Nachrichtenbeitrag

Wurde Steiners Lebensweg aus geistiger Sicht dargestellt oder instrumentalisiert?

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Von NNA-Korrespondent Wolfgang G. Vögele

Der bekannte Autor Peter Selg hat – im Nachgang zum Jubiliäum des 150.Geburtstags von Rudolf Steiner - jetzt auch eine Biographie des Begründers der Anthroposophie veröffentlicht. Es ist ein echtes „Opus magnum“ – drei Bände mit rund 2000 Seiten. Auch neue Dokumente sind dabei, die die letzten Lebensmonate erhellen. Verschiedene Autoren anthroposophischer Medien haben sich ausführlich mit diesem Werk befasst, mit geteilter Resonanz. NNA-Korrespondent Wolfgang G. Vögele berichtet.

MAINZ (NNA) – Als wenig zeitgemäß bewertet Ramon Brüll die neue Steiner-Biographie. Sein Artikel in der Märzausgabe der Zeitschrift „Info3“ trägt die Überschrift „Steiner auf der Siegessäule“. Brüll ist der Auffassung, Selg bemühe sich in der Biographie um die Restauration eines Heiligenbildes: „Der Doktor steht wieder dort, wo er hingehört – auf seinem Sockel.“

Diejenigen Anthroposophen, für die Steiner immer schon unfehlbar, seine Arbeit widerspruchs- und sein Leben tadellos gewesen sei, würden über das Erscheinen der drei Bände jubeln, meint Brüll. Im Kulturleben, im Wissenschaftsbetrieb, in den Feuilletons der ernstzunehmenden Medien sei aber heute (wie schon im vorigen Jahrhundert) kein Platz für einen Heiligen, und wenn einer als solcher vorgeführt werde, erscheine er schlicht unglaubwürdig. Mit der Veröffentlichung seiner „Lebens- und Werkgeschichte“, so der Untertitel, disqualifiziere sich Selg als Wissenschaftler. Was noch schlimmer sei – die Biographie schade der Akzeptanz Rudolf Steiners in der Öffentlichkeit.

Ob es um die Ambivalenz Steiners zum Judentum gehe oder auch die Aussagen Steiners, die aus heutiger Sicht andere Ethnien diskriminieren: Nicht einmal als Fragestellung habe sich Selg dieser Themen angenommen. So habe der Autor jede Klippe elegant umschifft, die das idealisierte Steinerbild, oder, wie er es nennt, die „innere Kontinuität einer unvergleichlichen Lebensarbeit“ ankratzen könnte. Dazu passe auch, dass die „rätselhafte Verehelichung Rudolf Steiners mit seiner Hauswirtin Anna Eunike ebenso wenig auffindbar“ sei wie die Entfremdung der beiden voneinander, als Steiner sich mit theosophischen Kreisen und insbesondere mit Marie von Sivers verbunden habe.

Aber auch methodologische Fehler sieht der Rezensent in der Biographie: „Ein Personenregister fehlt. Das Inhaltsverzeichnis ist extrem grobmaschig und wenig hilfreich, wenn die Leser konkreten Fragestellungen nachgehen wollen“. Anstelle des Literaturverzeichnisses finde sich nur eine Auflistung der Bände der Rudolf Steiner Gesamtausgabe. Damit erfülle das Werk nicht einmal formal wissenschaftliche Kriterien und bleibe sehr weit hinter dem Stand der Diskussion über die Bedeutung des Gründers der Anthroposophie zurück. Selg – so Brüll abschließend – habe mit der Biographie keinen Beitrag „für die Zukunft der anthroposophischen Bewegung“ geleistet, sondern dieser eher einen „Bärendienst“ erwiesen.

Lob für Selgs „Opus magnum“ kommt dagegen von Lorenzo Ravagli. In seinem „anthroblog“ (März 2013) ist er sich mit Selg einig, dass es höchste Zeit gewesen sei, den „deformierten“ Bildern von Rudolf Steiner, wie sie die Biographen Prof. Helmut Zander, Prof. Heiner Ulrich und Marion Gebhardt anlässlich des Steiner-Jubiläumsjahrs bei renommierten Verlagen herausgebracht hatten, etwas entgegenzusetzen, nämlich eine „geistgemäße“ Lebens- und Werkgeschichte.

Gegen den Biographen Zander fährt Ravagli bei dieser Gelegenheit wieder schweres rhetorisches Geschütz auf, indem er seine Arbeit als „pseudohistoriographisches Machwerk“, oder „Abgrund der Unphilosophie“ bezeichnet. Die „Inhaltsleere“ seiner Biographie habe Zander durch „Kolportage und Skandalisierung“ verschleiert. Ravagli sieht hier eine heilende Wirkung gegenüber der „Pathologie“ Zanders, die Selg durch die subtile Wahrnehmung von Rudolf Steiner erziele.

