Nachrichtenbeitrag

„Sanfte Revolution“ auf der Goetheanumbühne

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Von NNA-Korrespondent Wolfgang G. Vögele

Die Neuinszenierung von Goethes „Faust“ am Goetheanum in Dornach wirkt befreiend, schreibt NNA-Korrespondent Wolfgang G. Vögele. Auch die Musik sei ein wichtiges Gestaltungselement.

DORNACH (NNA) – Nach zwölfjähriger Pause präsentierte die Goetheanumbühne während der Ostertage eine Neuinszenierung des ungekürzten „Faust“, die von vielen Besuchern als revolutionär und zugleich als befreiend erlebt wurde. Aber auch Kritik wurde geübt.

Insgesamt treten in Dornach 23 Eurythmistinnen und Eurythmisten auf, 18 Schauspielerinnen und Schauspieler, 10-12 Statisten, zwei Musiker plus ein Ensemble mit zehn Personen. Insgesamt waren rund 600 Rollen und Kostüme erforderlich. Die Produktionskosten von etwa sechs Millionen Franken werden durch Spenden, Stiftungen, Kartenverkauf und aus dem laufenden Haushalt gedeckt. Da es keine Subventionen gibt, bedeutet das Unternehmen immer einen Kraftakt. Die Goetheanumbühne rechnet mit 6000 Zuschauern.

Der Aufführung vorausgegangen war eine Pressekonferenz, bei der das neue Leitungsteam, bestehend aus Christian Peter, Margarethe Solstad und Andrea Pfaehler sein Regiekonzept vorstellte. Für Christian Peter ist Faust der immer wieder Scheiternde, der Neuanfänge wagt. Indem er alte Modelle über Bord wirft, bleibt er eine hochaktuelle Gestalt. So ist auch die Inszenierung ganz neu: Das Bühnenbild wurde vom früheren Ballast der Requisiten weitgehend befreit und der Musik wird ein breiter Spielraum eröffnet, in dem sich erstmals die ganze Bandbreite der Musikstile vom höfischen Tanz bis zum Rap entfalten kann.

Margarethe Solstad erinnerte daran, dass die ersten Szenen des Goetheanum-Faust zuerst (1915) durch die Eurythmie, nicht durch Schauspieler, dargestellt worden sind. In der neuen Inszenierung sind die Eurythmisten teils Schauspieler, teils auch Statisten. Es gehöre zu den Alleinstellungsmerkmalen der Goetheanumbühne, dass sie versuche, Übersinnliches, von dem das Faustdrama übervoll ist, sichtbar zu machen und dem Publikum näher bringen.

Herausforderungen meistern

Andrea Pfaehler meinte, dieses Projekt sei eine harte Nuss, von einem einzelnen Regisseur gar nicht zu bewältigen, daher sei ein Dreierteam sinvoll. Zur Dornacher Fausttradition gehörte zum einen das Prädikat „ungekürzt“ und zum andern die Eurythmie. Das passe ganz gut zu den „Verrücktheiten“ unserer Zeit, wie etwa Bunjee-Springen, Pilgern auf dem Jakobsweg, Lichtnahrung. Die Eigenheiten des großen Saales, bei dem im Zuschauerraum gute mit schlechten Akustiken wechseln, bedeuteten eine Herausforderung an die Schauspieler: alles müsse frontal gesprochen werden, um verständlich zu bleiben. Dafür musste eine neue Technik erarbeitet werden: Agieren und Sprechen waren zu trennen.

Das Bühnenbild von Roy Spahn ist bewusst beweglich und als begehbare Skulptur gestaltet. Kein Vorhang zwischen den Szenen, der Umbau wird offen sichtbar. Auf Requisiten wird fast ganz verzichtet, so wird das von Goethe vorgeschriebene „hohe, gotische Zimmer“ auf einen Stuhl reduziert, der leicht gotisch aussieht. Auch das Gretchenzimmer ist karg eingerichtet. Der Schauspieler wird nicht durch Requisiten unterstützt. Um so mehr ist die Choreographie gefragt, den Raum zu erobern.

Dass mehr Musik erklinge als bei früheren Inszenierungen, verdankt man Florian Volkmann, der alles neu komponiert bzw. arrangiert habe, war zu erfahren. Die Vielfalt zwischen U- und E-Musik habe bei den Proben auf alle Mitwirkenden befeuernd gewirkt. Es handelt sich ausschließlich um Live-Musik. Im I. Teil singen oder musizieren die Schauspieler teilweise selbst. Im zweiten Teil spielt eine relativ kleine Besetzung ( zwei Leute und mehr).

