener Dimension der Wirklichkeit in Berührung, für die die spirituellen Traditionen in Ost und West verschiedene Begriffe gefunden haben: die „Seinsfühlung“, die „Große Erfahrung“ oder auch wie im Zen und bei dem amerikanischen Bewussteinsforscher Ken Wilber bezeichnet der „Eine Geschmack.“ Auch Wilber zitiert Wehr in seinem Werk. Der enorme inhaltliche Bogen, den Wehr mit seiner Forschung umfasst, reicht so von den alten spirituellen Traditionen des Ostens über die vergessenen europäischen Mystiker wie Meister Eckhardt bis hin zu den Bewusstseinsforschern der Postmoderne wie Ken Wilber oder Jean Gebser.
Breite Palette and Werken
Wehrs Beitrag zur eigenständigen Profilierung der akademischen Esoterikforschung ist auch von Pionieren dieser Forschung wie Antoine Faivre explizit anerkannt worden. Wehrs Bemühen um Dialog über alle Grenzen und Richtungen hinweg spiegelt sich auch darin, dass er seine Werke zum einen sowohl in anthroposophischen Verlagen wie Novalis, Urachhaus oder Pforte (Futurum), als auch dem Hausverlag des Deutschen Kollegiums für transpersonale Psychologie, Via Nova, veröffentlichte.
Zum anderen wahrte er den Kontakt zu den tradierten christlichen Konfessionen und seine Bücher wurden von evangelisch-lutherisch orientierten Verlagen wie Claudius, aber auch vom römisch-katholisch begründeten Verlag Herder herausgegeben. Auch für die ökumenisch ausgerichtete linkskatholische Zeitschrift Publik-Forum verfasste er Beiträge. Er schrieb auch für die anthroposophischen Zeitschriften Die Kommenden, Die Drei (1960-2010), Das Goetheanum, Gegenwart, Mensch und Welt und für die Zeitschriften zur Esoterikforschung Gnostika und Aries.
Hohe Auflagen erzielten Wehrs Rowohlt-Monographien über Paul Tillich, Martin Buber, Jakob Böhme, Meister Eckhart, C.G. Jung und Thomas Müntzer. Er gab eine sechsbändige Jakob Böhme-Ausgabe heraus, aber auch 1980 die Manifeste der Rosenkreuzer. (Siehe auch in Verbindung stehende News unten.)
Für den Sammelband „Anthroposophie im 20. Jahrhundert“ verfasste Wehr mehrere Kurzbiographien. Mit seinem bereits 1972 im Stuttgarter Klett-Verlag erschienenen Buch „C.G. Jung und Rudolf Steiner. Konfrontation und Synopse“ ermöglichte er erstmals einen tiefgründigen Vergleich beider Erkenntniswege. Seine Biographie über C.G. Jung (erstmals erschienen 1985, erweiterte Neuausgabe Verlag Opus Magnum 2014) gilt als Standardwerk und wurde in mehrere Sprachen übersetzt. „Es ist das Beste, was je über meinen Vater C.G. Jung geschrieben wurde“, schrieb Jungs Sohn Franz Jung an Wehr. Keinen derartigen Beifall erntete Wehr mit einer 1987 erschienenen Steiner-Biografie, die in der anthroposophischen Bewegung teilweise einer harschen Kritik unterzogen wurde.
Unbequemer Geist
Gerhard Wehr hinterlässt mit scheinen Schriften ein alles andere als bequemes Vermächtnis, denn er hat sich bei aller Positivität nie gescheut, überall dort zu kritisieren, wo er Anmaßung und Monopolansprüche auf Wahrheit oder Christlichkeit zu sehen meinte. Davon nahm er auch die organisierte Anthroposophie nicht aus. Er benannte als profunder Kenner der Mystik aller Zeiten und Weltzonen auch manche missverständliche (und daher missverstandene) Darstellung im Werk von Rudolf Steiner.