Steiners Lebenwerk sei ein Kampf gegen die alten Mächte der Finsternis gewesen, die die Auslöschung seiner christozentrischen Bewegung beabsichtigten. Ravagli spricht von einer „unheiligen Allianz“ kirchlicher, völkischer und linker Kreise gegen diejenige Strömung, die den Untergang des Abendlandes „hätte verhindern können“. Äußerlich hätten die Gegenmächte eine Zeitlang gesiegt, sie seien aber noch immer aktiv. Dem setzt Ravalgli einen beschwörenden Schluss gegenüber: Steiners Leben dauere fort „bis ans Ende der Zeiten“, weil es aus der Kraft des Auferstandenen lebe, „uns allen zum Vorbild und Ansporn“.

Franz-Jürgen Römmeler bespricht in der Zeitschrift „Europäer“ vom März 2013, S. 26 ff die Biographie. Für Römmeler pendelt sie „zwischen Glanzlichtern (...) und stark interpretationsbedürftigen Passagen“. Selgs Werk besteche nicht durch Tiefe, sondern durch „schiere Breite“. Es sei eine Spezialität Selgs, „seitenlange Zitate unterschiedlicher Autoren zu verknüpfen“. Befremdlich findet der Rezensent, dass Selg zur Charakterisierung der Lage Mitteleuropas ausgerechnet Autoren zitiere, die ausgewiesene Kommunisten oder am „rechten Rand des politischen Spektrums“ angesiedelt seien wie Eric Hobsbawn und Klaus Hornung.

Ganz im Sinne des thematischen Schwerpunktes vieler Artikel im „Europäer“ handelt Römmeler Selgs Kapitel zum ersten Weltkrieg ausführlich ab. Hier berufe sich Selg auf zweifelhafte Quellen, schreibt er. So habe er z.B. wichtige Zitate aus den Studien von „Europäer“-Autor Thomas Meyer zu Hellmuth von Moltke unterschlagen. Selg habe versäumt, die Drahtzieher des 1. Weltkriegs deutlich zu benennen, wie dies Steiner in den „Zeitgeschichtlichen Betrachtungen“ getan habe: die anglo-amerikanischen Geheimgesellschaften.

Immer wieder greife Selg „das Verhalten der Mitglieder“ zu Steiner auf. Damit deutet Römmeler auf die „innere Gegnerschaft“ hin, die bis heute auch im „Europäer“ gern und oft als aktuelle Gefahr thematisiert wird. Römmeler wundert sich, warum vor dem Hintergrund dieses Anspruchs der weitere Gang der Dinge bezüglich Steiners Werk nach 1925 ausgeblendet bleibe. Offen bleibe auch die Frage, ob eine blosse Zitatenfolge solch hohen Ansprüchen gerecht werden könne. Selg bringe nichts genuin Neues, stattdessen zahllose Zitate Dritter. Römmeler bemängelt auch die lieblose Buchgestaltung: gewöhnungsbedürftiges Layout, fehlende Gliederung, keine Untertitel, kein Orts-, Sach- und Namensverzeichnis, keine Zeittafel und verwirrende Fußnoten. Das alles erschwere den Lesefluss und vermutlich auch den Verkauf eines immerhin 210 Franken teueren Werkes.

Wolf Ulrich Klünker bezeichnet seine Besprechung in der Wochenschrift „Das Goetheanum“ (Nr. 11/16.3.2013) ausdrücklich nicht als „Rezension“, weil es sich bei Selgs Werk um den „Versuch eines Monuments“ handele. Aufgabe eines Monuments sei es, zur Empfindung zu sprechen, deshalb gehe es ihm darum, auch nur seine ästhetischen Eindrücke wiederzugeben.

Sehr kritisch fragt Klünker: „Kann man einer Individualität gerecht werden, indem man ihre spirituellen und menschlichen Superlative von damals aufzählt und unterstreicht?“ Denn auch ein Steiner sei nicht über Irrungen und Scheitern erhaben gewesen. Schuld daran seien aber nicht nur – wie Selg es darstelle – eine feindliche Umwelt und unverständige Mitarbeiter gewesen. Weiter fragt sich Klünker: Besteht nicht die Gefahr, den „gegenwärtigen Steiner auf seine damalige Vergangenheit karmisch zu fixieren und damit ihm und der Anthroposophie die Zukunft zu verbauen?“

Klünker kritisiert neben formalen Äußerlichkeiten wie die Art des Drucks die häufige „Aneinanderreihung und Verschachtelung von Zitaten“, deren Länge teilweise mehrere Seiten umfasse. In dieser „Formlosigkeit“ komme das gestaltende Ich des Autors wenig zur Geltung. Insgesamt sei die Biographie von Selgs Intention beherrscht, dem Leser seine Begeisterung für Steiner aufzuzwingen. Von dieser Tendenz und dem damit verbundenen hohen moralischen Anspruch werde der Leser gleichsam erdrückt.