Die Musik solle anders als beim Film nicht nur stimmungsmäßige Untermalung bieten, sondern der Verdeutlichung der musikalischen Sprache Goethes dienen. Viele Regisseure der Gegenwart seien studierte Musiker, und Musik sei heute ohnehin integrativer Bestandteil des Schauspiels. Die Frage, ob 17 Stunden Sprechtheater das Publikum nicht abschreckt, wurde mit einem Hinweis auf die endlosen Filmstaffeln beantwortet, die das Fernsehpublikum auch konsumiere.

„Sanfte Revolution“

In der Helena-Szene des II. Teils war eine enge Kooperation zwischen Schauspielern und fünf Eurythmisten nötig; auch in der Szene, wo „Sorge“ und „Not“ auftreten. Oft spricht ein Schauspieler zur Eurythmie, wobei er über nichts hinweghuschen darf. Das mache eine Änderung seiner Gewohnheiten nötig.

Die Aktualitätsbezüge mancher Szenen („Krieg und Kriegsgeschrei“, die ökonomischen Aspekte in Faust 2) brauche man nicht extra herausstellen. Wichtiger sei es gewesen, für die zahlreichen mythologische Wesen neue Bilder zu finden. Werktreue sei ein Kampfbegriff, so Peter. Alles sei immer Interpretation. Goethes „Abschweifungen“ stellten ein besonderes Problem dar.

Kritisiert wurde auf der Pressekonferenz auch, dass der Anteil der äußerlichen Bühneneffekte zu stark gewesen sei. Christian Peter sprach von einem labilen Gleichgewicht zwischen innerlichen und mehr äußerlichen Szenen. Manche Zuschauer erlebten das Spiel auch als „zu schnell“. Die „Zueignung“ wurde als unecht, als Persiflage empfunden. Pfaehler gab zu, dass der Wechsel zwischen dem Außen und dem Innen sich manchmal zu rasch vollziehe. Dieses Problem könne aber behoben werden: „Wir haben noch Luft nach oben“. Ein Fragesteller empfand die Neuinszenierung im positiven Sinne als „sanfte Revolution“. Dem stimmten die Regisseure und die meisten Anwesenden zu.

Wie Friedrich Schiller mit seinem „Wilhelm Tell“ (1800) fast zu einem Schweizer Nationaldichter wurde, ist auch der Name Goethes seit dem Ersten Weltkrieg in besonderer Weise mit der Schweiz verbunden: hat doch Rudolf Steiner in Dornach seit 1915 einzelne Faust-Szenen inszeniert. Hier am Goetheanum fand 1938 unter der Leitung von Marie Steiner auch die weltweit erste Gesamtaufführung von Goethes Faust in ungekürzter Fassung statt. Seitdem gehört das jetzt zum 75. Mal stattfindende Faust-Festival zur Tradition des Kantons Solothurn und wird in der Touristikbranche beworben, vergleichbar den bayrischen Passionsspielen in Oberammergau.

Das heutige Faust-Publikum, längst nicht mehr nur aus Anhängern Steiners bestehend, nutzt die seltene Chance, das tiefgründige Werk als Ganzes zu erleben und nimmt dafür anthroposophische Sprachgestaltung und Bewegungskunst gerne in Kauf. Der Goethe-Forscher Steiner hat übrigens weder eine Deutungshoheit über Goethe beansprucht noch tyrannisch Regie geführt, getreu seiner sonstigen Arbeitsweise: „So ist einer seiner wesentlichen Darstellungsmethoden das ‚Charakterisieren’, das Beweglich-Halten der Begriffe, das Vermeiden fester Definitionen. Er empfiehlt seinen Zuhörern (und Lesern), eine Sache stets von verschiedenen Seiten her anzusehen und durchzuempfinden und nicht nur einen Standpunkt einzunehmen.“

Kritik

Regie und Darsteller des diesjährigen „Faust“ haben diese innere Beweglichkeit beherzigt und mit manchen lokalen Traditionen gebrochen. Was äußerlich vielleicht revolutionär wirkt, entspricht durchaus den Intentionen Goethes und Steiners, die im Künstlerischen immer neue Wege suchten. Steiners groteske Wort- und Sprachspiele, in denen er dem Dadaismus sehr nahe kam, sind leider nur wenigen Experten bekannt.

