Nachrichtenbeitrag
Waldorfpädagogik und Dreigliederung zentrale Themen des neuen Steiner-Archiv-Magazins
Das neueste Archivmagazin befasst sich mit der Wirkungsgeschichte der Waldorfpägagogik wie auch mit der tragisch gescheiterten Dreigliederungsbewegung. Wolfgang G. Vögele hat es durchgeschaut.
DORNACH (NNA) – Die erfolgreiche Wirkungsgeschichte der Waldorfpägagogik wie auch mit die tragisch gescheiterte Dreigliederungsbewegung sind die Themen des neunten Dornacher Archivmagazins, das das Rudolf Steiner Archiv Ende 2019 herausgebracht hat.
Johannes Kiersch bilanziert die Entwicklung der Waldorfpädagogik in einem Essay, dessen Untertitel er in Anlehnung an ein Wort Schleiermachers formuliert: „Ein Überblick für die Gebildeten unter ihren Verächtern“. Er arbeitet das Spezifische von Steiners Erkenntnismethode heraus und nimmt die inneranthroposophischen und akademischen Diskussionen über Waldorfpädagogik in den Blick.
Esoterische Ausführungen Steiners hätten schon immer den unvermeidlichen Hohn materialistisch-positivistischer Kritiker (wie z.B. Peter Bierl) auf sich gezogen. „Hier scheiden sich die Geister“. Selten werde gefragt, wie es denn kommt, dass sich diese „krude Esoterik“ derart vielfältig im Leben bewährt.
Nach Steiners Tod seien seine Schüler „in sektenhafte Isolation“ geraten, in eine belagerte Festung, die Steiner selbst mit Sorge habe kommen sehen (GA 259, S. 565 u. 581). Dem Gespräch mit Andersdenkenden, auf das Steiner dringend gehofft habe, hätten sie sich weitgehend entzogen. Die Kritiker ihrerseits reagierten mit Ausgrenzung, mit Hohn und Spott, gemäß der „großen Erzählung“ vom Sieg der modernen Naturwissenschaften über den alten Aberglauben.
Gesprächsbedarf und Offenheit
Jeder, der sich mit Waldorfpädagogik befasst, sollte sich mit Steiners Wissenschaftsanspruch auseinandersetzen, fordert Kiersch. 1911 rechtfertigte Steiner seine übersinnliche Forschungsmethode auf einem philosophischen Kongress in Bologna (GA 35), was damals völlig unbeachtet geblieben sei. Heute sei es eher möglich, das Anliegen der Anthroposophie zu verstehen, weil mit der Erweiterung der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse sich auch der Wissenschaftsbegriff erweitert habe.
Ausführlich geht Kiersch auf das Verhältnis von Erziehungswissenschaft und Waldorfpädagogik ein, zwischen denen noch Gesprächsbedarf bestehe. Immerhin habe Heiner Ullrich festgestellt, dass sich die Waldorfschule vom Außenseiter zum Anführer der internationalen reformpädagogischen Schulbewegung entwickelt habe.
Wie zahlreiche Publikationen zeigten, zeichne sich seit den 1990er Jahren eine neue Offenheit von seiten der Erziehungswissenschaft ab, doch sei der Forschungsstand immer noch „relativ kümmerlich“. Der in Gang gekommene Dialog habe sich auf nebensächliche Fragen (Rassismus, Nähe zum Nationalsozialismus) beschränkt, während zentrale Fragen wie das Bemühen der Waldorfpädagogik um Erkenntniserweiterung durch Meditation umgangen worden seien. Dafür mitverantwortlich seien jene Vertreter der Waldorfschule, die allzu lange in einer orthodoxen „Gesinnungsgemeinschaft“ verharrt hätten.
In letzter Zeit hätten Wissenschaftler der Alanus-Hochschule, etwa Jost Schieren, dazu beigetragen, die Waldorfpädagogik selbstkritisch und ergebnisoffen zur Diskussion zu stellen. Auch die kritische Ausgabe von Steiners Schriften durch Christian Clement lasse auf eine neue Welle der Steiner-Rezeption hoffen. Kiersch bedauert, dass Wissenschaftler wie Ullrich und Zander zentrale Argumente Steiners zur Methode des übersinnlichen Forschens, wie er sie in seinem Bolognavortrag (1911) oder in seinem Buch Von Seelenrätseln (1917) dargelegt habe, ausgeblendet hätten. Kiersch hofft, dass die Waldorfpädagogik nicht mehr als Religion gesehen werde. Hans Scheuerl habe Steiner zwar in seine Klassiker der Pädagogik (1979) aufgenommen – das entsprechene Kapitel lieferte Christoph Lindenberg – doch stehe eine umfassende Würdigung Steiners als Pädagoge noch aus.
Dreigliederung
Zum Thema Dreigliederung dokumentiert Andrea Leubin anlässlich des neu erschienenen Bandes Die großen Fragen der Zeit und die anthroposophische Geist-Erkenntnis (GA 336) einige bisher unbeachtete Dreigliederungsvorträge Steiners in Süddeutschland und in der Schweiz mit ausführlichen und spannenden Pressestimmen sowie Briefen und Inseraten.
