Nachrichtenbeitrag
„Nicht alles, was zappelt, ist ADHS“
ALFTER (NNA) - Kindern eine positive Entwicklung zu ermöglichen, wird zunehmend schwieriger für die Eltern unserer Zeit. Bereiten die Kinder dann Probleme, werden sie schnell als pathologisch abgestempelt und diskriminiert. Auf großes Interesse stieß daher die Fachtagung der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter zum Thema „Veränderte Kindheit – vom Umgang mit ‚schwierigen‘ Kindern“.
Veranstalter waren das Institut für Kindheitspädagogik an der Alanus Hochschule und IPSUM, das Institut für Pädagogik, Sinnes und Medienökologie aus Stuttgart. 180 Teilnehmer diskutierten zum Thema, angemeldet hatten sich wesentlich mehr.
Unterschiedliche Ansätze leiteten in die Problematik ein. Dr. Reinhard Eichholz, ehemaliger Kinderbeauftragter der Landesregierung NRW zeigte die einzelnen Schritte der Rechtslage zu den Menschenrechten von 1945 bis heute. Der Mensch als Subjekt beinhalte die Anerkennung von Würde, Gleichheit und Teilhabe (Inklusion) an der Gesellschaft. Er habe ein Recht darauf, nicht diskriminiert zu werden. Darauf könnten sich die Kinder auch berufen. Ein Kind dürfe von der Gemeinschaft nicht ausgeschlossen werden. Pädagogik und Recht seien heute eher schwierig zusammenzubringen.
Prof. Dr. Rainer Patzlaff , Institutsleiter vom IPSUM, spiegelte die gewaltige Herausforderung, vor denen die Eltern heute stehen. Sie beklagten sich über misslaunige Kinder, und misslungene Erziehung führe zu Gewaltpotenzialen bei Jugendlichen. Wie seien neue Verhältnisse einzuordnen, wenn zum Beispiel das Gefühls- und Empfindungsleben sich umgestalte. Bei der Gesundheit der Kleinkinder beseitige man zunehmend durch Impfung die Kinderkrankheiten, an ihrer Stelle komme es zu chronischen Krankheiten, sogar Krebserkrankungen und Fettsucht.
Die Eltern reagierten auf diese Entwicklung mit Gefühlen der Lähmung oder Angst. Patzlaff forderte die Eltern auf, dringend gegen diesen Mainstream der Standardisierung zu handeln, auch wenn dies oft schwer falle. Es gehe darum, den Eltern Mut zu machen. Es komme darauf an, offen zu sein und das eigene Gefühlsleben so zu verwandeln, dass die „Katastrophen“ nicht als Beleidigung oder Frechheit zu sehen seien, sondern als Herausforderungen. Dabei sei auf die Situation des Kindes zu schauen. Auch neuere Wissenschaftsrichtungen wie die Hirnforschung und Salutogenese sollten berücksichtigt werden. „Probleme machen auch wach“, folgerte Patzlaff. Und es gäbe Vorbilder, denn die heutigen Kinder würden eine gesteigerte Wahrnehmung mitbringen für seelische Nuancen, sie hätten eine besondere Sensibilität.
Uwe Momsen erzählt aus seiner eigenen Praxis für Kinderheilkunde und Kinder- und Jugendpsychologie in Herdecke. Wenn Kinder auffällig seien, hätte man erstmal zu fragen, wann, in welcher Situation dies auftrete und wer es bemerke. Es könne sich um ein schulisches oder globales Problem handeln.
Als Veränderungen im Verhältnis zu früheren Zeiten nannte er die Ernährung mit Industriepräparaten, aber auch die Mediennutzung und die Familienverhältnisse. Jedes dritte Kind habe nur ein Geschwister. Alles zusammen setze ungünstige Bedingungen für die Entwicklung der Kinder. Bei der Einschulung mache sich von Seiten des Elternhauses oft Sorge und Angst zu früh breit, da sie dem Leistungsdruck unterlägen. Angst sei aber kein guter Berater und die Kinder seien letztendlich die Leidtragenden.
Seelische Auffälligkeiten deuteten Eltern zu oft als ADHS. Nicht alles, was zappelt, sei ADHS, betonte Momsen. Bei körperlicher Unruhe, Impulsivität, fehlender Konzentration und bei übersteigerter Wachheit gelte es genau hinzusehen in Alltagssituationen. Aufgrund der heutigen gesellschaftlichen Entwicklung werde oft Stress gelebt. Bleiben die Symptome nach einem halben Jahr Beobachtung unverändert, sei ADHS nicht auszuschließen. Empfehlen würde er zunächst eine gutes Zusammenarbeiten zwischen Eltern, Pädagogen und Kindern und Ruhezeiten. Oft wäre es nötig, erst wieder Vertrauen in die Familienverhältnisse zu bringen.