Auch die Besucher der Aufführung hatten ein großes Bedürfnis an Information. Ihnen wurde nach dem ersten Teil des Dramas Gelegenheit gegeben, Fragen zur Inszenierung zu stellen.

Scharfe Kritik war schon nach den Voraufführungen einiger Szenen zu vernehmen. Dem Team der Dramaturgen und Regisseure wurden umstürzlerische Absichten nachgesagt, so als wollten sie im Sinne von „Neubayreuth“ mit ehrwürdigen Traditionen brechen und die Bühne entrümpeln. Eine Besucherin äußerte die Befürchtung, mit der „neuen Richtung“ ginge die anthroposophische Auffassung des Faust allmählich verloren. Ein anderer Zuschauer verglich das äußere Spektakel gar mit „Disneyland“.

Kontroverse Urteile gab es auch hinsichtlich der Sprachgestaltung. Während manche die sprachliche Deutlichkeit vermissten, die in der letzten Inszenierung (2004 unter der Regie von Wilfried Hammacher) noch vorhanden gewesen sei, fanden andere, der Text sei noch nie so verständlich gewesen. Möglicherweise waren diese Urteile auch mitbedingt durch die sehr ungleiche Akustik des großen Saales.

Dass dieser nie vollständig besetzt war, mag verschiedene Ursachen haben: einige Zuschauer – die unter Vierzigjährigen waren in der Minderheit – hielten entweder den „Marathon“ nicht durch, andere waren schon nach den Kostproben der Voraufführungen abgeschreckt, wollten sich weitere Szenen nicht mehr zumuten. Andere wieder nahmen an parallel stattfindenden Vorträgen der Ostertagung teil.

Zeitgemäßes Theater

Der Dornacher „Faust“ hat sich von einer traditionellen Aufführungspraxis verabschiedet. Er lotet bewusst die Möglichkeiten eines freien, zeitgemäßem Regietheaters aus. Die Neuerungen tun weder Goethe noch seinem Interpreten Steiner Gewalt an. Wenn die neue Inszenierung dazu beiträgt, das Vorurteil vom „versteinerten Dornacher Bühnenstil“ abzubauen, wäre schon viel erreicht. Vor und hinter der Bühnenrampe ist Lernfähigkeit angesagt: „Wer fertig ist, dem ist nichts recht zu machen. Ein Werdender wird immer dankbar sein.“ (Faust I)

2016 sind 6 Gesamtaufführungen des Faust vorgesehen; die nächsten Aufführungen sind an Himmelfahrt und Pfingsten, die letztere auf fünf Tage verteilt.

In den Hauptrollen sind zu sehen: Bodo Bühling, Bernhard Glose, Andreas Heinrich, Christian Peter (Faust), Elena Conradt (Gretchen), Holger Giebel (Wagner), Urs Bihler, Maarten Güppertz (Mephisto), Nathalie Kux, Barbara Stuten, Katja Axe (Helena)

Rechtzeitig zur Premiere sind zwei benutzerfreundliche neue Bändchen mit Rudolf Steiners Faustinterpretationen (ein Band enthält nur Szenenkommentare) erschienen (siehe Literaturhinweise unten).

Zu einzelnen Szenen

Faust I
Die einleitende „Zueignung“ wurde von der Orgelempore aus gesprochen, der Chor „Christ ist erstanden“ wurde nach der mittelalterlichen Weise gesungen, begleitet von der Orgel.

In der ausgelassenen Szene von Auerbachs Keller erklingt Ragtime-Musik. Für die Zauberkünste lodern offene Flammen, wie überhaupt viel Pyrotechnik (und beim Auftritt größerer Gruppen viel Bühnennebel) zum Einsatz kam. Bernhard Glose verkörpert den jungen Faust mit beherrschter jugendlicher Leidenschaft; Elena Conradt tritt als Gretchen mit der nötigen Naivität auf und beeindruckt mit gesanglicher Treffsicherheit (Lied vom König in Thule). Katja Axe (die frühere Darstellerin des Gretchen) zeigt als Marthe eine deutliche stimmliche Weiterentwicklung; Boris Sirdey gibt den Valentin als sympathische Gestalt. Wenn er leise die Marseillaise anstimmt, bevor er tödlich verwundet zusammenbricht, ist das zwar keine Regieanweisung Goethes, passt aber in das „revolutionäre“ musikalischen Gesamtkonzept.

