Nachrichtenbeitrag

Perspektiven für palästinensische Kinder schaffen

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Von NNA-Chefkorrespondentin Cornelie Unger-Leistner

In Shatila in Beirut gibt es seit letzten Herbst eine Initiative auf Basis der Waldorfpädagogik – aber Elternarbeit ist fast genauso wichtig. Auch ein Waldorflehrer der Arabisch spricht wird dringend gesucht.

BEIRUT (NNA) – Waldorfinititiativen in der arabischen Welt sind selten. Umso bemerkenswerter ist die Initiative, die die Politikwissenschaftlerin Wiebke Eden-Fleig in Beirut gestartet hat. Seit dem vergangenen Herbst arbeitet im palästinensischen Flüchtlingslager Shatila ein Kindergarten auf waldorfpädagogischer Basis. NNA hat mit der Gründerin der Initiative gesprochen.

NNA: Frau Eden-Fleig, wie sind Sie dazu gekommen, sich gerade für diesen Ort zu engagieren?

Eden-Fleig: Nach dem Politikwissenschafts-Studium habe ich sechs Jahre lang für eine Stiftung in Beirut gearbeitet. Im Jahr 2001 kam ich zum ersten Mal mit einem Fotografen nach Shatila, er recherchierte über die zwölf palästinensischen Flüchtlingslager im Libanon. Das hat mich so beeindruckt, dass ich beschlossen habe, mich für Shatila zu engagieren.

NNA: Was hat Sie dort so beeindruckt?

Eden-Fleig: Shatila ist ein Flüchtlingslager, das sich verfestigt hat, seit knapp 70 Jahren leben Menschen dort. Das ein Quadratkilometer große Gebiet sollte ursprünglich 3000 Menschen beherbergen, heute leben dort 30.000. Die Palästinenser in Shatila haben einen merkwürdigen Zwischenstatus, sie haben keine Bürgerrechte im Libanon, viele haben keine Arbeit und die Kinder kaum eine Perspektive. Ich habe Freunde in Beirut, die in Shatila aufgewachsen sind, die Situation dort verbessert sich nicht. Durch die neuen Flüchtlingsströme aus Syrien, die jetzt gekommen sind, wird es noch voller. Die vielen neuen Armen machen die alten Armen noch ärmer: Es gibt mehr Lärm, mehr Müll und auch mehr Gewalt. Das ist ganz anstrengend für alle, aber besonders für die Kinder.

NNA: Wie kamen Sie auf die Idee mit dem Waldorfkindergarten?

Eden-Fleig: Meine eigenen Kinder gehen in Hamburg in eine Waldorfkita und die Waldorfschule, dadurch kam ich auf die Idee.

Es ist so, dass es wenige Kindergärten in den Flüchtlingslagern gibt und wenn, dann sitzen die Kinder schon mit drei Jahren da und pauken das Alphabet in Arabisch und Englisch. Danach gehen sie auf die UN-Schulen, die sind auch sehr traditionell von ihren Lernmethoden her. Sie haben eine hohe Quote an Schulabbrechern, weil die Kinder frustriert sind und die Lust am Lernen verloren haben durch diesen frühen Einstieg. Wir mussten die Eltern in Shatila auch davon überzeugen, dass es richtig ist, die Kinder „nur“ spielen zu lassen, das heißt , die Elternarbeit ist auch sehr wichtig. Wir konnten sie begeistern: Für das zweite Jahr haben wir schon eine Warteliste.

NNA: Und wann haben Sie genau angefangen mit ihrem Projekt?

Eden-Fleig: Wir haben im Oktober 2015 gestartet und das Projekt bewusst erstmal klein gehalten, drei Gruppen mit je zwölf Kindern. Wir wollten unsere Erzieherinnen auch nicht überfordern. Die Ausbildung der Erzieherinnen wurde unter anderem durch die IASWECE, der internationalen Vereinigung der Waldorfkindergärten, finanziert und wir werden auch von den Freunden der Erziehungkunst e.V. unterstützt. Das klappt bisher erstaunlich gut. Wir haben sechs ErzieherInnen und eine Leitung, im September wollen wir dann drei Gruppen mit je 20 Kindern haben. Im Prinzip ist das ein Projekt des Teams, also der Leute vor Ort.

NNA: Wie ist Ihre Rolle genau?

Eden-Fleig: Ich bin ungefähr einmal im Monat dort, ich habe ganz viel Glück mit dem Team. Ich unterstützte es vor allem durch Planung.

