Nachrichtenbeitrag

Prävention gegen Terroranschläge genauso wichtig wie Sicherheitskonzept

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Von NNA-Korrespondentin Cornelie Unger-Leistner

In einer weitreichenden Analyse mahnt der Experte Prof. Peter Neumann, Prävention genau so ernst zu nehmen, wie die Verstärkung der Sicherheit. Man müsse dort anfangen, wo Radikalisierung jetzt seine Wurzeln hat: in Europa.

BERLIN (NNA) – „9/11“ steht als Synonym für eine dramatische Veränderung – der Anschlag auf das World Trade Center am 9. September 2001 hat die Welt zu Beginn des 21. Jahrhunderts wie kaum ein anderes Ereignis geprägt. Eine der profundesten Analysen dazu liefert Prof. Peter R. Neumann, Professor für Sicherheitsstudien am King’s College London in seinem 2015 erschienenen Buch Die neuen Dschihadisten – IS, Europa und die nächste Welle des Terrorismus.

In seiner Analyse ermahnt er die westlichen Gesellschaften, Prävention genauso ernst zu nehmen wie die Verstärkung der inneren Sicherheit. Außerdem warnt er vor einem Generalverdacht gegen Muslime. Neumann leitet das International Centre for the Study of Radicalisation (ICSR), das weltweit bekannteste Forschungsinstitut zum Thema Radikalisierung und Terrorismus.

Die Staaten in Europa dürften nicht länger ignorieren, dass die „jungen Männer, die in den Videos des Islamischen Staats auftreten und in akzentfreiem Deutsch, Englisch oder Französisch von den Vorzügen des Kalifats reden, Produkte unserer Gesellschaft sind“. Ihre Radikalisierung habe sich nicht im syrischen Raqqa oder im irakischen Mossul ereignet, sondern in „Dinslaken, Portsmouth und Nantes“.

Wer die nächste Welle des Terrorismus bekämpfen wolle, müsse dort anfangen, wo ihre Wurzeln seien: hier in Europa. Mindestens 4.000 Westeuropäer habe der IS in seinen Bann gezogen, von denen einige nach ihrer Rückkehr zur „Elite der neuen Dschihadisten“ gehören werden, ist Neumann überzeugt.

Wissenschaftlichen Studien zufolge werden zwischen 75 und 89 Prozent der Rückkehrer nicht zu Terrorristen. Die verbleibenden 11 Prozent seien allerdings als „besonders gefährlich“ einzustufen, da sie gut vernetzt seien und ihr „Handwerk“ bei der „brutalsten Terrortruppe aller Zeiten“ gelernt hätten.

Es sei „nur eine von zwei Möglichkeiten“, auf die Bedrohung mit eine Vergrößerung und immer mehr Befugnissen der Sicherheitsbehörden zu reagieren: Die umgekehrte Herangehensweise – dafür zu sorgen, dass es weniger Fälle gibt, die auf dem Tisch der Sicherheitsbehörden landen. Bekämpfung und Prävention seien „zwei Seiten derselben Medaille“. Sie müssten von Politik und Gesellschaft mit „gleicher Aufmerksamkeit und Energie betrieben werden“, schreibt Neumann.

Ressourcen bündeln

Der Präventionsansatz setze sich international mehr und mehr durch, betont Neumann, US-Präsident Barrack Obama habe die Staaten beim G7-Gipfel im Juni 2015 aufgefordert, eigene Konzepte zu entwickeln. Deutschland sei eines der wenigen Länder, das sich einem nationalen Präventionsansatz bisher verweigere, ein entsprechend negativer Beschluss sei von der Innenministerkonferenz 2015 gefasst worden.

Das ist aus der Sicht Neumanns „fatal“, denn bei der Prävention von terroristischen Straftaten müssten „Ressourcen gebündelt, Verdoppelungen vermieden, aus Erfolgen (und Misserfolgen) gelernt sowie zwischen Ministerien und verschiedenen Regierungsebenen koordiniert“ werden. Genauso wichtig ist aus der Sicht Neumanns Transparenz des Konzepts und die Beteiligung von Nichtregierungsorgansationen und freien Trägern.

