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Anthroposophen eine „Großmacht“ in der alternativen Szene?
BUCHBESPRECHUNG | Der Religionshistoriker und Steiner-Biograf Prof. Zander hat den Anspruch, eine Kartographie der anthroposophischen Bewegung zu liefern. Wolfgang G. Voegele empfand jedoch das Werk in großen Teilen unzulänglich.
PADERBORN (NNA) – Im Rahmen des 100jährigen Jubiläums der Waldorfschule sind eine ganze Reihe von Publikationen zum Thema Waldorfpädagogik, ihrer Geschichte und ihrer Grundlagen erschienen. Der Schweizer Religionshistoriker und Steiner-Biograf Prof. Helmut Zander hat das Jubiläumsjahr jetzt offensichtlich ebenfalls zum Anlass genommen, sich erneut mit dem Thema Anthroposophie zu befassen – die Waldorfpädagogik eingeschlossen.
Der Untertitel seines Buches Die Anthropsophie verspricht eine Darstellung von „Rudolf Steiners Ideen zwischen Esoterik, Weleda, Demeter und Waldorfpädagogik“ und der (katholische) Schöningh-Verlag erläutert in einem Werbetext die Intention des Werkes: „Die Anthroposophie ist eine esoterische Großmacht: Waldorfschulen, Demeter-Möhren, Weleda-Heilsalbe, Esoterische Schulen, Universitäten – Helmut Zander dokumentiert ihr öffentliches und zugleich verborgenes Netzwerk.“ Zander versuche – so der Werbetext weiter – die für den Laien schwer überschaubare Welt der Anthroposophen zu kartieren. Offenbar war es die Absicht des Autors, ein populäres, leicht verständliches Werk zu schreiben.
Entstanden ist ein lexikonartiges Nachschlagewerk, das in 48 alphabetisch angeordneten Kapiteln Schlagworte behandelt, die nach Zanders Meinung irgendwie mit Anthroposophie zu tun haben. Die Idee ist nicht neu: Schon 2002 erschien ein „ABC der Anthroposophie“ von Adolf Baumann, eine Art Handbuch, das anthroposophische Termini zu definieren suchte. Zander dagegen möchte zeigen, wie sich die Welt der Anthroposophie bis heute weiterentwickelt hat. Als Basis seiner Darstellung nennt er persönliche Begegnungen mit Anthroposophen, die er als „gesprächsoffen“ bezeichnet.
Dabei zeigt Zander auch die Grenzen seiner Darstellung auf: darzustellen, was Anthroposophie „wirklich ist“, erweise sich als eine „unlösbare Aufgabe“. Insofern versteht der Leser den Titel des Buches erstmal nicht: Warum ist hier „Die Anthroposophie“ gemeint, wenn sie als ganzes doch gar nicht zu erfassen ist?
Das Kapitel unter dem Stichwort „Anthroposophische Gesellschaft/Anthroposophische Bewegung“ skizziert die Organisation einer Weltanschauung, deren Wachstum „in den letzten Jahren“, zumindest im deutschsprachigen Raum ins Stocken geriet. Mitgliederzahlen von 2008 und 2017 werden verglichen: Tendenz fallend. Ähnlich international: im Jahr 2000 noch ca. 50.000 Mitglieder; im Jahr 2017 nur noch ca. 44.000. Zander erinnert aber daran, dass der Kreis der Sympathisanten ungleich größer ist.
Divergenzen
Dass der Vorstand der Gesellschaft seit 2001 kollektiv amtiert, werde als Anpassung an veränderte, demokratische Verhältnisse ausgegeben. Bis heute seien die Interpretationen von Steiners Werk nicht konsensfähig. Extrem unterschiedlich seien auch die anthroposophischen Autoren. Peter Selg habe eine Steiner-Biographie geschrieben, „für die die Heiligenlegende ein viel zu unheiliges Wort ist“, Sebastian Gronbach sei zum Guru mutiert, Taja Gut vermochte „unverkrampfte Selbstkritik zu üben“ Es fänden sich sogar lockere Anarchisten in der Szene wie das Autorenkollektiv Grauer, Kühn, Hau und den Autor Ansgar Martins („Endstation Dornach“). „Diese Divergenzen könnten in den nächsten Jahren noch zunehmen“, mutmaßt Zander.
