Single News
„Das europäische Asylsystem ist ein Wahnsinn ...“
Mehr Flüchtlinge als je zuvor ertranken 2016 im Mittelmeer. Hilfsorganisationen üben schwere Kritik an der EU Flüchtlingspolitik, die die Flucht nach Europa zu einem noch gefährlicheren Unterfangen macht.
FRANKFURT/BERLIN/MALTA (NNA) – 2016 sind bei der Flucht über das Mittelmeer so viele Menschen ertrunken wie nie zuvor. Die Hilfsorganisationen machen dafür die Flüchtlingspolitik der EU verantwortlich.
„Denn diese Menschen sind keiner Naturkatastrophe zum Opfer gefallen. Es ist eine politische Entscheidung, sie ertrinken zu lassen. Die Europäische Union setzt auf Abschottung, statt Schutzsuchenden Hilfe zu leisten“, schreibt die Seenotrettungsorganisation Sea-Watch. Die Organisation, die sich aus privaten Spenden finanziert, war 2016 an der Rettung von mehr als 20.000 Menschen im Mittelmeer beteiligt.
Insgesamt starben im Mittelmeer nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR im vergangenen Jahr 5.022 Menschen – im Jahr zuvor waren es 3.771 Tote. Mitte Dezember hatten Aktivisten von Sea-Watch vor dem Bundestag in Berlin 4.699 Kerzen entzündet, um die oft namenlosen Ertrunkenen vor dem Vergessen zu bewahren. Unter dem Motto „#SafePassage“ fordert Sea-Watch die Einrichtung einer sicheren Überfahrt für die Flüchtlinge. Dies sei der einzige Weg, dem Sterben im Mittelmeer ein Ende zu bereiten.
2015 bezahlte jeder 276. Flüchtling oder Migrant seinen Versuch, über das Mittelmeer nach Europa zu kommen, mit dem Leben – 2016 war es jeder 41. Flüchtling, dies hat „Ärzte ohne Grenzen“ (MFS) berechnet. Die Organisation, die 2016 mit drei Rettungsbooten im zentralen Mittelmeer präsent war, berichtet außerdem von immer skrupelloseren Praktiken der Schleppernetzwerke. So seien große Holzboote, die 2014 und 2015 hauptsächlich eingesetzt wurden, durch billige, aufblasbare Boote ersetzt worden, um die verschärften Grenzkontrollen zu umgehen. Auch dies habe die Zahl der Toten erhöht.
Lebensgefährdende Strategie
Die EU hat 2016 die Strategie, Schutzsuchende bereits vor dem Erreichen europäischer Grenzen von der Weiterflucht abzuhalten, massiv forciert, schreibt die Organisation Pro Asyl. Brüssel habe damit die Flucht nach Europa zu einem noch gefährlicheren Unterfangen gemacht. Bereits mit dem EU-Türkei-Deal im März sei „ein Exempel statuiert worden – für eine Vorverlagerung der Abwehr und gegen den Schutz von Flüchtlingen.“
Geplant sei, mit Ägypten, Tunesien und Libyen ähnliche Abkommen einzugehen. Die Hilfsorganisationen kritisieren auch die sogenannten „Migrationspartnerschaften“ der Bundesregierung mit afrikanischen Staaten als ein weiteres Instrument, um Drittstaaten über Anreize in das europäische Grenzregime einzubinden. Bei den Staaten, mit denen diese Partnerschaften eingegangen werden sollen, handelt es sich um Regime, die „die Menschenwürde mit Füßen“ treten, betont Sea-Watch.
Zudem bilde die EU-Militäroperation EUNAVFOR Med seit Oktober die Küstenwache in Libyen aus, die nachweislich völkerrechtswidrige Rückführungen aus internationalen Gewässern durchführt. “Wir konnten in diesem Jahr mehrere Fälle dokumentieren, in denen die Libysche Küstenwache Boote aus internationalen Gewässern zurückgeschoben hat“, erläutert Sea-Watch-Geschäftsführer Axel Grafmanns. Am 21. Oktober waren bei einem Übergriff auf einen Sea-Watch-Rettungseinsatz mehr als 20 Menschen ums Leben gekommen. Die Organisation hat deswegen Strafanzeige erstattet.