Auch beim Hexensabbat der Walpurgisnacht geht es musikalisch sehr bunt zu: man erlebt Tanzeinlagen vom Menuett bis zum Rock’n’ Roll, es ertönen Episoden aus Katchaturjans furiosem „Säbeltanz“ und eine witzige Parodie von Fuciks Marsch „Einzug der Gladiatoren“. Didgeridoos werden geblasen und – einer der Tabubrüche – es wird auf der Bühne geraucht.

Im Walpurgisnachttraum (Hochzeit des Elfenkönigspaar Oberon und Titania) gehen die Anfangstakte des Mendelssohnschen Hochzeitsmarsches unvermittelt in einen flotten Tango über (getanzt von Oberon und Titania), was von hinreißender Wirkung ist. Der abschließende Sprechchor verabschiedet sich im Stil eines Vaudevilles im besten Musicalstil: „Wolkenzug und Nebelflor/Erhellen sich von oben/Luft im Laub und Wind im Rohr/ und alles ist zerstoben.“ Wie zur Bekräftigung wird dieser Chor nach der tragischen Kerkerszene wiederholt.

Faust II
Die Arielszene wirkt geschlossen und abgerundet (Eurythmie und Sprache, begleitet von einer feinfühlige Ensemblemusik in freier Atonalität) und wurde von den Besuchern sehr gelobt.

In der Karneval-Szene geht die barocke Musik (hohe Gestalten auf Stelzen oder fahrenden Gestellen) in südeuropäische Folklore über, dann wieder in einen höfischen Tanz.

Hier waren anstelle von Eurythmie nur choreographische Bewegungen gefragt, bis ins Tänzerische hinein. Vieles erscheint operettenhaft, eine Szene („Und ich trinke, trinke, trinke...“) erinnerte an die „Fledermaus“. Beim „Mummenschanz“ wurde erstmalig das Publikum miteinbezogen. Es „wippte“ tatsächlich im Rhythmus mit.

Die beiden Mephisto-Darsteller wurden immer wieder mit besonderem Applaus bedacht: beide glänzten durch enorme stimmliche Flexibilität, versprühten Ironie und Sarkasmus, schalteten souverän zwischen Clownerie und Ernst, trieben die Handlung immer wieder voran. Daneben wirkten die beiden Darsteller des alten Faust etwas blass. Hervorzuheben ist die klare Artikulation der Sprecherin des Homunculus (Isabell Fortagne-Dimitrova). Auch die echoartigen Wiederholungen beim Auftritt der „dreifachen Helena“ kamen der Verständlichkeit außerordentlich zugute.

Auf manche mag irritierend gewirkt haben, dass der Bote, der vom Verlauf der Schlacht kündet, mit dem Fahrrad auf die Bühne rollt oder dass verschiedene Mundarten zum Einsatz kamen: Der Narr spricht wienerisch, in der Kabirenszene spricht eine Darstellerin breites Sächsisch.

Fausts Grablegung durch die Lemuren mit den klappernden Skeletten wirkte schaurig-romantisch. Goethe hatte die Romantiker in ironischer Weise einmal als „Nacht- und Grabdichter“ (2. Teil, Regiebemerkung, Kaiserliche Pfalz) bezeichnet.

Am Schluss spricht Christian Peter als würdiger Doctor Marianus mit markanter, raumfüllender Stimme („Blicket auf zum Retterblick“), Er stellt nach Steiners Auslegung das höhere Ich des Faust dar. Am Ende langer, verdienter Applaus mit Bravos speziell für die Faust- und Mephisto-Darsteller und die Musiker.

END/nna/vog

Literaturhinweise
Martina Maria Sam: Rudolf Steiners Faust-Rezeption. Interpretationen und Inszenierungen als Vorbereitung der Welturaufführung des gesamten Goetheschen Faust 1938. Basel, Schwabe Verlag 2011.

Christiane Haid / Martina Maria Sam (Hg,): Rudolf Steiner über Goethes Faust. 2 Bände. Dornach, Verlag am Goetheanum 2016.

Bericht-Nr.: 160504-01DE Datum: 4. Mai 2016

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