Depression trete heute auch schon im Kindesalter auf, unangemessenes Traurigsein bis „ich kann gar nicht mehr traurig sein“, Appetitmangel, Schlaf- und Wachrhythmusstörungen, deutliche regressive Erscheinungen, wie wieder einnässen, auch Wachstumsstörungen seien da zu beobachten. Schwierige Situationen seinen Herausforderungen, es gäbe auch schwierige Klaviersonaten, zog Momsen die Musik als Vergleich heran.
Dipl.-Sozialpädagoge Wolfgang Kohnen machte deutlich, wann ein Kind durch dramatische Situationen an die Grenzen seiner seelischen Belastungsfähigkeit komme. Dann lösten sie beim Kind Notfallreaktionen aus. Bedrohungen durch physische, emotionale Vernachlässigungen, mögliche Misshandlungen oder Gewaltanwendungen haben Langzeitwirkungen. Bei einem Trauma gelte nichts mehr so, wie es scheint, so Kohnen. Diese Kinder sein resistent gegen herkömmliche pädagogische Maßnahmen, sie verweigern sich völlig oder reagierten aus heiterem Himmel mit Stimmungsschwankungen. Oft schienen sie gefühlskalt und unerreichbar und machten die Eltern hilflos. Traumaforschung existiere erst seit 1980. Die Entwicklung der Kinder nach Bedrohungen, ihr Notfallmechanismus, der zu Erstarrung, Lähmung oder zu seelischer Spaltung führe, würde weiter erforscht.
Daniel Götte, Frank Bohsung und der Landwirt Matteo Tartari berichteten in einem Workshop aus ihrer pädagogischen Praxis in der Jugendhilfeeinrichtung Timeout im Südwesten Deutschlands. Sie kümmern sich um Jugendliche, die Schulverweigerer sind oder als verhaltensgestört gelten. 16 Jugendliche finden in der Einrichtung Platz. Was bringt die Jugendlichen dazu, sich wieder einzufügen, mitzumachen? Erstmal würde eine sichere Situation hergestellt und sie an einen Tages- und Nachtrhythmus gewöhnt. Geduld und Phantasie seien verlangt, um die Jugendlichen immer wieder zu ermutigen „Hab Mut zu tun!“ Vier Monate lang gibt es keine Schule, stattdessen Handarbeit im Stall und Arbeit mit den Tieren, die Erfolgserlebnisse vermittelt. Durch praktisches Erleben kommen die Jugendlichen dazu, sich wieder einzulassen auf neue Beziehungen.
Henning Köhler vom Korczak-Institut in Nürtingen schaute in die Zukunft. Der Toleranzrahmen für altersgemäßes Verhalten würde immer enger, Kinder würden dann im weiteren Verlauf an Ärzte und Therapeuten verschoben. Diagnosen würden heute viel zu schnell gestellt. Die Kinder wären zunehmend verunsichert, wobei das nicht das Problem der Kinder sei. „Das Kind kommt mit uns nicht zurecht“, erklärte Köhler. Die geknickten Kinder bekämen das Gefühl vermittelt, sie erfüllten die Erwartungen der Erwachsenen nicht. Stattdessen bräuchten sie die uneingeschränkte warme Bejahung ihrer Individualität. „Ich werde wahrgenommen, also bin ich!“ so sollte ein Satz eines Kindes lauten, denn das Kind wolle nicht nur wahrgenommen werden unter vielen, sondern in seiner Eigenheit und Schönheit. „Ich kommuniziere also bin ich!“ Es wolle sprechen und Antworten bekommen. „Ich schenke, also bin ich!“ Das Daseinsvertrauen zeige sich dem Menschen, der als Schenkender in der Welt handle, die Geste des Schenkens erfolge aus der Existenz als geistiges Wesen. Dies gelte für alle Kinder, uneingeschränkt, unabhängig, welche Begabung der eine oder andere habe.
Nicht zu unterschätzen sei, was aus den Einzelnen noch alles werden könne, stand als Ermutigung für die Teilnehmer am Ende eines Workshops. Es sei ein gesellschaftliches Problem die Kinder zu standardisieren. „Wir verschwenden dabei die Talente der Kinder und Jugendlichen“, wurde ermahnt. Besser sei es, die Kreativität zu fördern. Dazu sei gesellschaftspolitisch noch viel zu entwickeln, wolle man eine Zukunft gestalten, die heilsam auf die Kinder wirke.
END/nna/wil
Bericht-Nr.: 110710-04DE Datum: 10. Juli 2011
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