Wir sind gewohnt, alles zu planen, in Shatila ist das aber nicht so, dort schaut man nicht auf morgen, es ändert sich sowieso alles dauernd, weil politisch etwas passiert. Man ist vor allem damit beschäftigt zu überleben. Wo bekomme ich mein Essen her, wie kaufe ich Schuhe für die Kinder – das sind die Fragen, mit denen sich die Menschen dort befassen. Dabei ist ein Rhythmus besonders für die Kinder besonders wichtig.

NNA: Wie finanzieren Sie das ganze?

Eden-Fleig: Über UNICEF und die Kindernothilfe ist das Projekt für dieses Jahr abgesichert, ich schreibe schon fleißig Anträge und hoffe, dass es verlängert wird. Das Problem liegt gegenwärtig darin, dass die großen Organisationen ihre Prioritäten anders setzten, sie wollen viele Kinder erreichen, ein kleines Projekt hat es da schwer. Vor fünf Jahren begann der Bürgerkrieg in Syrien, seitdem fließt alles Geld in die Syrienhilfe. Wir sind auch noch keine anerkannte Waldorfeinrichtung, wir arbeiten auf der Basis der Waldorfpädagogik, werden aber von den Waldorforganisationen unterstützt. Ich habe jetzt auch einen Verein in Hamburg gegründet, um das Projekt zu unterstützen, im Libanon kann sich schwer eine internationale NGO registrieren lassen.

NNA: Wie sehen Sie die weitere Perspektive in Shatila?

Eden-Fleig: Mein Anliegen sind die Kinder. Sie sind immer mit Kriegen aufgewachsen, die Traumata werden von Generation zu Generation weitergereicht. 1982 war Shatila ja auch Schauplatz eines Massakers im libanesischen Bürgerkrieg – das ist alles unbearbeitet, was da erlebt worden ist. Hier hoffen wir, dass wir durch unsere Arbeit mit den Elementen der Waldorfpädagogik den Druck wenigstens ein bisschen lösen können, ohne dass man das jetzt als Therapie benennt. Die Elternarbeit ist mindestens so wichtig wie die Arbeit mit den Kindern, bedingt durch die ganze Lage dort gibt es auch viel Gewalt in den Familien.

NNA: In Deutschland ist es kaum bekannt, dass die palästinensischen Flüchtlinge schon so lange im Libanon sind und unter welchen Bedingungen sie dort leben.

Eden-Fleig: Das erlebe ich auch immer wieder, dass die Leute bei uns nichts darüber wissen. Die Palästinenser im Libanon haben keine Bürgerrechte, sie können auch rund 20 Berufe nicht ausüben, ich habe auch mitbekommen, dass ihre Pässe nicht „visierfähig“ sind, d.h. sie können auch nirgends hinreisen, weil man ihnen kein Visum ausstellen kann. D.h. sie leben in Shatila immer in Abhängigkeit von der Unterstützung der UN. Seit 15 Jahren arbeite ich jetzt dort und ich bemerke immer wieder, wie die Palästinenser von oben herab behandelt werden. Die öffentlichen Schulen nehmen die palästinensischen Schüler nur dann auf, wenn Platz ist. Und die UN-Schulen setzten den Besuch eines Kindergartens voraus. Das ist auch ein Grund für unseren Ansatzpunkt.

NNA: Womit kann man Ihnen denn von Deutschland aus helfen?

Eden-Fleig: Mit Spenden natürlich, aber wir bräuchten akut auch einen Waldorflehrer, der arabisch spricht. Bei unserem Konzept kamen wir um einen kleinen Kompromiss nicht herum, wir bereiten die Kinder, die fünf sind, eine Stunde am Tag auf die Schule vor, sie lernen das Alphabet und die Zahlen. Für das Konzept dieser Vorschulklasse bräuchten wir einen Lehrer.

NNA: Dann hoffen wir doch, dass dieser Lehrer sich vielleicht durch unseren Bericht findet – Frau Eden-Fleig, wir wünschen Ihnen alles Gute für Ihr Projekt, vor allem, dass auch der Traum von einer Waldorfschule für die palästinensischen Kinder eines Tages wahr wird.

END/nna/ung

Das Interview führte NNA-Chefkorrespondentin Cornelie Unger-Leistner

Bericht-Nr.: 160825-01DE Datum: 25. August 2016

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Der Kindergarten
auf Waldorfbasis
lässt die Kinder „nur“ spielen und verhindert so,
dass sie die Lust am Lernen verlieren.
Das Leben in Shatila ist anstrengend für alle, aber besonders für die Kinder.<br>Fotos: Maher Shehadeh