Nachrichtenbeitrag

Meeresschildkröten weltweit vom Aussterben bedroht

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Von NNA-Korrespondentin Cornelie Unger-Leistner

Meeresschildkröten bevölkern die Erde seit mehr als 150 Millionen Jahren. Um die weltweit vom Aussterben bedrohte Tierart zu schützen, wurde das Projekt Tamar in Brasilien ins Leben gerufen, das 2003 von der UNESCO ausgezeichnet worden ist als Vorbild auch für andere Länder. NNA-Korrespondentin Cornelie Unger-Leistner berichtet aus einem Informationszentrum des Projekts im Süden Brasiliens.

FLORIANOPÓLIS (NNA) – Mit seinen 8000 Kilometern Meeresküste ist Brasilien ein wichtiger Lebens- und Nistraum der Meeresschildkröten. Durch das vor rund 30 Jahren gegründete Tamar-Projekt konnte die Nachkommenschaft der wichtigsten Meereschildkrötenarten in Brasilien erheblich gesteigert werden. Wie im Informationszentrum von Tamar in der Nähe der Stadt Florianopòlis zu erfahren ist, hat sich der Nachwuchs z.B. der Echten Karettschildkröte (Eretmochelys imbricata) seit Bestehen des Projekts versiebenfacht, die zu der weltweit am meisten gefährdeten Art zählt . Die Nachkommenschaft der Unechten Karettschildkröte (Caretta caretta) in Brasilien ist auf das Fünffache angestiegen. Von der kleinsten brasilianischen Art, der Oliv-Bastard-Schildkröte (Lepidochelys olivacea), gibt es aufgrund des Projekts inzwischen sogar fünfzehnmal mehr Jungtiere als zuvor.

Wie wurde diese Entwicklung möglich, die im Gegensatz zu anderen Gebieten der Welt steht, in denen der Schutz der Meeresschildkröten nur sehr schleppend vorankommt? In Asien zum Beispiel sind Schildpatt-Produkte aus dem Panzer der Meeresschildkröten immer noch als Glücksbringer begehrt und Schildkrötensuppen werden verspeist, obwohl die Tiere unter das Washingtoner Artenschutzabkommen fallen und die Convention on International Trade in Endangered Species (CITES) den Handel mit Schildkrötenprodukten schon seit 1979 verbietet.

Am Anfang des brasilianischen Tamar-Projekts stand zum einen das Verbot der Jagd auf die Tiere, zum andern aber auch die Suche nach anderen Einkommensmöglichkeiten für die betroffene Bevölkerung. „Den Tamar-Forschern war klar, dass es nur dann Schutz für die Meeresschildkröten und ihren Lebensraum geben würde, wenn man sich zu allererst um die Bedürfnisse und Forderungen der ortsansässigen Bevölkerung kümmert und sie einbezieht,“ heißt es in einer Darstellung des Projekts. So ging es zunächst darum, den Schutz der Meeresschildkröten mit der Schaffung nachhaltiger ökonomischer Alternativen für die betroffene Bevölkerung zu verbinden. Dies sei eines der wichtigsten Kennzeichen von Tamar, heißt es in der Darstellung weiter. Handwerkliche und künstlerische Produktionsstätten wurden geschaffen, Qualifizierungsprogramme sollten Arbeitsplätze und Einkommen sichern. Außerdem bilden die Informationszentren in den Tourismusregionen wichtige Bausteine des Projekts, das vom Instituto Chico Mendes de Conservacao da Biodiversidade (ICMBio), dem brasilianischen Umweltministerium sowie der Fundacao Pró-Tamar, einer nationalen NGO, gemeinsam getragen wird. Sponsor ist Petrobras. Das Projekt ist auch schon für den Umweltnobelpreis vorgeschlagen worden.