Nach einer zeitgeschichtlichen Einleitung folgt der dokumentarische Teil.
Hier ist es faszinierend, zu sehen, wie die Vorträge zustande kamen und wie sie von verschiedenen politischen Strömungen (von der USPD bis zu den Syndikalisten) wahrgenommen wurden. Vorbehalte gegenüber Steiner und seiner Position konnten zuweilen auch dazu führen, dass Parteifunktionäre im letzten Moment einen Steinervortrag absagten mit der Begründung, die Mitglieder müssten gegen fremde Einflüsse geschützt werden.
Andere fanden es banal, dass Steiner die „alten Schlager“ der französischen Revolution aufgreife. Vielfach wurde die Dreigliederung als utopistisch und undurchführbar erklärt. So meinte etwa ein Schulrektor, eine Selbstverwaltung der Schulen (ohne staatliche Kontrolle) würde zu anarchischen Zuständen führen. (S. 102). Steiner predige den „nacktesten Kommunismus“ (S. 104), das entmachtete deutsche Volk sei nicht in der Lage, „das Versuchskaninchen für derartig gewagte Experimente abzugeben“ (S. 105).
Die Weimarer Republik habe keine neuen sozialen Ideen hervorgebracht, behauptete einer der Väter der „sozialen Marktwirtschaft“, Ludwig Erhard, rückblickend im Jahre 1963 (Günter Gaus im Gespräch mit Ludwig Erhard, 10.04.1963 (YouTube)). Etwas klarer sah das Adolf Hitler. Dieser hatte die Dreigliederung, die ihm gefährlich werden konnte, schon 1920 in einer Parteiversammlung dezidiert mit den Worten abgelehnt : „Wir wollen keine neuen Ideen.“ (Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte. Dokumentation: Hitler als Parteiredner im Jahre 1920. Berichte des Münchener Polizei-Nachrichtendienstes (PND), 1963, S. 302 f.)
GA-Neuerscheinungen
Der Leiter des Rudolf Steiner Archivs, Dr. David Marc Hoffmann, berichtet im Magazin außerdem über den aktuellen Stand der Rudolf Steiner Gesamtausgabe. Von den noch ausstehenden 55 Bänden seien bisher 20 erschienen.
Neu erschienen sind Schriften zur Geschichte der anthroposophischen Bewegung und Gesellschaft 1902-1925 (GA 37), die öffentlichen Vorträge Das Innere der Natur und das Wesen der Menschenseele (GA 80b), drei Vortragsreihen aus den Jahren 1907-1909 Einführung in die Grundlagen der Theosophie (GA 111), der Stockholmer Vortragszyklus von 1910 Das Johannes-Evangelium und die drei anderen Evangelien (GA 117a), Ansprachen und Dokumente Zur Geschichte des Johannesbau-Vereins und des Goetheanum-Vereins, darunter der erstmals vollständige Weihetext zur Dornacher Grundsteinlegung 1913 (GA 252).
Unter den Neuerscheinungen ist besonders hervorzuheben der langerwartete Band GA 87 Antike Mysterien und Christentum, gehalten als Vortragszyklus „Das Christentum als mystische Tatsache“, dessen Herausgabe bisher hauptsächlich wegen seiner brüchigen Überlieferung gescheitert war. Nun ist – auch aufgrund neuer Editionsrichtlinien – die Redaktion für die Leser weitgehend transparent, wodurch die Veröffentlichung fragmentarischer und „unsicherer“ Mitschriften besser nachvollziehbar wird.
Für den umfangreichen Hinweise-Corpus im Anhang konnten erstmals die von Steiner verwendeten, in seiner Bibliothek befindlichen Bücher aus den Bereichen Mythologie, Theologie und Philosophie gewinnbringend ausgewertet werden. Damit werde deutlich, wie Steiner seine dann selbst neu begründete Christologie in einen historischen Gesamtkontext einbettete. Diese Vortragsreihe könne inhaltlich als ein bisher fehlender Baustein in der Grundlegung eines christlichen Mysterienverständnisses betrachtet werden, so die Herausgeber David Marc Hoffmann und Hans-Christian Zehnter.
Erwähnenswertes
Erwähnenswert sind auch eine Studienausgabe der ersten Stuttgarter Lehrerkurse von 1919 und die völlig neu bearbeiteten Lehrerkonferenzen (5. Auflage), überarbeitet und ergänzt von Christof Wiechert und Andrea Leubin. Im Vergleich mit den bisherigen Auflagen hat sich der Umfang der Konferenzen um etwa zehn Prozent erweitert.
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Archivmagazin Nr. 9/2019. Herausgegeben von David Marc Hoffmann, 1. Auflage 2019, 192 Seiten, zahlr. Abb., ca. € 22, 80 / CHF 24, 80. ISBN 978-3-7274-8209-0
Bericht-Nr.: 200320 Datum: 20. März 2020
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