Nachrichtenbeitrag

Otto Scharmer über Society 4.0, Gegenwartskrise und evolutionäres Denken

 | 
Von Ronald Richter

BERLIN (NNA) – Zur 5. Versammlung der 22 Mitglieder der Global Alliance for Banking on Values (GABV) lud die GLS Bank Verantwortungsträger aus Unternehmen, Politik und Banken sowie Finanz- und Wirtschaftsexperten am 14. März 2013 ins Axica Kongress- und Tagungszentrum am Pariser Platz nach Berlin ein (siehe den ausführlichen NNA-Bericht: „‚Wir brauchen eine Kulturrevolution!‘ – GABV-Tagung in Berlin“, 8. April 2013). Auch Otto Scharmer, Autor der „Theorie U“, Wissenschaftler am MIT in den USA, Leiter des Presencing Institute und Vorsitzender des MIT-IDEAS-Programm, Berater von Regierungen und Unternehmen weltweit, war mit seinem Entwurf der Society 4.0 dabei. NNA befragte ihn im Anschluss an seinen Vortrag.

NNA: Otto Scharmer, können Sie uns bitte kurz erläutern, wie sich die Society 4.0 definiert?

Otto Scharmer: Die Society 4.0 ist eine Interpretation der Gegenwartskrise vor dem Hintergrund eines evolutionären Denkens, bei der die Evolution nicht nur auf der Ebene des Individuums stattfindet. Wir erleben dies bereits in vielen persönlichen Bereichen, in vielen, oft kleinteiligen Organisationen. Es setzt sich aber auch fort auf den Makro- und Mundoebenen der Systemevolution. Dies ist das Thema, das mich interessiert. Und Society 4.0 ist die Überschrift dafür, dass die Evolution der Ökonomie und die Evolution des ökonomischen Denkens eine Verkörperung der Evolution des Bewusstseins ist, vom  traditionellen Bewusstsein übers Ego-System zum Eco-System, vom Ego zum Wir. So dass sich das Ich erweitert, vom Umkreis her wirkt und nicht vom Egozentrum, in dem ich in meiner Vergangenheit gefangen bin.

NNA: Was ist eigentlich der blinde Fleck, der uns darin solange belässt?

Otto Scharmer: Der blinde Fleck hat unterschiedliche Dimensionen. Er realisiert sich persönlich, zwischenmenschlich, institutionell und auf der Gesamtsystem-Ebene. Wir sind Teil alter Verhaltensmuster, die wir für selbstverständlich halten. Wir erkennen nicht mehr die  Konstruktion, die wir selbst hervorgebracht haben – und somit auch selbst verändern könnten. Das ist, was mich immer bei der Lektüre der Philosophie der Freiheit von Rudolf Steiner inspiriert hat, die einige Jahre her ist. Ich gehöre übrigens nicht zu denen, die behaupten, sie hätten sie verstanden. Aber ich kann sagen: Eine konkrete Inspiration, die ich daraus gezogen habe, ist die Unterscheidung in Erfahrungen, die uns von außen entgegentreten und Erfahrungen, die wir selbst hervorgebracht haben – also die Selbstbeobachtung des Denkens. Dass dort die Möglichkeit von Freiheit liegt, weil wir hier von innen erfahren, was wir von außen reflektieren können. Alles was ich versuche mit der Society 4.0 ist, diesen Gedanken auf soziale Entwicklungsprozesse in der Gesellschaft anzuwenden, mich zu fragen, wie die Umräume, wie Entwicklungskontexte aussehen, die es uns erlauben, genau an diesen Punkt zu kommen, ein Gewordenes anzuschauen, das ich selbst hervor gebracht habe, und wo ich, wie ich es im Englischen nenne: bending the beam of attention back to ourselves, back to our own sources, also den Aufmerksamkeitsstrahl dehne und rückwende auf die Quelle, aus der die Aufmerksamkeit kommt. Das ist für mich das zentrale Geschehen in allen Führungs- und Entwicklungsprozessen, wo wir genau diese Figur realisieren, nicht nur als Einzelindividuum, wie es Steiner in der Philosophie der Freiheit gezeigt hat, sondern in sozialen Entwicklungsprozessen. Dass wir diese Struktur realisieren, interessiert mich nicht nur als Theoretiker der Society 4.0, sondern in praktischen Entwicklungsprozessen und Stakeholder-Innovationsprozessen.

NNA: Das Großartige und Mutige daran ist, dass Sie dabei eine Ebene einbeziehen, bei der man lassen muss, damit etwas ganz Neues kommen kann, das noch nicht bekannt ist, dass es also über den Tod geht.