In keinem anderen Politikfeld wäre es akzeptabel, wenn „verschieden Akteure und Projekte mehr oder weniger auf sich allein gestellt – ohne Zusammenhang, gemeinsame Zielsetzung und Koordination – an einem wichtigen nationalen Ziel arbeiten.

Die Bausteine einer nationalen Strategie seien in den Ländern, die diese bisher entwickelt hätten, in der Regel ähnlich: Sie richteten sich an junge Leute, die zur ansprechbaren Zielgruppe der Extremisten gehörten: Jugendliche aus prekären Verhältnissen und sozial schwachen Gegenden.

Hier gelte es, dem Extremismus zuvorzukommen, die jungen Leute für das Thema zu sensibilisieren, vermeintliche Argumente auszuräumen, alternative Angebote zu machen, ihr Umfeld zu stärken und sie dadurch gegenüber Angeboten der Szene immun zu machen. Solche Aktivitäten müssten dort stattfinden, wo die Jugendlichen ihre Zeit verbringen: in der Schule, im Jugendzentrum, auf dem Sportplatz und im Internet, betont Prof. Neumann.

Deradikalisierung

Als zweiten Baustein sieht er Interventionen, bei denen es um Personen geht, die bereits radikalisiert sind und kurz davor stehen, Extremisten oder sogar Terrorristen zu werden. Ziel sei es, diese Entwicklung durch individuell zugeschnittene Maßnahmen zu stoppen. Ein Team aus Theologen, Psychologen, Lehrern und Sozialarbeitern sei dabei gefragt.

Auch in den Eltern sieht Neumann eine wichtige Zielgruppe, sie würden in Deutschland bereits gezielt angesprochen, allerdings seien die freien Träger, die in diesem Bereich arbeiten, „chronisch unterfinanziert“. Hinzu sollten Deradikalisierungs-und Exitprogramme kommen, die ebenfalls individuell zugeschnitten sein sollten.

Der systematische Einsatz solcher Programme für desillusionierte Rückkehrer aus dem Dschihad könne die Sicherheitsbehörden bei ihrer Arbeit mit den wirklich gefährlichen Kämpfern entlasten.

In seinem Buch legt Neumann eine umfassende Analyse der dschihadistischen Bewegung der Gegenwart vor, die seit 2011 „dramatisch gewachsen“ ist. Diese Entwicklung werde nicht ohne Konsequenzen für Europa bleiben.

Neumann sieht auch die Gefahr, dass sich die westlichen Gesellschaften durch Terroranschläge polarisieren und Parteien und Gruppen am rechten Rand immer mehr Zulauf erhalten, so dass das Zusammenleben von Menschen unterschiedlichen Glaubens und unterschiedlicher Herkunft in Europa immer schwieriger wird. So werde der neue Dschihadismus zu einer Herausforderung und Gefahr für die Demokratie und das europäische Gesellschaftmodell.

Neumann warnt in seinem Buch auch vor einem Generalverdacht gegen die Muslime in Europa, es seien nicht „die Muslime“, aus denen sich die neuen Dschihadisten rekrutierten, sondern eine „schrille, zahlenmäßig sehr kleine Minderheit: die Salafisten“.

Diskriminierung und harsche Repression funktioniere in den allermeisten Fällen nicht, sie radikalisiere lediglich die Nichtgewaltbereiten und „ist häufig genau das, was sich die Terroristen wünschen“. Pauschalurteile gegen „den Islam“ seien falsch und letztlich kontraproduktiv, denn gerade Muslime, die ihre Religion ernstnähmen, würden gebraucht, um die Dschihadisten zu bekämpfen.

Terrorismuswellen

Terrrorismus gehört nach der Analyse von Neumann von Anbeginn an zur Geschichte der modernen Gesellschaften. In einem historischen Rückblick zeichnet Neumann die verschiedenen Etappen der Entwicklung des Terrorismus nach, dabei verwendet er die Wellentheorie des US-Historikers David Rapoport.

Das gegenwärtige Stadium der „neuen Dschihadisten“ sieht er vor diesem Hintergrund als fünfte Welle. Terrorismus ereignet sich nach Neumanns Analyse immer im Kontext von sozialen und politischen Bewegungen, neueren Datums sei ein religiöser Hintergrund. Als Manko von Rapoports Analyse sieht Neumann die Nichteinbeziehung des rechtsradikalen Terrorismus wie er z.B. im Anschlag von Anders Breivik 2011 in Norwegen zum Ausdruck komme.