Er erwähnt auch den historischen Streit um Steiners Nachlass, den Weggang und Ausschluss ganzer Gruppen, und benennt einzelne Abtrünnige. Doch: „Eine tödliche Spaltung ist der Anthroposophischen Gesellschaft jedenfalls erspart geblieben“. In ihrer Verbindung von Pluralität und Kohärenz sei die Anthroposophie „ein hochinteressantes Phänomen“ eines (ideologischen) Zusammenschlusses, vermerkt Zander. Dornach bleibe aber für viele ein Referenzort (Steiners Grab, Faustaufführungen, Fachtagungen). Immerhin versichert er (ganz im Gegensatz zu bestimmten Kritikern), das Goetheanum sei keine „Kommandozentrale einer esoterischen Geheimgesellschaft“ und der Dornacher Hügel sei nicht der „Kreml der Anthroposophie.“ (S. 22) Die Zentifugalkräfte dürften, bedingt durch die Globalisierung, noch zunehmen.
Ein Problem bleibe indessen die interne „autoritäre Diskussionskultur“, trotz der postulierten Dogmenfreiheit. Dreh- und Angelpunkt dieses Problems sei der „Anspruch auf höhere Erkenntnis“. Mit der Berufung auf Steiner könne jeder Diskurs beendet werden. Hinter angeblichen „erkenntnistheoretischen Debatten“ verberge sich meist die Deutungsmacht. Auch gäbe es Probleme mit demokratischen Umgangsformen (Abstimmungsmethoden). Heftig kritisiert worden sei die „revolutionäre“ Dornacher Inszenierung von Goethes Faust (2017) die mit einem Defizit endete. (Den beiden abgewählten Vorstandsmitgliedern wurden finanzielle Unfähigkeit und ideologische Unzuverlässigkeit vorgeworfen). Die Konservativen hätten sich zurückgemeldet.
Mit dem bürgerlichen Hintergrund dürfte auch der „beträchtliche Reichtum“ zu tun haben, „der sich unter Anthroposophen akkumuliert.“ Zander nennt Indizien dafür, „dass Anthroposophen einer gutsituierten Schicht angehören.“
Distanzierung
Dem Finanzthema geht Zander dann auch unter dem Stichwort „Banken“ nach.
Die Idee eines Geldes, das man nicht horten dürfe, habe Steiner von Silvio Gesell übernommen. Die 1974 gegründete, auf Deutschland beschränkte GLS-Bank sei ein Schwergewicht unter den Alternativbanken und sei mit Auszeichnungen „geradezu überschüttet“ worden. Aber wie „anthroposophisch“ ist sie? Sie verschweige den Namen Rudolf Steiners und halte sich auf Nachfrage bedeckt, wen genau sie finanziere. Bei einer entsprechenden Bank in Basel sei der anthroposophische Hintergrund deutlicher. Sie sei fundamentalistischer als die GLS.
In Europa (Dänemark, Frankreich, Österreich, England, Holland, Belgien) seien inzwischen weitere Finanzinstitute hinzugekommen, in denen Steiner „irgendwie“ eine Rolle spiele. Ein Blick auf die Vorstände zeige: Nicht alle Manager sind Anthroposophen. Was die Triodosbank (die ebenfalls viele Auszeichnungen bekam) auf ihrer Website erzähle, rieche „nach ein wenig Verdrängung“.
Beide großen Banken distanzierten sich von Steinerschen Dogmen, das heißt, man erkenne nicht auf den ersten Blick, was dahinterstecke. Steiners Esoterische Schule hält Zander für transparenter als die Betriebsabläufe dieser Banken. Negatives lässt sich trotzdem nicht berichten: „Angesichts bisher fehlender Skandale gilt die Unschuldsvermutung.“ Prinzipiell findet der Religionshistoriker zwar Alternativbanken gut, aber es sei doch „obszön“, wenn Ökonomie zur Heilsveranstaltung mutiere .
In den Kapiteln zu Alnatura und dm erfährt der Leser, dass hinter den erfolgreichen Marken Alnatura und dm echte Anthroposophen stehen wie die Unternehmensgründer Götz Werner und Götz Rehn. Aber zugleich befehdeten sich die Biosupermarktkette mit dem Drogeriemarkt auf juristischem Parkett, schildert Zander und zeigt, dass es gerade zwischen gestandenen Anthroposophen nicht selten zu heftigen Auseinandersetzungen kommen kann.
