Nachrichtenbeitrag
Vom Radikalen zum Normalen: Gemeinschaftliche Wohnformen haben ihren Nischenplatz in der Gesellschaft verlassen – Wohnprojektetag der Stiftung Trias
GELSENKIRCHEN (NNA) – Über 200 Personen kamen zum diesjährigen Wohnprojektetag der Stiftung Trias in den Wirtschaftspark in Gelsenkirchen. So wurde dokumentiert, dass gemeinschaftliches Wohnen heute bei vielen Menschen gefragt ist.
„Was vor 30 Jahren noch als radikal galt, ist für große Teile der Bevölkerung heute normal geworden: viele wünschen sich nicht nur eine einfache Wohnung, sondern suchen nach Wohnformen mit mehr Gemeinschaft und Nachbarschaft,“ heißt es in der Einladung von Trias zur Veranstaltung. Auch Wohnungsunternehmen und Kommunen fänden zunehmend Interesse an der Unterstützung von Baugruppen und gemeinschaftlichen Wohnprojekten.
Die Stiftung Trias sieht das gemeinschaftliche Wohnen als ihre Stiftungsaufgabe. Die Individualisierung der vergangenen Jahrzehnte habe unstreitbare Vorteile, z.B.persönliche Freiheiten seien geschaffen worden. Gleichzeitig habe sie aber auch zur Vereinzelung und teilweise Vereinsamung von Menschen geführt. Gefordert seien soziale Fähigkeiten, denn eine Gesellschaft, in der die Älteren immer mehr und die Jüngeren immer weniger würden, stelle hohe Herausforderungen, zu denen Pflege und Altersarmut gehörten.
Der Wohnprojektetag 2015 bot die Möglichkeit, Informationen zu den Wohnprojekten zu erhalten und Fragen zu stellen. Dabei konnte man die Erfahrung machen, dass Wohnprojekte mittlerweile sehr professionell geworden sind im sozialen und finanziellen Bereich. Offenkundig haben sie ihren gesellschaftlichen Nischenplatz verlassen. Im Gelsenkirchener Wirtschaftspark zeigte sich eine große Spannbreite von Projektkonzepten. Sie reichte von politisch engagierten Projekten mit eher radikalen Ideen bis hin zu Projekten, die einfach und unspektakulär sind, aber für ihre Bewohner offensichtlich gut funktionieren. Der Besucher fand sich so wieder zwischen Weltenrettern und Normalos, zwischen Leuchtturm und Insel, zwischen Raum-Unternehmen und Wohn-Gemeinschaft.
Wohnen ohne Diskriminierung
Einige Projekte sind themenspezifisch wie zum Beispiel: „Ein Haus für Alle“ in Soest. Es wurde initiiert vom Verein für Körper- und Mehrfachbehinderte und ist in der Aufbauphase. Entstehen sollen 30 Wohnungen in zwei Gebäuden für Familien, Ehepaare, und Singles, Alt und Jung, Menschen mit und ohne Behinderung. Das Projekt mit dem Ziel der Inklusion finanziert sich zum Teil frei, zum Teil über eine Genossenschaft. 40% der Bewohner sollen Menschen mit Behinderung sein. Einen Bericht vom Wohnprojekt lieferte Benedikt Ungerland lebendig und wortgewandt, dabei im Rollstuhl sitzend.
Das Projekt „villa anders“ in Köln gilt als das erste Mehrgenerationen-Wohnprojekt für Homo-, Bi-, Trans- sowie Heterosexuelle in Deutschland. Georg Roth von Rubikon, dem Beratungszentrum für ältere Lesben und Schwule berichtete, wie diskriminiert diese Gesellschaftsgruppen vor Jahrzehnten lebten, ein verstecktes Leben, oft im Rückzug.
So entstand der Gedanke des „Miteinander Lebens in lesbisch-schwuler Gemeinschaft“, das eine Art Schutzraum bieten und ein selbstbestimmtes, diskriminierungsfreies Wohnen ermöglichen soll. Zu den geförderten und frei finanzierten 34 Wohnungen zwischen 38 und 73 qm gehören Gemeinschaftsräume, Terrasse und der Innenhof/Garten.
Das Projekt Lisa entsteht in Wien im neuen Stadtteil der Seestadt Aspern: In einem neuen Gebäude wurde planerisch auf nachbarschaftliches Zusammenleben geachtet. Zahlreiche Gemeinschaftsflächen wie Werkstatt, Musikraum, Küche oder auch ein Indoorspielraum für Kinder stehen den Bewohnern zur Verfügung, das Projekt bietet Platz für 70 Erwachsene (22-90 Jahre) und 20 Kindern (bis zu 15 Jahren) sowie zwei Seniorengemeinschaften mit insgesamt 9 Personen und vier Plätze für Menschen mit Beeinträchtigungen.