Als Vorläufer bzw. erste Welle benennt der Terrorismus-Experte die Anarchisten des 19. Jahrhunderts und der Jahrhundertwende, die zweite Welle bilden die kolonialen Befreiungsbewegungen nach dem 2. Weltkrieg. Sie setzten im Guerillakampf ebenfalls auf Anschläge und Gewalt, um die Kolonialmacht aus ihrem Land zu vertreiben.

Hier nennt Neumann den Algerienkrieg (1954-1962), in der die Befreiungsorganisation FLN die französische Kolonialmacht mit brutalen Terrormethoden bekämpfte, auf die die französische Armee mit ähnlich brutalen Maßnahmen reagierte, was heftige Kritik in Frankreich hervorrief und Algerien die Unabhängigkeit brachte. Durch ihren Erfolg wurde die FLN auch zum Vorbild für die palästinenische PLO. In diesen Kontext gehört auch die nordirische IRA, die in den 60er Jahren die britische Herrschaft mit Terroranschlägen erschüttern wollte .

Der nächsten, dritten Welle rechnet Neumann nach Rapoport die Terrorgruppen im Gefolge der 68er Studentenbewegung in den 70er und 80er Jahren zu, die (erfolglosen) Weathermen in den USA, die RAF mit drei Generationen von Anhängern in Deutschland sowie die Roten Brigaden in Italien.

Die Internationalisierung des Terrorismus und religiöse Begründung erfolgte erst mit der vierten Welle, sie entstand nach der Besetzung Afghanistans durch sowjetische Truppen 1979 und der Etablierung eines Regimes der Volksdemokratie nach sowjetischem Muster im überwiegend muslimischen Land. Der Widerstand der Taliban gegen dieses Regime wurde massiv von den USA, von Saudi-Arabien und Pakistan unterstützt, um Afghanistan nicht Teil des sowjetischen Einflussbereichs werden zu lassen.

Dschihad

Islamische Kämpfer aus vielen Ländern strömten als Rekruten des Dschihad nach Afghanistan – darunter auch der reiche Erbe Osama bin Laden – Trainingslager für die Kämpfer entstanden und auch der Märtyrerkult, da sich die Rekruten für die Sache des Islam opferten. Nach Schätzungen der Terrorismusforscher machten sich damals 20.000 Dschihadisten aus anderen Ländern auf den Weg nach Afghanistan.

Nach dem Rückzug der Sowjetunion 1989 rechneten sich die Dschihadisten dies als eigenen Erfolg zu – es entstand nach den Worten Neumanns der „Mythos Afghanistan“. In einem Gefecht 1987 hatten die Truppen der Dschihadisten unter Führung Bin Ladens sowjetische Spezialeinheiten jedoch nur ein einziges Mal besiegt.

Eine weitere Etappe dieser neuen, international angelegten Welle des Dschihadismus bildete der Bosnienkrieg, durch den europäische Muslime erstmals für die Sache des Dschihad mobilisiert wurden. Auch hier ging es um die Auseinandersetzung zwischen Muslimen und einem externen nicht-muslimischen Feind, den christlich-orthodoxen Serben.

Bin Ladens Al Qaida (übersetzt: die Basis) lieferte in diesen Jahren die Infrastruktur des Terrornetzwerkes, in den 90er Jahren gewährte ihm und seinen Mitstreitern der Sudan Unterschlupf. Bin Ladens Kampf richtete sich gegen den Westen, aber auch gegen die aus seiner Sicht korrupten Diktaturen der arabischen Welt wie Saudi-Arabien.

1998 verübten seine Anhänger Anschläge auf die US-Botschaften in Kenia und Tansania, bei denen mehr als 200 Menschen ums Leben kamen. Diese neue Strategie auch in anderen Ländern sei „zum Markenzeichen al-Qaidas“ geworden, schreibt Neumann. Der von Bin Laden organisierte Terroranschlag des 11. September stellte 2001 alle bis dahin getätigten Anschläge in den Schatten und markierten „den Höhepunkt in Bin Ladens ‚dschihadistischer Karriere’.“

Anschläge in Madrid (2004) und London (2005) folgten, eine lange Liste weiterer Projekt der Dschihadisten sei durch die Sicherheitsbehörden der betreffenden Länder verhindert worden.