Waldorf
Mit gut dreißig Seiten ist „Waldorfpädagogik“ das umfangreichste Stichwort im Buch. (S. 239-270): Auf das Schuljubiläum selbst geht er gar nicht ein. Zander gibt zu, erziehungswissenschaftlicher Laie zu sein („unscharfe Wahrnehmung aus großer Distanz“). Er beklagt, dass er nur schwer an Informationen über Waldorfschulen herangekommen sei, weil diese Schulen hinter kritischen Anfragen „unbelehrbare Sektenjäger“ am Werk sähen. Mit der gut besetzten und agilen Öffentlichkeitsarbeit des Bundes der Freien Waldorfschulen ist er offenbar nicht in Kontakt getreten.
Zander malt sich zu Beginn des Kapitels ein „irgendwie waldorfmäßiges“ Land Utopia aus, in dem Waldorfschüler all das tun dürfen, was ihnen angeblich verboten ist, etwa Fußballspielen oder Malen nach selbstgewählten Motiven. Dahinter leuchtet das Ideal einer „steinerfreien“ Waldorfschule auf, von der manche Kritiker träumen.Zander zählt die Namen einiger prominenter anthroposophieferner Familien auf, deren Kinder oder Enkel eine Waldorfschule besuchten (Strauß, Kohl, Berlusconi, Göring-Eckardt, Galinski, Pöhl, Porsche). Von prominenten Waldorfschülern nennt er ausschließlich Künstler.
„Schattenseiten“ der Waldorfschulen werden ausgiebig angesprochen (Drogenprobleme, Prügelstrafen, rassistisches Gedankengut, weltanschauliche Indoktrination), aber Zander konzidiert, dass man hier nicht generalisieren könne. Waldorfkritische Literatur, so beschwert sich Zander, würde auf der Website des Bundes der Freien Waldorfschulen „sorgfältig verschwiegen“. Diese Literatur listet Zander auf.
Im Kapitel Empirie im Waldorfteil widmet sich Zander vor allem der Arbeit von Prof. Dirk Randoll. Interessegeleitete Forschung liege bei dessen empirischer Absolventen-Studie von 2007 immerhin nicht vor, da sie auch negative Resultate nenne. Jedenfalls widerspreche sie dem (von Klaus Prange geäußerten) Verdacht, Waldorfschulen seien Kaderschmieden für die Anthroposophische Gesellschaft. Im Gegenteil: Die anthroposophische Welt verwandle sich rapide und bis zur Unübersichtlichkeit.
Die Absicht des Professors an der Alanus Hochschule, Jost Schieren, nicht mehr die Esoterik, sondern das goetheanistische Denken in den Vordergrund zu rücken, findet Zander „schwindelerregend“ mutig. Auch die Waldorfwelt verändere sich schleichend; SMV, Elternrat würden eingeführt, Sonntagshandlungen verschwänden. Aufgrund dieser neuen Unübersichtlichkeit habe er seine Darstellung auch hier kaleidoskopartig gehalten.
Dass Waldorfschulen Weltanschauungsschulen sind, sei in der Außenperspektive klar, denn Steiners Anthropologie sei keine weltanschauungsfreie Zone. Das esoterische Denken sei eine zentrale Dimension seiner Pädagogik, die aber nicht offen dargelegt werde. Zu den weltanschaulichen Grundlagen der Waldorfpädagogik gehöre auch eine Rassentheorie, etwa im Konzept der Kulturstufen., die Steiner hierarchisiert habe. Immer wieder gäbe es Waldorflehrer, die dem rechtsradikalen Milieu angehören.
Im Kapitel „Masern“ werden dann sowohl Waldorfschulen mit ihren angeblich impfunwilligen Eltern sowie anthroposophischen Ärzte für die geringe Durchimpfungsrate und den Fortbestand der Krankheit in Deutschland bzw. Österreich verantwortlich gemacht.
Rudolf Steiner
Der Inhalt des Kapitels zu „Rudolf Steiner“ ist dann ein Extrakt von Zanders früheren Anthroposophika und weitgehend diffamierend: Steiners Vater habe dem Sohn schon früh das „Gift des Nationalismus“ injiziert, Steiners angebliche frühe übersinnliche Erlebnisse seien nachträgliche Erfindungen zwecks Profilierung als Hellseher unter den Theosophen.
Es folgt die bekannte Liste des Scheiterns: Steiner ist Studienabbrecher, hat weder Goethe noch Kant verstanden oder angemessen interpretiert. Aus beruflicher Perspektivlosigkeit konvertiert er zur Theosophie, aus deren Literatur er die Grundlagen der Anthroposophie konstruiert. Der Unruhestifter spaltet 1912 die Theosophische Gesellschaft und reißt damit eine empfindliche Lücke in dieselbe. Nach dem Weltkrieg kreiert er dann die so genannten Praxisfelder (Waldorfschule, Medizin, Landwirtschaft), von denen er jedoch fachlich keine Ahnung hat.
