Nachrichtenbeitrag
Stell Dir vor, es ist Krieg in Europa – und es gibt keine Massenproteste...
ANALYSE | Bei den traditionellen Ostermärschen in diesem Jahr im Schatten des Ukrainekriegs bot die deutsche Friedensbewegung ein zerrissenes Bild und mobilisiert keine Massen: Was sind die Ursachen?
BONN (NNA) – Auch in diesem Jahr fanden in vielen deutschen Städten die traditionellen Ostermärsche der Friedensbewegung statt. Thema in diesem Jahr war der Krieg in der Ukraine – aber dazu findet die Friedensbewegung keinen gemeinsamen Nenner und die Demonstrationen bleiben eher klein, in den Nachrichten war immer nur von Hunderten oder gerade einmal 1.000 Teilnehmern die Rede. Zum Teil gab es – wie in Kiel – alternative Ostermärsche oder Gewerkschaften und Die Linke verzichteten ganz auf eine Teilnahme wie in Hamburg.
Strittig ist u.a. Ausmaß und Notwendigkeit der Waffenlieferungen an die Ukraine und die Frage, ob Friedensverhandlungen zwischen der Ukraine und Russland ohne Vorbedingungen geführt werden sollten. Die Rolle der NATO im Friedensprozess wird eher kritisch gesehen in den dezentral verfassten Aufrufen der Friedensbewegung.
„Stell Dir vor es ist Krieg – und keiner geht hin“ – war ein Slogan aus der Geschichte der Friedensbewegung, die überwiegend ein pazifistisches Grundverständnis hatte. „Stell Dir vor es ist Krieg – und nur ein paar Tausend Menschen protestieren dagegen“ – müsste es heute heißen. Woran liegt es, dass jetzt keine 300.000 Menschen – wie zu Zeiten des NATO-Doppelbeschlusses – in der Bundeshauptstadt für Frieden demonstrieren?
Im Forschungsjournal „Soziale Bewegungen“ vom Herbst 2022 haben Sozialwissenschaftler u.a. aus Leipzig und Bielefeld die Lage der Friedensbewegung in Zeiten des Ukrainekrieges analysiert.
Ihre Thesen gehen dahin, dass die Aufrufe der Ostermärsche, die die Waffenlieferungen an die Ukraine kritisieren, nicht mit der Mehrheitsmeinung der Deutschen übereinstimmen, die sich z.B. im ARD Deutschlandtrend überwiegend für diese Waffenlieferungen aussprechen. Außerdem habe die Vertrauenswürdigkeit der Friedensbewegung gelitten durch die Tatsache, dass nach der Annektion der Krim durch Russland 2014 Mahnwachen in vielen Städten durchgeführt worden seien, bei denen sich auch rechte politische Strömungen beteiligt hätten. Von daher stelle sich heute die Frage, wie vertrauenswürdig die Bewegung generell noch sei.
Neue Unübersichtlichkeit von Konflikten
Die Aufrufe zu den Ostermärschen seien zudem vielfach von einer Situationsanalyse geprägt, die vor allem dem Westen und der NATO maßgebliche Schuld am Ausbruch des Ukrainekrieges gäben, so Alexander Leistner vom Kulturwissenschaftlichen Institut der Universität Leipzig in seinem Beitrag „Wo steht die Friedensbewegung und was steht an?“ im Forschungsjournal (S.596 – 611).
Mit ihrer Fortschreibung friedenspolitischer Deutungsmuster aus den 1980er Jahren erreiche die traditionelle Friedensbewegung die Menschen nicht, die sich für den Frieden einsetzen wollten. Das Ende des Ost-West-Konflikts habe an die Stelle einer vergleichsweise einfachen Konfrontationskonstellation des Kalten Kriegs , wo ein Konsens gegen Aufrüstung und atomare Abschreckung vergleichsweise einfach herzustellen gewesen sei, eine neue Unübersichtlichkeit von Konflikten gesetzt.
Nicht thematisiert würden durch die Friedensbewegung außerdem auch die Erfahrungen der osteuropäischen Gesellschaften, ihre Gewaltgeschichte und ihr Sicherheitsbedürfnis hinsichtlich der Übergriffe Russlands. Auch fehle der Blick darauf, um welche Art von Krieg es sich handele: einen imperialen Unterwerfungskrieg, der die Schwelle zum Genozid überschritten habe dadurch, dass er den Unterschied zwischen Zivilisten und Soldaten auflöse und systematische Massaker als Mittel der Kriegsführung einsetze, schreibt Leistner (S. 607).
Eine größere Rolle z.B. bei den Protesten unmittelbar nach dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hätten denn auch andere Organisationen und Netzwerke gespielt wie Campact oder Fridays for Future.