Ab 2008 nutzte al Qaida auch das Internet, um Rekruten für den Dschihad anzuwerben und Anhänger zu Anschlägen aufzurufen. Trotz ihrer scheinbar rückwärtsgewandten Ideologie standen die Dschihadisen modernen Technologien immer aufgeschlossen gegenüber, Internetforen wurden zum wichtigsten Ort von Debatten über die Sache des Dschihad.

Die USA hatten auf die Anschläge des 11. September 2001 mit einem „globalen Krieg gegen den Terror“ reagiert, 2003 marschierten sie in den Irak ein. Das Land, das von Saddam Husein „mit extremer Brutalität“ zusammengehalten worden sei, sei innerhalb kürzester Zeit in seine innerislamisch-konfessionellen Bestandteile zerbrochen.

Islamischer Staat

Die vierte Welle des Terrorismus ist vor dem Hintergrund der Ausrufung des Islamischen Staates zu beschreiben. Neumann betont, der IS sei nicht „aus dem Nichts“ entstanden, er sei ein Produkt des Arabischen Frühlings sowie vor allem der dschihadistischen Bewegungen, die von Bin Laden und anderen in Afghanistan in den 1980er Jahren in Gang gesetzt worden seien. Im IS „kulminierten eine Reihe von Bewegungen und Entwicklungen, die sich seit Jahrzehnten angedeutet hatten.“

Doch gleichzeitig habe diese neue Welle auch einen eigenen Charakter, da es ihr gelungen sei, eine jüngere Generation zu mobilisieren, sie verfolge viel weitreichendere ideologische Ziele, schaffe neue Institutionen und verwende noch extremere Methoden.

Neumann bietet im zweiten Teil seines Buches eine genaue Analyse der Auslandskämpfer und ihrer Motive sowie der Strukturen des Islamischen Staates und seiner Ideologie. Auch die verschiedenen Führungspersonen der dschihadistischen Bewegung nach Bin Laden werden in ihrem Werdegang dargestellt, darunter auch Abu Bakr al-Baghdadi, der 2014 das Kalifat in dem vom IS eroberten Gebiet in Syrien ausgerufen hat. Seine Mitstreiter hatte al-Baghdadi im amerikanischen Gefangenenlager Bucca im Irak kennengelernt.

Es habe als „Rekrutierungszentrum und Schule für diejenigen (gedient), die wir heute als Terroristen bekämpfen“, zitiert Neumann einen US-Militär. Außerdem seien in der militärischen Leitung des IS auch langjährig erfahrene Dschihad-Kämpfer aus den anderen Regionen im Einsatz, wodurch sich seine Erfolge erklärten.

Die Gefährlichkeit der jüngsten und fünften Welle des Terrorismus ergibt sich aus der Analyse Neumanns nicht nur aus der Teilnahme der jungen Westeuropäer, die sich nicht mit ihren Herkunftsgesellschaften identifizierten, sondern auch aus der Konkurrenz der verschiedenen Terrororganisationen, den Resten von al Qaida, dem IS sowie z.B. Al Nusra, die mit spektakulären Aktionen ihre Schlagkraft unter Beweis stellen wollten.

Panikmache wie nach dem 11. September 2001 sei jedoch fehl am Platz, die Bedrohung sei „ernst aber nicht existenziell“, zitiert Neumann im Vorwort zu seinem Buch seinen Kollegen David Schanzer von der Duke-Universität in Durham (North Caroline/USA).

END/nna/ung

Literaturhinweis:
Peter R. Neumann (2015), Die neuen Dschihadisten – IS, Europa und die nächste Welle des Terrorismus, Berlin. ISBN 978-3-430-20203-9

 Bericht-Nr.: 160915-01DE Datum: 15. September 2016

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Die Bekämpfung des Terrorismus muss dort anfangen, wo seine Wurzeln liegen: in Europa. <br>Bild: Shutterstock / The World in HDR