Die Frage, ob es heute noch die besserwissenden Anthroposophen gibt, verneint Zander, weil die Identität der Anthroposophie schwankend geworden sei. Sie sei heute eine „Interpretationsgemeinschaft“ geworden. Der Kampf zwischen einer historisch-kritischen und einer spirituellen Steiner-Deutung sei in vollem Gang.
Wegen oder trotz der Esoterik zeige die Anthroposophie aber „ein vitales kulturelles Leben“. Der Kreis der Sympathisanten gehe weit über die Mitgliederzahl hinaus. „Im alternativkulturellen Milieu ist sie eine Großmacht“. Wer ihren Untergang voraussagte, habe sich getäuscht. Sie sei „in der Mehrheitsgesellschaft angekommen.”
Heute steht die Anthroposophie in „schwindelerregend“ veränderten Rahmenbedingungen und mache daher eine „vielleicht dramatische“ Transformation durch. Wie andere institutionalisierte Weltanschauungen werde auch die Anthroposophie durch Pluralisierung und Individualisierung geprägt. Sie ist (für ihre Kritiker) nur noch eine esoterische Gruppe von vielen, „die um Aufmerksamkeit ringen muss.“
Für immer weniger Anhänger sei Steiner heute noch eine Autorität, die Mitgliederzahl nehme (in Deutschland) ab. Die „vielfach deutschnational“ geprägt gewesene Anthroposophie werde zunehmend international und sei als Milieu hochdifferenziert. Die Außenwahrnehmung werde immer noch von anthroposophischen Dogmatikern geprägt, die aber möglicherweise nur eine Minderheit bilden.
Näher besehen, enthüllt Zander in vielen Kapiteln, was nur einen geringen Teil der Leser interessieren dürfte: inneranthroposophische Machtkämpfe. Was früher hinter verschlossenen Türen ausgetragen wurde, findet heute im Internet statt. Von dort bezog Zander auch seine meisten Informationen dazu.
Historische Kritik
Unter dem Stichwort „Historische Kritik“ weist Zander auf seine Steiner-Biografie von 2007 hin, er ist der Auffassung, er habe mit dieser Publikation der kritischen Steinerforschung die Wege geebnet. Und er erinnert an das schrille Echo der Anhänger von Rudolf Steiner auf seine Publikation. Die historisch-kritische Steinerforschung habe den Graben zwischen offenen und orthodoxen Anthroposophen vertieft. Dass inzwischen mehrere fundierte Widerlegungen seiner Thesen von anthroposophischer Seite (in Buchform) vorliegen, erwähnt Zander nicht.
Das Kapitel „Rasse/Rassismus“ benutzt er, um noch einmal die schwersten Geschütze aufzufahren, die er bereits in früheren Aufsätzen gegen Steiner in Einsatz gebracht hatte. Dabei hält er das 2014 (auf Englisch) erschienene Buch von Peter Staudenmaier für die beste Studie zum Thema, während die Pionierarbeit Uwe Werners (1999) unzulänglich sei, weil sie problematische Aussagen Steiners zu Rassen relativiere.
Vor einer ehrlichen Revision von Steiners Evolutionsdenken scheuten Anthroposophen zurück, weil ihrem ganzen System sonst der Kollaps drohe. „Wenn dieser Stein (die Rassentheorie) fällt, kippen auch alle anderen übersinnlichen Einsichten Steiners. […] Hier befürchten Anthroposophen […] den Zusammenbruch des gesamten anthroposophischen Systems.“ (S. 201) Diese schon 2001 formulierte Prognose wird – wie vieles in dem Buch – ist allerdings durch nichts belegt.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Zanders Buch Kennern und Sympathisanten der Anthroposophie kaum Neues bringt. Seine detailverliebten Ausführungen lesen sich über weite Strecken ausgesprochen langweilig. Eingestreute Abbildungen wirken wie eine zufällige Sammlung aus Ulk, Werbung und Dokumentation. Mit seinem Kaleidoskop aus Information und Spekulation zielt Zander auf all diejenigen, die an eine „esoterische Unterwanderung“ unserer Gesellschaft glauben wollen.
