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Die Waldorfpädagogik erobert Asien
Mehr als 900 Personen trafen sich zur jüngsten Asiatischen Waldorflehrer-Tagung in China. Thema war unter anderem der rechtliche Status der Waldorf-Einrichtungen und die kulturelle Anpassung der Waldorfpädagogik.
Mehr als 900 Personen versammelten sich zur 7. Asian Waldorf Teacher‘s Conference (AWTC), die vom 28. April bis zum 5. Mai in Chengdu/China stattfand. Festlandchina, Hongkong, Indien, Japan, Laos, Malaysia, Nepal, Singapur, Südkorea, Taiwan, Thailand, Vietnam und den Philippinen – die Liste der Länder, aus denen die Tagungsteilnehmer kamen, ist lang. Zwei Jahre vor dem 100jährigen Jubiläum der Waldorfpädagogik 2019 widmeten sich die Teilnehmer dem Thema „Kulturelle Identität und Individualisierung in der pädagogischen Praxis“. Der Tagungsort lag zu Füßen des berühmten buddhistischen Bergs Emai Mountain in China in Chengu. NNA-Korrespondentin Anne Hu hat an der Konferenz teilgenommen.
CHENGDU (NNA) – Waldorfpädagogik gibt es in Asien seit 21 Jahren und wie im menschlichen Leben das 21.Lebensjahr den Beginn des Erwachsenseins bedeutet, so habe die Waldorfschulbewegung in Asien jetzt einen Reifegrad erreicht, der Veränderungen für die Zukunft erfordere. Darauf wies Nana Göbel, Vertreterin der Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners – eine der Koordinatorinnen der Konferenz – in ihrer Einführungsrede hin. Ein Rückblick auf das Erreichte und die Vorausschau auf die notwendigen nächsten Schritte seien erforderlich.
Als die erste Konferenz 2005 in Taipei in Taiwan stattfand, wurde schnell klar, dass die Dynamik der Waldorfschulbewegung in Asien eine vertiefte Kommunikation zwischen den Beteiligten erforderte, vor allem der Lehrer, die an der pädagogischen Front in Schulen und Kindergarten tätig sind. Dies war wichtiger, als einzelne Länder von einzelnen Personen repräsentieren zu lassen. Und so traf man sich im zweijährigen Turnus in Bangkok (2007), Manila (2009), Hyderabad (2011), Seoul (2013) und Tokio (2015). Die Konferenzen wurden zum Zeugen des enormen Erfolgs der Waldorfpädagogik in der orientalischen Welt.
Im Gegensatz zu manchem Vorurteil gegenüber der Waldorfpädagogik erwies sich die 7. Konferenz in Chengdu als zielstrebig und realistisch. Rund 100 Personen arbeiteten zusammen, um die Konferenz zu ermöglichen. Dazu gehörte ein Organisationskreis von rund 40 Personen, 34 Dolmetscherinnen und Dolmetscher und mehr als 50 Workshop-Helfer – sie erhielten schnell den Spitznamen „Hummeln“, weil sie ein solches Muster auf ihren Namensschildern trugen.
Die Tagungsstätte in den Bergen beherbergte eine große Menge von fleißigen und hart arbeitenden Menschen, die freudig von Raum zu Raum eilten und die Fülle der Informationen aufnahmen, die die Konferenz anzubieten hatte. Teilnehmer aus verschiedenen Ländern tauschten sich aus und verbanden sich, selbst organisierte Studiengruppen tagten im öffentlichen Raum und schufen eine fröhliche und lebendige Atmosphäre.
Höhepunkte
Der Stundenplan eines jeden Tages war voll und jeder bewegte sich von morgens bis abends durch die einzelnen Veranstaltungen mit dem Ziel, möglichst nichts zu verpassen. Der Tag begann mit einem Einführungsreferat von Christof Wiechert, dem früheren Leiter der Pädagogischen Sektion am Goetheanum. Sein erster Vortrag hatte zum Titel „Kleine Kinder sind große Lehrer“ und er handelte davon, dass Kinder Respekt verdienen und es uns helfen kann, unsere pädagogischen Ziele zu erreichen, wenn wir ihre Bedürfnisse ernst nehmen. An den anderen Tagen sprach Wiechert über die Notwendigkeit der Selbsterziehung der Lehrer, über den Waldorf-Lehrplan und über die Veränderung der Kinder beim Übergang zur Oberstufe.
700 Sets mit Simultanübersetzungen waren täglich im Einsatz, um die Sprachbarrieren zu überwinden. Während der lebendigen und tiefgehenden Vorträge konnte man öfters eine Welle des Lachens hören, die den Übersetzungen folgte, zuerst lachten die englischsprachigen Teilnehmer und dank der Technologie und den guten Übersetzern erreichte der Humor dann auch die anderen. Danach besuchten die Teilnehmer die 54 Workshops am Morgen und am Nachmittag, die 57 Referenten aus allen Teilen der Welt anzubieten hatten und in denen alle wichtigen Aspekte der Waldorfpädagogik in der Praxis zur Sprache kamen – eingeschlossen auch kulturelle Themen wie „Traditionelle chinesische Malerei und Kalligraphie“.