Falsche Argumentation
Sea-Watch hat den Vorwurf der EU-Grenzschutzagentur Frontex zurückgewiesen, die zivilen Seenotrettungsorganisationen erleichterten den Schlepperbanden ihr Geschäft. Argumentiert werde vordergründig , dass durch die abnehmende Zahl der Notrufe von Schlauchbooten ein Beleg erbracht sei, die Schmuggler wüssten, wo sich die Schiffe der Rettungsorganisationen befinden. Somit könnten die völlig überladenen Flüchtlingsboote direkt dorthin dirigiert werden. Die Fahrten würden kürzer, das Geschäft lukrativer.
Diese Argumentation blende bewusst aus, warum NGOs eigentlich auf dem Meer sind. „Dass es hierbei um die Rettung von Menschen in akuter Lebensgefahr geht wird ignoriert”, meint Frank Dörner aus dem Sea-Watch Vorstand dazu. Sea-Watch suche aktiv nach Booten, um Unfälle zu verhindern. So würden Boote häufig gefunden, bevor sie im Moment der Katastrophe einen Notruf absetzen.
Außerdem werde unterschlagen, dass alle Organisationen eine Aufgabe übernehmen, die eigentlich durch die EU erfüllt werden müsste: „Nämlich zu verhindern, dass Menschen beim Versuch nach Europa zu gelangen sterben, weil es für sie keine andere Möglichkeit gibt, sicher dorthin zu gelangen“.
Die EU versucht aus der Sicht der Rettungsorganisation, „rechtzeitig zum Superwahljahr 2017 ihre Grenzen dicht zu machen“. Die „zivilen Augen“ der Seenotrettungsorganisationen seien dabei ein Störfaktor. Sea-Watch befürchtet eine Kriminalisierung der NGO-Tätigkeit zur Rettung der Flüchtlinge.
Im Verlauf des Jahres 2016 habe Sea-Watch beobachtet, dass sich die Schiffe der EU-Missionen zunehmend aus den akuten Rettungseinsätzen zurückgezogen haben. “Es gibt die Verpflichtung, im Falle eines Notrufes alles zu tun, um schnellstmöglich zu helfen. Trotzdem waren die besser ausgestatteten Schiffe des Militärs häufig nur Beobachter der zivilen Rettung”, so Dörner.
Verstoß gegen Seerecht
Ein solcher Fall ereignete sich zum Beispiel am 25.09.2016, als ein Kriegsschiff lediglich aus der Distanz dabei zuschaute, wie die Sea-Watch 2 und die Astral der spanischen Organisation Pro Activa am Kapazitätslimit retteten. “Der Support der EU-Marine beschränkte sich auf 12 Flaschen Wasser sowie ein paar Kekse und auch die gab es nur nach mehrfacher Bitte um Unterstützung.”
Argumentiert wurde damit, dass der Auftrag der Mission nicht primär Seenotrettung sei. “Es muss geprüft werden, in welchen Fällen hier gegen internationales Seerecht verstoßen wurde”, ergänzt Axel Grafmanns, Geschäftsführer von Sea-Watch.
Die Anschuldigungen gegen die libysche Küstenwache sind aus der Sicht von Sea-Watch „nur die Spitze des Eisbergs an Menschenrechtsverstößen“ in Libyen gegen Schutzsuchende und MigrantInnen. Nach den Berichten von Amnesty International werden Schutzsuchende willkürlich unter Missachtung der Menschenrechte in Libyen inhaftiert. Flüchtlinge werden misshandelt und gefoltert, etliche Haftzentren werden von Milizen kontrolliert.
Die libyschen Einsatzkräfte durch Ausbildungsprogramme im Rahmen der EU-Militäroperation weiter zu stärken sei vor diesem Hintergrund „blanker Zynismus“, schreibt Pro Asyl. Die Organisation betont, sie habe von Anfang an deutliche Kritik an dem Vorhaben geäußert und darauf hingewiesen, dass sich die EU „durch die Kooperation mit Libyen zur Handlangerin schwerster Menschenrechtsverletzungen gegen Flüchtlinge macht“.
„Staatliche Förderung der Schlepperindustrie“
Was aber kann getan werden jenseits der aktuellen Abschottungspolitik?
