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Afghanistan – ein „todsicheres“ Land

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By NNA Mitarbeiter

Das Abkommen zwischen der EU und Afghanistan über die Rücknahme von Flüchtlingen sowie die Finanzhilfen für das Regime ist hart kritisiert worden. Die Milliardenunterstützung bringe der Bevölkerung wenig.

BERLIN/LONDON (NNA) – In deutschen Großstädten wie Frankfurt, Hamburg oder Stuttgart kommt es an den Wochenenden derzeit immer wieder zu Protesten gegen die aktuelle Flüchtlingspolitik der Bundesregierung, die die Abschiebung einer großen Zahl von afghanischen Flüchtlingen vorsieht.

„Afghanistan ist todsicher“ war zum Beispiel das Motto einer Kundgebung im Oktober im Stuttgarter Schlossgarten, an der sich rund 1.400 Personen beteiligten.

Trotz der unsicheren Lage in Afghanistan sollen aus Deutschland mehr als 12.000 Afghanen dorthin abgeschoben werden. Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linkspartei hervor.

Hintergrund der Entwicklung ist das Abkommen zwischen der EU und der afghanischen Regierung, das auf der Afghanistan-Konferenz Anfang Oktober in Brüssel abgeschlossen wurde. Das Abkommen sieht vor, Afghanistan in den nächsten vier Jahren mit 15,2 Milliarden US Dollar zu unterstützen. Im Gegenzug verpflichtet sich die afghanische Regierung, 80.000 afghanische Flüchtlinge aus der EU zurückzunehmen.

Die Vereinbarung wurde von Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen hart kritisiert. „Die katastrophale Sicherheitssituation in Afghanistan sowie die desolate politische und ökonomische Lage gebieten es, afghanischen Flüchtlingen in Deutschland dauerhaft Schutz zu gewähren“, schreibt z.B. Pro Asyl.

Allein 2015 seien in Afghanistan mehr als 3.500 zivile Todesopfer zu beklagen – seit dem Ende der Taliban-Herrschaft 2001 seien nicht mehr so viele Menschen Opfer von Gewalttaten in Afghanistan geworden, heißt es dazu im Aufruf zur Stuttgarter Kundgebung.

Die Veranstalter sehen mindestens die Hälfte der schutzsuchenden Afghanen von Abschiebung bedroht: Bereits jetzt sei die Anerkennungsquote für afghanische Flüchtlinge auf 52,9% zurückgegangen. 2015 seien noch 78% der afghanischen Flüchtlinge anerkannt worden.

Korruption

Kritisiert von Seiten der Hilfsorganisationen wird auch der erneute Geldfluss in Milliardenhöhe an eine Regierung, die im Korruptions-Ranking von Transparency International auf dem dritten Platz hinter Nord-Korea und Somalia steht. Trotz der finanziellen Hilfen in Milliardenhöhe, die zwischen 2002 und 2013 aus dem Ausland in das Land geflossen sind, ist Afghanistan noch immer eines der ärmsten Länder der Welt, 40% der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze.

In einem Gutachten des Royal Institut of International Affairs (Chatham House) London, das von der Bertelsmannstiftung 2016 veröffentlicht worden ist, geht Autor Hameed Hakimi der Frage nach, wieso die Hilfen für Afghanistan so wenig für die Bevölkerung in dem Land bewirkt haben und was die internationale Gemeinschaft daraus für andere Herkunftsländer der Flüchtlinge wie z.B. Syrien lernen kann. Hakimi hat dafür auch Recherchen im Land selbst durchgeführt.

Wenn man von einer Politik der „übereilten Antworten“ auf die Flüchtlingsströme wegkommen wolle hin zu einem nachhaltigen Migrationsmanagement, sei es notwendig, den Ursachen der Fluchtbewegungen auf den Grund zu gehen – dafür sei Afghanistan ein lehrreiches Beispiel, schreibt Hakimi.

Von den 24,5 Millionen Flüchtlingen, die derzeit weltweit unterwegs sind, stellen die Afghanen mit 2,7 Millionen zusammen mit den Syrern mit 4,9 Millionen und den Somaliern mit 1,1 Millionen das größte Kontingent. Nach Informationen der UN werden bis 2018 rund 550.000 Afghanen in Europa ihre Anerkennung als Flüchtling beantragen. Es sei die steigende Unsicherheit im Land, verbunden mit dem Fehlen von Arbeitsmöglichkeiten und dem fehlenden Zugang zu Bildung, die die Menschen aus dem Land treibe.

Abhängigkeit

Hier stellt sich die Frage, warum die immense Finanzhilfen, die in den letzten Jahrzehnten in das Land am Hindukusch geflossen sind, diese Entwicklung nicht verhindern konnten. Wie Hakimi schreibt, haben allein die USA von 2002 bis zum Juni 2016 rund 115 Milliarden US-Dollar in Afghanistan investiert, 68,5 Milliarden Dollar davon in den Bereich Sicherheit.