Religion
Interessantere Beobachtungen finden sich unter dem Stichwort „Protestantismus – Katholizismus“, also im eigentlichen Fachgebiet des Religionshistorikers Zander. Er geht nicht auf die konfessionelle Kritik ein, bringt aber eine religionssoziologisch und psychologisch interessante Einschätzung: Konfessionsgeschichtlich sei die Anthroposophie ein Kind des Protestantismus. Stuttgart, das deutsche Zentrum der Anthroposophie, war eine protestantische Hochburg.
Zweiter Indikator sei die Christengemeinschaft, die fast ausschließlich von Protestanten gegründet wurde. Sie führte bisher nur mit Protestanten theologische Gespräche. Dritter Indikator: in protestantischen Ländern ist die Anthroposophie am meisten verbreitet. Steiner, selbst kaum vom Katholizismus geprägt, sei durch den Protestanten Schröer religiös sozialisiert worden, auch die Theosophische Gesellschaft sei protestantisch dominiert gewesen.
Auch in der deutschen Konfessionsgeschichte wisse man, dass dem Neuprotestantismus das Individuum wichtiger war als die Kirche. Die Anthroposophie sei also den bildungsbürgerlich-protestantischen Milieus entgegengekommen. Doch das kultische Bedürfnis blieb zunächst unbefriedigt, das Herz darbte (Defizit an Ritualität und Emotionalität), die Predigten wurden als verkopft empfunden. Das sei auch ein wichtiger Grund für Rittelmeyers Konversion gewesen. Die Riten der Anthroposophie kompensierten dieses Defizit. Die Christengemeinschaft sei ein „katholisierendes Programm für Protestanten“ gewesen.
Unter dem Stichwort „Christengemeinschaft“ (CG) wird die Gemeinschaft für religiöse Erneuerung dann auch als ein weiteres anthroposophisches Praxisfeld darstellt, da sie faktisch auch von Steiner gegründet sei. Sie sei eine Parallelorganisation zur Anthroposophischen Gesellschaft und rekrutiere sich stark aus dem protestantischen Milieu. Sie biete faktisch einen Ersatzkultus für die von Steiner nicht mehr geschaffenen freimaurerischen Riten.
Hier fließt auch theologische Kritik mit ein: Die CG kenne keinen vergebenden Gott, sondern nur Selbsterlösung. Spannungen zwischen der CG und der Anthroposophischen Gesellschaft interessieren ihn besonders. Es herrsche weltanschauliche Konkurrenz, obwohl Steiner die CG degradiert und zur „Vorfeldorganisation“ herabgestuft habe. Trotz allem sei die CG wegen ihres Kultus attraktiver als die Anthroposophische Gesellschaft.
Zander will aber auch hier Indikatoren für Krisen erkennen: Nachwuchsprobleme, Binnenkritik an der Abschottung, das „Leiden“ an den unveränderbaren liturgischen Texten, Ausschlüsse von Priestern. Die Sakralsprache wirke heute expressionistisch und theatralisch . Auch hier dominieren dann interne Strukturprobleme den Text, die den Leser eher langweilen und Zander muss zum Schluss hier wie in der gesamten Darstellung eingestehen, dass ein verlässliches Gesamtbild nur schwer erreichbar ist.
Dreigliederung
Im Ungefähren bleibt die Rolle der Anthroposophen auch im hochaktuellen Kapitel „Politik“, zumindest, wenn es um die Gegenwart geht. Im ersten Weltkrieg habe der überzeugte Nationalist und Monarchist Steiner versucht, das Vorgehen des Deutschen Reiches zu verteidigen und schließlich den Vielvölkerstaat Österreich zu retten. Erst nach der Revolution habe er sich auch der Tagespolitik nicht verweigert, was ihm hoch anzurechnen sei. Seine Dreigliederungsidee habe er jedoch „ohne große Vorkenntnisse“ entwickelt, nämlich als Esoteriker. Zander beharrt auf der These: “Dreigliederung war im Kern die Herrschaft der Eingeweihten.“ Dass diese schon 2007 von Christoph Strawe wiederlegt wurde, erwähnt er nicht. Als Steiner in die Wirtschaft einstieg, habe er „ein fürchterliches Desaster“ erlebt.
Die Dreigliederungsidee sei dann um 1968 wieder „wachgeküsst“ worden von der Szene um den Achberger Kreis“. Ökologische, aber auch konservative und nationale Aktivisten, waren damals auf der Suche nach einem „dritten Weg“ zwischen Kommunismus und Kapitalismus, „darunter Anthroposophen“. In der Frühphase der Grünen waren Linke und Rechte dabei. Die Anthroposophen, darunter auch Joseph Beuys, seien aber bei den Grünen wegen ihrer elitären Esoterik „abgeblitzt“.