Zu einer der besten Publikationen, die derzeit zum Flüchtlingsthema zu haben sind, gehört die Reportage „Einbruch der Wirklichkeit – auf dem Flüchtlingstreck durch Europa“ des deutsch-iranischen Schriftstellers Navid Kermani.
Kermani, der für den SPIEGEL unterwegs war und jetzt die Langfassung seiner Reportage als kleines Buch veröffentlicht hat, schildert sehr differenziert seine Beobachtungen auf der Flüchtlingsroute. Er stellt auch die Frage, ob die Flüchtlinge und Migranten, die da unterwegs sind, wirklich alles die Fachkräfte und Ingenieure sein werden, wie Deutschland sie erwartet.
Hinsichtlich der politisch Verantwortlichen spricht Kermani Klartext, wenn er schreibt: „ ... dass das gesamte europäische Asylsystem ein Wahnsinn ist, bestreitet kein Offizieller, den ich getroffen habe. Nur muss man sich dann auch klarmachen, was der Grund für diesen Wahnsinn ist: Dass Flüchtlinge keine andere Möglichkeit haben, in Europa Asyl zu beantragen, als illegal einzureisen. Die europäischen Asylvereinbarungen sind nichts anderes als eine massive staatliche Förderung der Schlepperindustrie. Allein, nicht nur die Schlepper, auch der Rechtspopulismus profitiert, der das Chaos an den Grenzen zum Beleg nimmt, um den Untergang des Abendlands zu beschwören.“ (S.46)
Krieg, wirtschaftliche Not und auch der Klimawandel verursachen die Fluchtbewegungen, aber auch geistige Hintergründe und demographische Entwicklungen tragen zu ihrer Entstehung bei, wie NNA in den verschiedenen Berichten zum Thema in diesem Jahr dargestellt hat (siehe Links unten).
So ist nicht zu erwarten, dass sie in naher Zukunft ein Ende finden. Mit den Flüchtlingen rücken die Krisen der Welt an Europa heran und Europa reagiert darauf, indem es sich in eine Festung verwandelt – entgegen seinen menschenrechtlichen Grundlagen und Ansprüchen.
Keine Zaubermittel
Zaubermittel bei der Bewältigung des Flüchtlingsstromes gibt es nicht, betont auch Kermani. Aber er weist darauf hin, dass seit langem praktikable Vorschläge vorliegen, „mit denen sich die Wanderungsbewegungen immerhin steuern und geordneter bewältigen ließen“. (S.50)
Dazu gehört der Vorschlag, politisches Asyl und Einwanderung endlich voneinander zu trennen. Während sich Einwanderung nach den Bedürfnissen der Aufnahmeländer richten dürfe, bliebe das Asyl ausschließlich den Schutzbedürftigen vorbehalten. Wer auf eine legale Einwanderung hoffen dürfe, werde Zeit und Geld nicht in eine gefährliche, kostspiele Flucht investieren, sondern in seine Qualifizierung und den Spracherwerb, argumentiert der Schriftsteller.
450.000 nicht bearbeitete Asylanträge zum Jahresende 2016 in Deutschland sprechen hier eine deutliche Sprache. In ihnen sind beide Gruppen versammelt – Einwanderungswillige und Schutzsuchende, die die Mitarbeiter des Bundsamts für Migration (BAMF) in langwierigen Anhörungs- und Entscheidungsprozessen beurteilen müssen. Immer öfter kommt es auch zu Gerichtsverfahren, weil Widerspruch gegen die Entscheidung eingelegt wird. (NNA berichtete)
Das gegenwärtige Asylverfahren bedeutet für die Betroffenen Jahre der Unsicherheit und des provisorischen Lebens, das ihre Integration erschwert oder sogar verunmöglicht, weil sie nicht mehr daran glauben, dass Deutschland doch noch ihre neue Heimat wird.
END/nna/ung
Literaturhinweis:
Navid Kermani (2016), Einbruch der Wirklichkeit - Auf dem Flüchtlingstreck durch Europa. München. ISBN Nr. 976.3. 496 .69208-6.
Bericht-Nr.: 170102-01DE Datum: 2. Januar 2017
© 2017 News Network Anthroposophy Limited (NNA). Alle Rechte vorbehalten.