Für Wehr gehört Rudolf Steiner zu den großen spirituellen Lehrern einer westlichen Esoterik. Er nahm Steiners Meditationsmethode gegen Vorurteile und Fehldeutungen vor allem durch Theologen wie Friso Melzer oder Helmut Zander in Schutz. Steiner sei im Gefolge einer Persönlichkeitskrise zur Zeit der Lebensmitte durch eine mystische Christuserfahrung hindurchgegangen, ist Wehr überzeugt. Er habe an die von der kirchlichen Theologie lange vernachlässigte kosmische Christologie der Paulusbriefe angeknüpft.
Wehrs Hinweise auf andere spirituelle Meister und die Vielfalt der Erfahrungswege waren de facto auch eine Einladung an die anthroposophische Bewegung, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen. Dem NNA-Autor gegenüber äußerte er bei einem Besuch den Wunsch nach einem intensiveren Dialog. Eine Einladung ans Goetheanum in diesem Sommer, über die er sich laut der gleichnamigen Wochenschrift sehr gefreut hat, wird nun durch seinen Tod nicht mehr zustande kommen.
Durch seine Steiner-Biografie wurde Wehr auch zum Pionier einer kritischen Steinerforschung. Ihr galt auch einer seiner letzten Texte: Er verfasste ein Nachwort zum zuletzt erschienenen zweiten Band der kritischen Steiner-Ausgabe von Wolfgang Clement im Stuttgarter Frommann-Holzboog-Verlag.
In seinem Schaffen sah Wehr eine menschheitsgeschichtliche Notwendigkeit. Zu den bedeutsamen Veränderungen des 20.Jahrhunderts gehört aus seiner Sicht die „auf unterschiedlichen Ebenen zu beobachtende Bewusstseinswandlung“. Veränderungen des Weltbildes, der Welt- und Gottesanschauungen stellten immer auch Wandlungen im menschlichen Bewusstsein dar, auch wenn daran nicht alle Zeitgenossen zeitgleich teilhaben, betont er in einem Exkurs in den „Lebensbildern“ zum Thema Quantenphysik.
Verfälschte Spiritualität
Die Gefahren, die mit dem Thema Spiritualität verbunden sind, hat Wehr dabei auch zur Sprache gebracht: Mystik als unkontrollierte High-Zustände wie z.B. durch Drogen oder auch Esoterik als modische Wellnessverheißung, die lediglich der Erfüllung sublimer egoistischer Sehnsüchte dient, werden genannt.
Ganz am Ende der „Lebensbilder“ geht Wehr in einem eigenen Kapitel außerdem auf die Vermengung des Spirituellen, Religiösen sowie des Mystischen mit politischen Ideologien ein, die es vom Anfang des 20.Jahrhunderts an stets gegeben habe z.B. durch nationalistische Kreise, die eine „weihevolle Verbrämung“ des eigenen Volks und dessen „Sendung“ gegenüber anderen Nationen zugrunde legten. Der Begriff „deutsche Mystik“ bringe lediglich zum Ausdruck, betont Wehr, dass die ursprünglich lateinischen Texte der Mystiker im ausgehenden Mittelalter durch volkssprachliche Texte ersetzt worden seien.
In national ausgerichteten Kreisen habe sich eine zweite, ideologisch befrachtete Lesart schon lange vor Ausbruch des Dritten Reichs eingebürgert, die „deutsch“ mit völkischen und rassischen Eigentümlichkeiten versehen habe. Durch Missdeutung und Verfälschung seien so auch Jakob Böhme und Meister Eckhardt von den Nationalsozialisten für ihre Zwecke vereinnahmt worden. Wehr schließt dieses Kapitel – es ist das letzte in seinem Buch – mit einem Gebot zur Unterscheidung der Geister von Jakob Böhme, das die Eigenverantwortlichkeit des Menschen betont: „Ein jeder Mensch träget in dieser Welt Himmel und Hölle in sich. Welche Eigenschaft er erwecket, dieselbe brennet in ihm“.
END/nna/ung/vog
Quellen:
Alle Zitate aus: Wehr, Gerhard (2011): „Nirgends, Geliebte, wird Welt sein als innen“ – Lebensbilder der Mystik im 20.Jahrhundert. Gütersloh
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Bericht-Nr.: 150603-02DE Datum: 3. Juni 2015
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