Vermutlich habe auch Steiners Antiparlamentarismus nachgewirkt, der noch heute bei vielen Anthroposophen zu finden sei in Form eines generellen Misstrauens gegen Parteiendemokratie. Wenn heute eine kleine Gruppe für direkte (Basis-)Demokratie eintrete („Omnibus“), sei das ein Aufspringen auf einen Zug. Auch die Aktion ELIANT impliziere Kritik an der repäsentativen Demokratie.
Zander rätselt: wie können Anhänger Steiners mit ihrer elitären Erkenntnis Volksvertreter sein? Er sieht darin eine Lossagung von den Wurzeln: man lese heute Steiner selektiv, ziehe den Individualisten Steiner dem theosophischen Steiner vor und schiebe überhaupt Unpassendes an den Rand. Eine Anpassung an den Zeitgeist?
Dass Anthroposophen in der konkreten Politik scheitern, zeigt Zander am Beispiel des georgischen Präsident Gamsachurdia in den neunziger Jahren. Es sei kein Zufall, dass „ein anthroposophischer Herrscher einen autoritären Staat kreiere“, betont Zander. Am Beispiel von anthroposophischen „Identitären“ wie Caroline Sommerfeld mutmaßt Zander, es könne so etwas wie ein identitäres Netzwerk in der anthroposophischen Bewegung geben.
Zur Stabilisierung des anthroposophischen Milieus seien besonders Stiftungen aktiv. Er zählt 16 Stiftungen und 2 Unternehmen auf, welche das Goetheanum am Leben erhalten. Sie förderten auch die Alanus Hochschule und die Universität Witten-Herdecke. „Unauffällig, aber sehr effektiv“ arbeite das Milliardenvermögen einer Baslerin, die ihre Nähe zur Anthroposophie verschweige.
Zander gibt selbst zu: vieles bleibe auch hier in der Grauzone der Vermutungen. Auch bei der Idee eines Grundeinkommen gäbe es keine geschlossenen Reihen. Die anthroposophische Soziallehre, wie sie Steiner konzipiert habe, sei in der Praxis gescheitert, schon weil die Theorie zu dürftig gewesen sei. Heute spiele sie außerhalb der Banken und der Waldorfschulen fast keine Rolle mehr.
Betagte Quellen
Irritierend wirken im Inhaltsverzeichnis Schlagworte, die man auf den ersten Blick nicht unbedingt mit Anthroposophie verbindet, wie etwa Vereinigte Staaten von Amerika, China oder Israel.
Hier steht meist die Verbreitung der Waldorfpädagogik in der entsprechenden Region im Vordergrund und im Fall China, in dem Zander ausnahmsweise richtig aktuelle Quellen herangezogen hat, ist der Text informativ und ausgewogen. Gleiches gilt für die USA oder auch Israel. Die Fragestellung Zanders speist sich bei diesen Kapiteln wie auch beim Stichwort Islam aus seinem religionswissenschaftlichen Interesse.
Wie sich die im Christentum beheimatete Anthroposophie in Regionen buchstabiert, in denen Islam, Judaismus oder Buddhismus vorherrschen und was dies für die Waldorfpädagogik bedeutet – mit dieser Frage ist Zander dann angesichts der weltweiten Verbreitung der Steinerschen Ideen heute doch noch auf der Höhe der Zeit angekommen. Für viele Kapitel, die sich aus ziemlich betagten Quellen speisen – besonders auffallend z.B. das Kapitel Öffentlichkeit mit dem Verweis auf die Jahrzehnte zurückliegenden juristischen Verfahren gegenüber Kritikern oder auch der Text über Waldorflehrerbildung – lässt sich das leider nicht sagen.
Mehr Recherche und/oder auch Nachfragen in diesen Bereichen und weniger Rückgriffe auf Prof. Zanders alte Zettelkästen hätten sein Kaleidoskop richtig interessant werden lassen.
END/nna/vog/nh
Literaturhinweis:
Helmut Zander: Die Anthroposophie. Rudolf Steiners Ideen zwischen Esoterik, Weleda, Demeter und Waldorfpädagogik. (Taschenbuch) Schöningh Paderborn, 1. Aufl. 2019, 240 S., 39.90 EUR
Bericht-Nr.: 190519-03DE Datum: 19. Mai 2019
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