An den fehlenden Registern stört sich Küncker weniger. Diktion und Thematik dürfe man sich nicht „von den Gegnern vorschreiben lassen“. Klüncker sieht bei Selg – wie auch Brüll – eine Neigung zum Verschleiern. Etwa, indem er die Problematik von Steiners erster Ehe hinter der spirituellen Bedeutung von Anna Eunikes erstem Ehemann „verstecke.“ Farblos bleibe auch der Heilpädagogische Kurs, dessen Wurzeln (Steiners Beziehung zu Pauline und Otto Specht) man deutlicher hätte herausarbeiten können. Stattdessen habe Selg überflüssigerweise einen ganzen Pfingstvortrag Steiners abgedruckt.

Positiv empfindet Klüncker die Darstellung der letzten Lebensmonate Steiners, in denen Selg auch bisher unbekannte Dokumente heranziehe. Hier werde Geistiges menschlich sichtbar. An dieser Stelle dränge sich die Frage auf, wie es heute „in einem neuen menschlichen und geistigen Ansatz weitergehen“ könne.

Günter Röschert hat Selgs Biographie in „Die Drei“ rezensiert. (Juni 2013) Auch ihm fallen zunächst formale Mängel des Werks auf: fehlende Untergliederungen und Zwischen-überschriften, das sich auf GA-Bände beschränkende Literaturverzeichnis und das fehlende Personen- und Sachregister.

Röschert sieht den gedanklichen Hintergrund von Selgs Biographie in dessen Aktivitäten im Rahmen der anthroposophischen Gesellschaft. Seit etwa zehn Jahren kritisiere er die aktuellen Arbeitsverhältnisse in der Gesellschaft als Versagen gegenüber den Intentionen Steiners. Diese Argumentation setze er in der vorliegenden Werksgeschichte in gesteigertem Maß fort. Nicht zufällig ewähne er mehrmals Schillers „Malteser“-Fragment, in dem der Chor der älteren Ritter an die Ursprünge des Ordens erinnert und so eine Einigung der streitenden Parteien herbeiführt. Selg sehe sich selbst offenbar in einer ähnlichen Rolle. Vieles sei nur Behauptung ohne Textgrundlage, die eigentlichen Probleme in Steiners Biographie würden überspielt.

Ein inhaltlicher Bruch in der Christusfrage habe Selg zufolge nie vorgelegen. Röschert ist der Meinung, dass Selg „durch die Methode des Glättens, Beschönigens und Verschweigens [...] gegen Wahrheit und Tatsächlichkeit in biographischer Hinsicht verstoßen hat.“ (S. 71) Mit den christentumsfeindlichen Äußerungen Steiners komme Selg „nicht zurecht“.

Er folge „bei Steiner einem Leitbild linearer Entwicklung des ‚Eingeweihten’“. Röschert verweist auf den Christenverfolger Paulus und dessen Bekehrungserlebnis. „Wer versucht, einer grenzenlosen Devotionshaltung zuliebe das Negative in Steiners Leben und Werk auszudünnen, entfernt Steiners Leben aus der Wirklichkeit.“ (S. 71) Zustimmen kann Röschert dem Schluss des Werks mit der „zu Herzen gehenden Schilderung der letzten Lebensmonate Rudolf Steiners. Hier übertrifft Selg in der Dichte der Darstellung Christoph Lindenbergs zweibändige Biographie von 1997.“ (S. 72)

Doch Röscherts Fazit ist ernüchternd: Selgs Werk sei „nicht Ergebnis subjektiver/objektiver historiographischer Forschung, sondern ein Werk der Agitation: „Die drei Bände bedeuten einen einzigen Appell, mit der Verwirklichung der Anthroposophie neu zu beginnen.“ Röschert konzediert zwar, dass die Situation der heutigen Anthroposophischen Gesellschaft nicht den weitgespannten Erwartungen Steiners entspreche, wirft aber die Frage auf, ob Selgs „Aufruf im Gewande einer Biographie Steiners“ von den Verhältnissen her gerechtfertigt sei. Darf man den Lebensweg Steiners instrumentalisieren zur Durchsetzung gesellschaftsinterner Restaurierungsbestrebungen?

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Selgs Werk nicht den Diskurs mit Steiner-Kritikern sucht, sondern sich ausdrücklich an Insider wendet. In der Öffentlichkeit dürfte das Werk schon deshalb kaum rezipiert werden, weil es bewusst vom wissenschaftlichen Standard abweicht und mühsam zu lesen ist. Externe Kritiker werden sich durch Selgs Werk in ihrer These bestätigt fühlen, nach der Anthroposophie keine Wissenschaft, sondern eine Ersatzreligion ist.

END/nna/wgv/ung

Literaturhinweis: Peter Selg: Rudolf Steiner 1861-1925. Lebens-und Werkgeschichte. 3 Bände. 2148 Seiten, 220 Abbildungen. Arlesheim: Verlag des Ita Wegman Instituts, 2012. CHF 210.-; EUR 169.- Jeder Band auch einzeln erhältlich.

Bericht-Nr.: 130624-02DE Datum: 24. Juni 2013

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Geteilte Resonanz über die dreibändige Lebens- und Werkgeschichte Rudolf Steiners
Peter Selg