Otto Scharmer: Das ist richtig. Es haben ja viele Leute mal ein Leid erfahren – auch ich. Früher hätte ich gedacht: Das ist zu exzeptionell, zu weit außerhalb. Das versteht sowieso keiner. Was mich überrascht ist, dass es Gehör findet – und nicht nur hier. Ich tue es ja nicht nur hier, sondern am MIT, mit Weltbankern, der chinesischen Regierung, hochrangigen KP-Leuten. Und sie gehen da mit. Früher war dieser Grenzbereich, über den wir hier sprechen, von Philosophen erfasst. Heute ist die Grenzerfahrung, das Über-die-Brücke-Schreiten, das Am-Abgrund-Stehen, die Frage: Wie komme ich da eigentlich rüber, über die Nietzsche und Steiner sprechen, für ganz viele Menschen eine allgemeine Erfahrung. Deshalb kann ich solche Sachen formulieren, weil es almost common sense, beinahe Allgemeingut ist, natürlich nicht 100-prozentig. Aber ich bin schon verwundert, wie wenig Unverständnis einem da entgegen kommt.

NNA: Der amerikanische Autor, Ethnographie-Professor und Occupy-Aktivist, David Graeber, analysiert in seinem Buch „Schulden - Die ersten 5000 Jahre“, dass uns die Schulden schon immer knebeln. Dass uns letzen Endes nur eine Möglichkeit bleibt: alle Schulden zu erlassen, um wieder in die Freiheit zu gelangen.

Otto Scharmer: Das war schon immer gängige Praxis in der Geschichte, ein Mechanismus, um bei einem Missverhältnis zwischen Finanz-Ökonomie und Real-Ökonomie wieder Luft rauszulassen. Nur jetzt ist das nicht mehr der Fall, wo die Regierungen in den Händen der Banken sind. Es gäbe sicherlich auch andere Mechanismen. Wenn wir aber die Mechanismen  nicht finden, werden die Krisen, an denen immer mehr Leute leiden und zugrunde gehen, weiter zunehmen. Das ist genau eines der Themen, einer der Akupunkturpunkte, mit denen wir uns intensiv beschäftigen müssen. Es ist nicht das einzige Thema – aber ein zentrales.

NNA: Welche gibt es noch?

Otto Scharmer: Ein zweites Thema ist natürlich die Umgestaltung von Arbeit als eine fortgeschrittene Form des sozialen Unternehmertums, das eine Riesenbewegung in der Welt heute ist, wo unglaublich viele Sachen passieren. Nur das Denken unserer politischen Entscheidungsträger ist dafür wenig aufgeschlossen. Weitere Themen sind Führungsstil und Eigentumsformen, dann die Koordinations-Mechanismen. Dass wir heute eigentlich bei allen gesellschaftlichen Krisen - Gesundheit, Bildung, sustainability, Nachhaltigkeit -die gleichen Debatten führen: mehr Markt, mehr Staat, mehr Stakeholder-Prozesse oder eine Mischung davon. Wir müssen wissen, dass dieses alte Vokabular institutioneller Problemlösungen nicht die Lösung ist. Es ist vielleicht notwendig, aber nicht hinreichend. Was fehlt ist die Weiterentwicklung: Seeing and acting from the whole - Handeln vom Ganzen aus. Das müsste hinzukommen. Es hat zu tun mit einer neuen Prozess-Qualität. Die Führungstechnik fehlt. Nur gute Ideen zu haben, nützt überhaupt nichts. 

NNA: Was halten Sie vom bedingungslosen Grundeinkommen, das in Deutschland und der Schweiz ein wichtiges Thema ist?

Otto Scharmer: Ich denke, es ist einer dieser acht Akupunkturpunkte, über die ich referiere, der zum Entrepreneurship gehört. In dem Moment, wo ich das Grundeinkommen habe, steht meine eigene Kreativität und Entwicklung mehr im Zentrum. Wie weit kann das verbunden werden mit der Freisetzung von schöpferischer, unternehmerischer Initiative? Ich denke, da gibt es sicherlich noch ein paar Fragen zu stellen. Wie gesagt, es ist einer der Akupunkturpunkte, die Teil der Diskussion sind, aber die alleine, ohne die anderen, auch nicht unbedingt ein Schritt nach vorn sein werden. 

NNA: Es muss erst Bewusstseinsänderung eintreten, die schwierig zu leisten ist.  

Otto Scharmer: Die findet hier statt. Bei Veranstaltungen wie dieser hier und an anderen Orten geht es um connecting the dots - darum, die Punkte zu verbinden. Dass wir weiter an unserer eigenen Baustelle arbeiten, aber das größere Feld, von dem wir ein Teil sind, immer mehr mit einfließen lassen.

NNA: Otto Scharmer, herzlichen Dank für dieses Gespräch.

END/nna/ror

Bericht-Nr.: 130408-02DE Datum: 8. April 2013

© 2013 News Network Anthroposophy Limited (NNA). Alle Rechte vorbehalten. 

Zurück
Foto: Presencing Institute