Es gäbe viele Höhepunkte aufzuzählen, aber besonders erfrischend waren die wissenschaftlichen Themen im Bereich Oberstufe. So gab ein ganztägiger Workshop über den Chemieunterricht von Klasse 7 bis 12 Einblicke in den Naturwissenschaftsunterricht in den höheren Klassen, was für die Teilnehmer besonders erhellend war, da es in China noch sehr wenige Waldorfschulen mit höheren Klassen gibt. „Das ist so anders, als wir es uns vorgestellt haben“, meinte einer der Übersetzer, nachdem er den Lehrplan für Chemie kennengelernt hatte. Viel langsamer als an den öffentlichen Schulen widme man sich dem technischen Anteil, die Periodentafel der Elemente werde erst in Klasse 11 durchgenommen, es entstehe keine Verwirrung dadurch und das was die Schüler lernen, sei viel mehr mit dem Alltag verbunden.
Dr. Dirk Rhode von der Freien Waldorfschule Marburg benutzt ein altes chinesisches Zeichen, um den Chemieunterricht in Klasse 7 zu beschreiben. Es versinnbildlicht den Charakter von „Holz“ , der senkrechte Strich bedeutet die Qualität der Veränderung des Verbrennungsprozesses, die Aufwärtskurve charakterisiert den Rauch und die Abwärtskurve die übrig bleibende Materie.
Am Ende eines jeden Nachmittags wurde ein Forum für die Vertreter der Waldorfpädagogik aus jedem asiatischen Land eingerichtet, wo die Lage in ihrem Land und dringende Fragen besprochen werden konnten.
Zusätzlich zum Programm erwartete die Teilnehmer, die noch nicht erschöpft waren, immer wieder Darbietungen, die von den Waldorflehrern von Chengdu, Studenten, einer Drama Gesellschaft, Bands und internationalen Eurythmisten angeboten wurden.
Am Abschlussabend erfreuten die Teilnehmer die Gäste mit wunderbaren und kulturell anspruchsvollen Beitragen aus ihren verschiedenen Regionen.
Gemeinsame Anliegen
Wie die Diskussionen in den Foren am Nachmittag zeigten, gibt es Gemeinsamkeiten der Waldorfschulbewegung in Asien: die entscheidendste liegt darin, dass viele Schulen und Kindergärten trotz des unaufhaltsamen Wachstums der Bewegung in den asiatischen Ländern immer noch um ihren rechtlichen Status kämpfen müssen. Die meisten Waldorfschulen sind durch private Initiativen von Eltern entstanden, die eine bessere Bildung für ihre Kinder wollen. Damit ist viel harte Arbeit verbunden, weil die nicht-öffentlichen Schulen selten Unterstützung von Regierungsseite bekommen. Um anerkannt zu werden, sind manche Schulen Kompromisse eingegangen, auch um sicherzustellen, dass ihre Schüler zu nationalen Examen zugelassen werden. Das kann zum Beispiel so geschehen, dass die Schule ein Zweig einer öffentlichen Schule wird.
Darüberhinaus suchen die Schulen – wie der Titel der Konferenz auch zeigte – einen Weg, die Praxis der Waldorfpädagogik mit der eigenen kulturellen Identität zu verbinden. Immer noch kommen die meisten Dozenten und Lehrer aus Europa oder anderen westlichen Ländern, aber wie können die Lehrer in Asien die europäischen Märchen, Geschichten, Lieder und Kinderreime durch geeignete lokale Gegenstücke ersetzen, die für die Menschen vor Ort etwas bedeuten? Vor allem in denjenigen asiatischen Ländern, die noch nicht so lange unabhängig sind im Vergleich zu einer langen kolonialen Vergangenheit, ist dies eine dringende Notwendigkeit.
Starkes Wachstum
Hätte sich Rudolf Steiner, der Begründer der Waldorfpädagogik, das unglaubliche Wachstum der Waldorfschulen in Asien nach 100 Jahren vorstellen können? Zur Zeit gibt es 1092 Waldorfschulen und 1857 Waldorf Kindergärten weltweit nach der im März 2017 veröffentlichten Waldorf World List. In knapp zwei Jahrzehnten sind in Asien 61 Waldorfschulen und 148 Kindergärten auf diese Liste gekommen.
Den jüngsten Statistiken zufolge gibt es in China allein bereits 60 Waldorfschulen und mehr als 400 Kindergärten, die ganz oder teilweise auf waldorfpädagogischer Basis arbeiten. In verschiedenen Teilen von China arbeiten sechs Seminare, in denen Waldorfpädagogik für die frühe Kindheit gelehrt wird – ein weiteres wird 2018 eröffnet. Sie sind alle voll ausgelastet und bieten eine dreijährige Ausbildung an, die internationale Standards von Erzieherausbildung zum Ziel hat. Daneben gibt es jedes Jahr zahllose Trainingskurse und Workshops, die Waldorfpädagogik oder Anthroposophie zum Gegenstand haben.
Chengdu, die älteste chinesische Waldorfschule, die 2004 begonnen hat, verfügt zum Beispiel über ein eigenes Trainingscenter mit rund 30 Kursen und Workshops jedes Jahr, die von rund insgesamt 2000 Teilnehmern im Jahr besucht werden. Auf der Konferenz stellten die ausländischen Organisatoren fest, dass in China die Teilnehmer nie ausgehen – im Gegensatz zur eher schleppenden Lage an den Ausbildungsstätten in Europa.
Nach Vorstellung der Organisatoren, möchten sie die Serie von Feierlichkeiten zum 100jährigen Bestehen der Waldorfschule gern dazu nutzen, die nächsten 100 Jahre vorzubereiten. In den ersten 100 Jahren hat die Waldorfschule sich mit Erfolg über fünf Kontinente verbreitet – aber was werden die nächsten 100 Jahre bringen? Darauf darf man gespannt sein.
END/nna/ah/ung
Bericht-Nr.: 170607-02DE Datum: 7. Juni 2017
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