„Eine unglaubliche Summe, die für eines der ärmsten und am wenigsten entwickelten Länder ausgegeben worden ist“, kommentiert der Autor. Hinzu kommen 2,5 Milliarden Euro, die das Land zwischen 2002 und 2013 von der EU erhalten hat, es profitiert außerdem von verschiedenen EU-Programmen für Asien, u.a. einem Programm für vertriebene Personen.

Hier weist Hakimi darauf hin, dass die ausländische Hilfe für Afghanistan seit 2001 zwar Veränderungen im Land bewirkt hat wie z.B. eine neue Verfassung oder Mitgliedschaft in der Welthandelsorganisation (WTO) und den Medien, die unter der Taliban-Herrschaft verboten waren. Inzwischen gebe es 40 Fernsehsender, Zugang zum Internet und mehr als 20 Millionen Handynutzer.

Trotzdem ist ein Versagen der internationalen Hilfe auf vielen Ebenen festzustellen, vor allem habe sie zu einer chronischen Abhängigkeit des Landes von dieser Hilfe geführt. Die Abhängigkeitsrate von Afghanistan ist mit 71% eine der höchsten in der Welt, nur 15 % seines Staatshaushalts bringt das Land selbst auf, der Rest wird gesponsort.

Verantwortlich für die derzeitige Situation ist nach den Recherchen Hakimis vor allem das Fehlen größerer Infrastrukturprojekte wie z.B. der Bau von Industrieparks oder Staudämmen zur Erzeugung von Elektrizität seit 2001 – Projekte, die das Potenzial gehabt hätten, Arbeitsplätze und Einkommensmöglichkeiten für die Bevölkerung zu schaffen.

Militarisierung

Kritik übt der Autor auch an der Militarisierung der Afghanistan-Hilfe der internationalen Gemeinschaft unter Führung der USA, einschließlich der EU-Länder. Die Doktrin der Counterinsurgency (COIN), nach der die Afghanistan-Allianz vorging, habe durch mangelnde Koordination im zivilen Bereich faktisch zu einer Dominanz der Militärs geführt. Unter COIN versteht man militärische Aktionen zur Niederschlagung von Aufständen, die begleitet werden von politischen, sozialen und wirtschaftlichen Aktivitäten zum Nutzen der Zivilbevölkerung, um diese für sich zu gewinnen.

Die Militarisierung der Hilfe habe auch dazu geführt, dass die afghanische Zivilbevölkerung Ziel von Attacken der Taliban geworden ist, da den Zivilisten die Zusammenarbeit mit fremden Militärmissionen zum Vorwurf gemacht worden sei.

Ein nachhaltiges Migrationsmanagement ist aus der Sicht des Autors auch angewiesen auf legale Wege der Einwanderung. Das Fehlen solcher legalen Möglichkeiten der Einreise für Flüchtlinge nach Europa habe zur Verbreitung von Schlepper- und Schleusernetzwerken beigetragen – einem „enormen, lukrativen und raffinierten Geschäftszweig“, der auch weiterhin dafür sorgen wird, dass die illegale Einwanderung nach Europa nicht zum Erliegen kommt.

Hoffnung auf bessere Lebenschancen

Neben den derzeit 40 aktiven Konflikten weltweit mit ihren Folgen für die Zivilbevölkerung trägt auch die Zusammensetzung der Weltbevölkerung zum Entstehen der Fluchtbewegungen bei. Von 1,8 Milliarden Menschen zwischen 18 und 24 Jahren leben 89% in Entwicklungsländern. Dieser Überhang an jungen Leuten, die sich vom Verlassen ihres Heimatlandes bessere Lebenschancen erhoffen, lasse auch in Zukunft ein Anhalten der weltweiten Mobilität erwarten, zitiert Hakimi die UNO.

Hinzukommt der Prozess der Urbanisierung, d.h. die wachsende Bedeutung der großen Städte. 20% aller Migranten lebten in den 20 größten Städten der Welt, so der World Migration Report. In Städten wie Paris, Frankfurt und Amsterdam ist bereits jeder vierte Bewohner in einem anderen Land geboren.

Mit Informationskampagnen in Afghanistan versucht die Bundesregierung derzeit, weiter junge Afghanen vom Verlassen ihrer Heimat abzuhalten und sich auf den unsicheren Weg der Schlepper und Schleuser zu begeben. Mit geringem Erfolg – urteilt Hakimi. Längst verfügen die Ausreisewilligen über eigene Kommunikationsmittel wie I-Phone, Skype und Whatsap. So können sie sich mit Verwandten und Bekannten in den Zielländern darüber auszutauschen, wie sie am besten in das Land ihrer Wahl gelangen und welche Chancen dort auf sie warten.

Flüchtlingsströme sind somit auch ein Ergebnis der Verbreitung der modernen Informationstechnologie.

END/nna/ung

Bericht-Nr.: 161124-04DE Datum: 24. November 2016

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Foto: Cornelie Unger-Leistner