Menschen aus insgesamt 12 Nationalitäten haben das Nutzungsrecht an den 52 Wohnungen. Die Kosten rechnen sich aus Mindesteigenmittel und monatlichen Kosten, Betriebskosten mit eingerechnet. Ein drei Meter breiter Balkon verbindet nach dem Konzept des Architekten die Wohnungen und Menschen je Stockwerk, sie sollen Nachbarschaftsleben ermöglichen.
Gemeinschaftlich leben
In Zürich waren es 50 Quartierbewohner selbst, die ihre Visionen 2006 in einem Workshop einbringen konnten. Nach der Vereins- und Genossenschaftsgründung begann der Neubau der Wohn- und Gewerbebesiedlung Kalkbreite, im Sommer 2014 konnten 250 Personen 55 Wohnungen beziehen – Singles, Paare und Familien. Die Wohnungsgröße liegt zwischen Ein-Zimmer-Wohnungen mit 29 bis 56 qm bis hin zu 13 -17-Zimmer Wohnungen mit 222 bis 412 qm.
Ein Beispiel ist ein Großhaushalt mit 20 Wohnungen und 50 Bewohnern mit Großküche und gemeinschaftlichem Ess- und Wohnraum. Die Monatsmieten mit ca. 20 CHF pro qm sind zwar hoch, allerdings braucht man keinen großen Raum zum eigenen Bedarf, da viele Aktivitäten in gemeinschaftlichen Räumen stattfinden. So gibt es nutzungsoffene „Box-Räume“ in den Wohngeschossen zur Nutzung durch Bewohner, aktuell sind es ein Malatelier, ein Nähatelier, einen Raum für Stille und ein Fitnessraum. Weitere durch die Bewohner organisierte Räume sind die Bibliothek, eine Werkstatt, ein Jugendraum, ein Musikraum und die Sauna. Einmal im Monat tagt der „Gemeinderat“ des Projekts als Vollversammlung aller Bewohner und Gewerbetreibenden.
Im 1. und 2. Geschoß von Kalkbreite befinden sich insgesamt 5.000qm Nutzungsfläche für Läden, Kulturräume, Gastronomie, Büros und Ateliers in der Größe von 25 bis 900 qm.
Das Gebäude entstand über der Tramabstellanlage der Verkehrsbetriebe Zürich, die jetzt im Gebäude integriert ist. Der rund 2500 qm große Hof auf dem Tramhallendach wird jetzt genutzt als Begegnungsort für Quartier + Genossenschaftler, da gibt es sowohl lauschige, ruhige Nischen als auch offene, helle Sonnenterrassen und Außenräume mit verschiedenen Aufenthaltsqualitäten. Das große Projekt mit einem Finanzvolumen von 63,5 Millionen CHF hat schon ein nachfolgendes Projekt in Zürich, das derzeit der Planung ist.
Luxus neugefasst
Ganz anders schildert Hannes Heise das Leben auf dem Wagenplatz Scherbelburg, d.h. im Bauwagen zwischen Kleingärten und Bahnlinie bei Leipzig. Das Grundstück wurde von der Deutschen Bahn gekauft, 14 baurechtliche Bauwagenplätze stehen dem Verein als Eigentümer zur Verfügung, bewohnt werden sie seit 2014 von 14 Erwachsenen und 5 Kindern. Die Leitidee des Projekts heißt „Gleichberechtigt wohnen, nachhaltig leben, ökologisch handeln. Im Luxus.“ Mit Luxus ist Verzicht gemeint, er bringe an anderer Stelle Luxus, z.B. Unabhängigkeit und Zeitvolumen.
Die Mieten sind sehr gering, jährlich findet eine Bietrunde statt, bei der jeder auf einen Zettel schreibt, was er/sie monatlich an Miete zahlen möchte. Kommt der nötige Gesamtbetrag nicht zustande, wird das Verfahren bis zu zwei Mal wiederholt. Mittlerweile sind 25 Bauwagen und eine Halle vorhanden. Es gibt einen Gemeinschaftswagen als Küche, ein Aufenthaltsraum mit Telefon, ein Badehäuschen mit Badewanne, Dusche und Waschmaschine sind im Bau.
