Nachrichtenbeitrag
Verbinden oder trennen? Ein kleiner Strich kann viel zerstören…
ESSAY | Das Thema der Grenze auf der Insel Irland war einer der Streitpunkte in den Brexit-Verhandlungen. NNA-Autor Matthew Barton hat erfahren, wie leicht vermeintlich überwundene Gräben wieder aufgerissen werden können.
LONDON (NNA) – Kann eine Freundschaft durch einen Irrtum zwischen zwei Formen von Zeichensetzung aus dem Gleichgewicht gebracht werden, auch wenn die Zeichen zwar verschieden sind, aber doch nicht Welten auseinanderliegen?
Stroke City in Irland (Nord) – mehr zu dieser Bezeichung unten – bekam diesen Beinamen nicht wegen der gesundheitlichen Folgen des Nordirlandkonflikts (Stroke heißt sowohl Bindestrich als auch Schlaganfall), was man ja meinen könnte. Es handelte sich vielmehr um einen witzigen oder auch ärgerlichen Beinamen, den ein lokaler Radiomoderator, Gerry Anderson eingeführt hat. Er verband auf diese Weise die beiden Namen für ein und denselben Platz als Ausweg auf die verfeindeten Empfindlichkeiten der beiden Communities in Doire oder Derry oder Derry-Londonderry.
Schon durch die Wahl, wie man den Namen des Ortes schreibt, an dem man lebt, konnte man seine Zugehörigkeit zu einer der Seiten des Konflikts kennzeichnen. Diejenigen Bewohner, die sich als Teil eines größeren Irland verstehen, belegten den London-Teil des Namens mit einem Bannstrahl. Die Großbritannientreuen Unionisten reagierten empfindlich auf das demonstrative Weglassen des Namensteils. Straßenschilder in der Gegend wurden oft entsprechend verwüstet, „London“ mit Spray unlesbar gemacht oder auf Schilder mit „Derry“ hinzugesprüht. Ein kanadischer Tourist, der ein Busticket kaufen wollte, bekam 2007 die verwirrende Auskunft, dass es keinen Ort mit Namen Derry gebe.
Minenfeld
In dieses Minenfeld setzte ein naiver Herausgeber einer kleinen Zeitschrift für Gedichte seinen Fuß. Ich hatte einen Text von einer Autorin aufgenommen, einer Freundin, die in dem Nordirland-Konflikt aufgewachsen war, ein Konflikt, unter dem sie schrecklich gelitten hatte. Man kann sogar sagen, dass sie auf dem Bindestrich zwischen Derry-Londonderry aufgewachsen war, da ihre Eltern den beiden verschiedenen Seiten des Konflikts angehörten. Seither hatte sie immer versucht, die beiden Seiten in ihr selbst zu versöhnen. Selbstverständlich hat sich die Lage auf diesem Scherbenfeld zunehmend verbessert und wenn Spannungen bleiben, rumoren sie eher ruhig unter der Oberfläche, während der Ausdruck des Guten und der Hoffnung darauf zaghaft blüht wie das Unkraut auf einem Trümmerfeld.
In unserem zerstrittenen Großbritannien denken wir ja, wir wüssten einiges über die Konflikte in Irland; aber in Wahrheit sind wir einiges Entfernt von ihrer Wirklichkeit und davon, wie ein winziger Strich in der Zeichensetzung einem um die Ohren fliegen kann. Es gab auch eine skurrile Vorgeschichte zu dem Missverständis, als ich meine Autorin zum Gegenlesen des Texts verpflichten wollte, sie aber ein Computerproblem hatte und mich zum Weitermachen aufforderte, da sie meiner Arbeit als Herausgeber vertraue.
Ihr Originalsatz las sich so: „Ich wuchs auf in einem Terrassenhaus in einer Sozialsiedlung in Derry-Londonderry, oder ‚Stroke-City‘, wie es Jahrzehnte nach meiner Kindheit genannt wurde, nachdem die unglaublich schrecklichen ‚Troubles‘ mehr oder weniger gestoppt worden waren.“ (Ausdruck für die Kämpfe im Nordirland-Konflikt)
Durch Fehler beim Schriftsatz oder auch eher wahrscheinlich durch ein Missverständnis von meiner Seite – ich erinnere mich nicht mehr – wurde der Satz am Ende mit einem Gedankenstrich versehen: „Ich wuchs auf in einem Terrassenhaus in einer Sozialsiedlung in Derry – Londonderry, oder ‚Stroke City‘, wie es … genannt wurde.“ Und so wurde die Bedeutung, wie ich später mit Schrecken feststellte, komplet verändert. Aus einer vereinenden Verbindung wurde eine schroffe Trennung und schlimmer noch, ein Vorrang wurde eingeräumt, welcher Name nun als wirkliche Bezeichnung der Stadt anzusehen sei. Ohne es zu wollen, hatte ich meine Autorin einer der beiden Seiten des Konflikts zugeordnet, dabei war es doch ihr Anliegen, eine Balance zwischen beiden Seiten herzustellen und zu heilen. Kein Wunder, dass sie aufgebracht war.
Ein ganzes Leben Traumata
Durch diesen kleinen, aber schlimmen Fehler habe ich plötzlich begriffen, in welchen Spannungen die Menschen an diesem Ort immer noch leben, welchen Eiertanz sie vollführen und wie schnell ein kleines Zeichen auf einem Blatt Papier Schmerz, Trauma, Trennung und Stress wieder zum Ausdruck bringen kann.
Es folgten Auseinandersetzungen, in denen sich die Missverständnisse noch vertieften. Ich verstand am Anfang gar nicht, worum sich die ganze Aufregung überhaupt drehte und verteidigte mich auch noch. Ich schäme mich zu gestehen, dass ich einen Tag brauchte, um alles zu verstehen. Der Fehler wurde noch verstärkt durch meine Darstellung in ihrer biografischen Notiz am Ende, dass die Autorin aus „Nordirland“ komme. Nein, sie wollte es so verstanden wissen, sie komme aus „Irland (Nord)“, eine Unterscheidung, die mir noch schleierhafter vorkam. Die Zeitschrift war versand und so blieb mir am Ende nichts anderes übrig, als mich auf der Facebook-Seite des Magazins für die Fehler zu entschuldigen. Aber der Schaden zwischen uns war angerichtet und es sieht so aus, als wenn es keinen leichten Weg zurück gibt.
Ich hatte eine Reaktion ausgelöst, die umso heftiger durch mein Unverständnis ausfiel, ich hatte an eine Art Wespennest gerührt von unterschwelligen Traumata, die ein ganzes Leben zurückreichen. Und wenn ich in solche tiefen Gewässer geraten kann allein durch ein naives Missverständnis, ist es da zu weit hergeholt, sich vorzustellen, wie das langsame Überwinden der Gegensätze zwischen den beiden Seiten sehr schnell zusammenbrechen kann in dem tolpatschigen Brexitverfahren und der leidigen Grenzfrage? Die „weiche“ Grenze war gerade dabei, in einen Bindestrich heilend zusammenzuwachsen, der beide Lager zusammenführt. Gnade uns Gott, wenn sie wieder aufgerissen wird in die Kluft eines Gedankenstriches.
END/nna/ung
Bericht-Nr.: 190404-03DE Datum: 4. April 2019
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