Alexander Leistner sieht die Friedensbewegung in einem Dilemma: einerseits fühlt sie sich ihren pazifistischen Gründungsmythen verpflichtet, andererseits bleibt die Frage ungeklärt, ob es nicht Situationen geben kann, in denen gewaltfreie Mittel (wie Diplomatie) gescheitert sind und welche Alternativen es dann gibt. Ein gewaltfreies Selbstverständnis müsse sich diesem Dilemma stellen, wenn die Bewegung nicht in „dogmatischer Orthodoxie erstarren“ wolle. Die fehlende Bearbeitung dieses Dilemmas führe auch dazu, dass sich der Eindruck erhärte, der Friedensbewegung sei das Schicksal der Ukraine „schlicht egal“, weil das oben beschriebene Dilemma nur einseitig – eben in Richtung des pazifistischen Gewaltverzichts aufgelöst werde.
Der Wissenschaftler appelliert in seinem Aufsatz am Ende an die Friedensbewegung, sich diesen bewegungsinternen Herausforderungen zu stellen. Die Friedensbewegung werde gebraucht in einer Zeit, in der multiple Krisen sich verschränkten und die europäische Friedensordnung zerstört sei durch den Ukrainekrieg, außerdem Prozesse der Destabilisierung die Demokratien von innen her bedrohten, betont er.
„Ignoranz und Selbstbezogenheit“
Larissa Meier, Postdoc und Priska Daphi, Professorin für Konfliktsoziologie an der Universität Bielefeld kommen anhand der Analyse von Aufrufen der Ostermärsche im vergangenen Jahr zu dem Schluss, dass diese vor allem ihr traditionelles Klientel mobilisieren konnten. Die Ostermarschbewegung sei ein interessantes Beispiel dafür, wie eine Bewegung, deren Mitglieder über historisch gewachsene und tief verwurzelte Überzeugungen verfügten, zwar über Jahre hinweg ein Mobilisierungspotential aufrecht erhalten und abrufen könne. Sie tue sich jedoch schwer damit, ihre eigenen Forderungen und Weltbilder soweit zu aktualisieren und an aktuelle Ereignisse anzupassen, dass sie für eine breitere und jüngere Öffentlichkeit attraktiv bleibt. (S. 594)
Das Fazit einer Gesprächsrunde im Forschungsjournal auch mit jüngeren Teilnehmern und Vertretern und Vertreterinnen von Friedensorganisationen der Ukraine und aus Syrien fällt noch drastischer aus: die heutige Friedensbewegung sei eine „sehr deutsche, sehr weiße, eine sehr alte Bewegung“. (S. 639 – 652) Angemahnt werden mehr Diversität und mehr Gespräche mit den Ukrainern und Ukainerinnen über den Krieg. Außerdem ist die Rede von „Ignoranz und Selbstbezogenheit“ der Bewegung: nach dem Chemiewaffenangriff des Assad-Regimes in Syrien 2013 sei z.B. niemand auf die Straße gegangen, weil „diejenigen, die sterben keine Personen aus der westlichen Welt waren, sondern Araber:Innen.“
Friedensmärsche an Ostern gibt es in Deutschland seit 1960, sie richteten sich in der Vergangenheit gegen die atomare Aufrüstung und gegen die Frontenbildung im Kalten Krieg. Zwischen 1979 und 1983 konnte die Friedensbewegung in Deutschland Massenproteste gegen den sog. NATO-Doppelbeschluss mobilisieren, bei der legendären Demonstration im Hofgarten der damaligen Bundeshauptstadt Bonn am 10.Oktober 1981 versammelten sich 300.000 Menschen und forderten ein atomwaffenfreies Europa.
Seit 1989 koordiniert das Netzwerk Friedenskooperative die dezentral organisierten Ostermärsche, dabei wurde auch die Friedensbewegung der ehemaligen DDR integriert, die mit der Forderung nach Abrüstung immer auch das Eintreten für Menschenrechte verbunden hatte. Das Netzwerk umfasst eine große inhaltliche Bandbreite von regionalen Gruppen.
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Quellen:
https://www.tagesschau.de/inland/deutschlandtrend/deutschlandtrend-3313.html
https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/natodoppelbeschluss-200098
https://www.ndr.de/nachrichten/hamburg/Etwa-700-Menschen-nehmen-an-Hamburger-Ostermarsch-teil,ostermarsch468.html
https://www.fes.de/adsd50/hofgarten-demo
Literatur:
Die Friedensbewegung und der Krieg in Europa – eine Standortbestimmung. Forschungsjournal Soziale Bewegungen, Heft 4, November 2022, De Gruyter Verlag Oldenburg.
Meier, L/Daphni, P. (2022) „Friedensbewegung und Krieg : Warum konnte die Ostermarschbewegung kaum von der öffentlichen Empörung über den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine profitieren?“ In Forschungsjournal Soziale Bewegungen, aaO. S. 580–595.
Leistner, A. (2022) „Wo steht die Friedensbewegung und was steht an?“ In Forschungsjournal Soziale Bewegungen, aaO. S. 596–611.
Bericht-Nr.: 230514-03DE Datum: 14. Mai 2023
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