Nutzen was vorhanden ist
Das Klushuizen Projekt, derzeit in Rotterdam, Amsterdam, Den Haag und Utrecht funktioniert wieder ganz anders, es ist ein Beispiel städtischer Quartiersentwicklung, seine Übertragbarkeit auf Nordrhein-Westfalen wird gerade geprüft. Vernachlässigte Häuser, deren Sanierung für die Eigentümer eine zu große Belastung darstellt, werden von der Stadt aufgekauft und in unsaniertem Zustand zu günstigen Konditionen weiterverkauft an Menschen, die sich im Gegenzug verpflichten, die Wohnungen zu renovieren und drei Jahre lang selbst zu bewohnen.
Joost Woertmann kaufte eines der Häuser als Architekturstudent und erklärte es zu seinem Lehrstück. Das Beste an den Klushuizen seien die netten Menschen, die ihr Quartier wirklich verändern, berichtet er. Als Nebenprojekte, nachdem die Häuser saniert waren, wurden Grünräume in Stand gesetzt und Straßenfeste gefeiert. Das System ist nur dort eingesetzt worden, wo die Problemgebäude von den Kommunen nicht getragen werden konnten. In Rotterdam z.B. sind dadurch kaum noch Schrottimmobilien verfügbar, weil 500 Wohnungen in 10 Jahren zu 246 Klushuizen umgebaut worden sind.
Ein weiteres Projekt befindet sich im ländlichen Bereich: Schloss Tempelhof in Kreßberg in Baden-Württemberg war ein verlassenes Dorf, erzählt Agnes Schuster, die von der ersten Stunde dabei war. „Das Nachhaltigste ist, das zu nutzen, was vorhanden ist“, erklärt sie. Im Dezember 2010 haben die Initiatoren das alleinstehende Dorf mit Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten für 150-200 Menschen gekauft., das insgesamt 31 Hektar Boden umfasst, bestehend aus vier Hektar mit zahlreichen Gebäuden und 27 Hektar Agrarland. Bis jetzt lebt dort eine Gemeinschaft von 140 Menschen (100 Erwachsene und 40 Kinder).
Solidarisches wirtschaften
Der Boden des Projekts wird nach dem Prinzip der solidarischen Landwirtschaft bearbeitet. Im Ackerbau und der Gärtnerei wird zum Eigenbedarf und zum Verkauf gewirtschaftet, eine große Ziegenherde, Schafe, Hühner und Bienen gehören dazu. Die Werkstätten arbeiten konsequent ökologisch. D.h. es wird langlebig, regional und mit Liebe von Hand gefertigt, betont das Projekt in seiner Präsentation.
Tempelhof hat eine Mehrzweckhalle mit Bühne, Seminarräume, Gästezimmer und eine Zirkusschule für Kinder und Jugendliche. Eine Schule für freie Entfaltung als Reformschule ist entstanden, seit 2014/2015 als private Grund- und Werkrealschule mit derzeit 37 Kindern und Jugendlichen auch aus der Region. Mitarbeiten kann man am Tempelhof als Gasthelfer, gemeint ist mitleben, mitwirken und mitwerkeln, dies gilt auch für Familien. Seit diesem Jahr ist ein Schlosscafe eröffnet. Wer sich der Gemeinschaft anschließen will, lebt dort ein Jahr in Annäherung, danach entscheidet das Dorf, ob man aufgenommen wird.
Gemeinschaftsbildung
Projektmitgründerin Schuster erläutert, es sei ihr ein inneres Anliegen, die Menschen in gemeinschaftlichen Prozessen zu fördern – vom Ich zum Du und zum Wir. Dazu werden von einer „Zukunftswerkstatt“ im Tempelhof auch immer wieder Kurse zur Gemeinschaftsbildung angeboten. Die Arbeit am „großen Wandeln“ basiere auf der Bereitschaft, sich in ein Feld der Verbundenheit zu begeben, wird im Flyer zum Kursangebot betont. So wird das im Projekt erarbeitete Wissen als erprobtes Instrument weitergegeben und unterstützt Menschen und Organisation auf dem Weg zu einer neuen Zusammenleben.
Alle Projekte sind keine ausschließliche Privatinvestition. Genossenschaften bilden einen gangbaren Weg, die Wohnbundberatung hilft dabei weiter, die Stiftung Trias und Banken, wie die GLS und Umweltbank unterstützen die Projekte. Nähere Informationen dazu konnten die Zuhörer beim Wohnprojektetag in den Pausen an Ständen im Foyer erfragen.
END/nna/wil
Bericht-Nr.: 151004-04DE Datum: 4. Oktober 2015
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