Die Zentren von Tamar, die entlang der brasilianischen Küste zu finden sind wie z.B. im Urlaubsort Barra da Lagoa rund 20 km entfernt von Florianópolis, informieren über die Bedrohung der Meereschildkröten. Die wichtigsten Faktoren dabei sind der Klimawandel, die zunehmende Verschmutzung der Weltmeere, der Fischfang sowie die unkontrollierte Besiedlung von Stränden. Wie vom Tamar-Projekt mitgeteilt wurde, stößt das Angebot bei den Touristen auf großes Interesse. Allein am 2. Januar – während der Hauptferiensaison in Brasilien – besuchten über 1800 Menschen das Informationszentrum in Barra da Lagoa, womit ein Besucherrekord von 2011 überboten wurde.

Anhand anschaulicher Beispiele können die Besucher nachvollziehen, welcher Zivilisationsmüll wie lange im Meer verbleibt und was dies für den Lebensraum der Meereschildkröten bedeutet. Ein Fischernetz aus Nylon hält danach 650 Jahre, wenn es verlorengeht, eine Plakstikflasche 450 Jahre und eine Bierdose 200 Jahre, erfahren die Besucher. Entsprechend groß ist die Gefahr, dass Partikel des Plastikmülls im Magen der Meeresschildkröten landen und ihren Tod verursachen. Auch bestimmte Arten des Fischfangs bedrohen die Meeresschildkröten, die sich in den Schleppnetzen der Fischer verfangen und darin umkommen. Hier hat Tamar 2001 einen Nationalen Aktionsplan für die Reduzierung des Beifangs von Meeresschildkröten ins Leben gerufen. Er beinhaltet Forschungen über diejenigen Fischfangpraktiken, die sich am meisten auf die Meeresschildkröten auswirken, außerdem Umweltbildung für die Fischer, um ihr Bewusstsein für das Problem zu schärfen und strategische Unterstützung für Entscheidungsträger und Management im Bereich der Fischereipolitik.

Ein besonderes Augenmerk richtet das Tamar-Projekt auf die Sicherung der Nistgebiete der Schildkröten an den Meeresküsten Brasiliens. Die Nistphase ist einer der kritischsten Augenblicke im ganzen Leben der Meeresschildkröten – nur ein oder zwei Junge von tausend erreichen das Erwachsenenalter. Die Tiere benötigen verlassene Strandabschnitte, auf denen die Weibchen ihre Gelege hinterlassen können und man kann sich vorstellen, wie die zunehmende touristische Nutzung der Strände Brasiliens sich auf die Schildkrötenpopulationen auswirkt.

Die Vermehrungsphase der Meeresschildkröten beginnt im September und zieht sich hin bis im März auf dem Festland, auf den vorgelagerten Inseln dauert sie von Dezember bis Juni. Researchmonitore und Patrouillen von Tamar überwachen die geschützten Küstenabschnitte, die die Schildkrötenweibchen aufsuchen, um dort ihre Eier abzulegen. Ein Gelege enthält Hunderte von Eiern, denn die frisch geschlüpften ca 3,5 bis 4 cm großen Schildkrötenbabies haben viele natürliche Feinde wie Raubvögel, Krabben oder auch Fische, die sich von ihnen ernähren.

Die Menschen zählten ursprünglich nicht dazu, denn die Ureinwohner des Kontinents, die Indios, entnahmen lediglich Eier aus den Nestern und verfolgten die Schildkröten selbst nicht. Erst durch die Kolonialherren begann auch die Jagd auf die Tiere selbst. Erreichen die Schildkröten erst einmal das Erwachsenenaltern, haben sie wenig natürliche Feinde, Haie und Killerwale gehören dazu – neben dem Menschen.

Seit Alters her verläuft die Reproduktion der Meeresschildkröten gleich: 50 Tage nach Ablage der Eier schlüpfen die kleinen Schildkröten aus. Die Schildkrötenweibchen haben ihre Eier unter dem Sand versteckt und sind längst ins Meer zurückgekehrt. Nun sind die Babies auf sich gestellt und darauf angewiesen, ebenfalls so schnell wie möglich in ihr nasses Element zurückzufinden. Der ganze Vorgang findet nachts statt, deswegen kann er durch künstliche Lichtquellen in der Nähe empfindlich gestört werden. Denn die Schildkrötenbabies orientieren sich am Licht des Mondes und wenn andere Lichtquellen sie desorientieren, finden sie ihren Weg zurück ins Wasser nicht. Die Verminderung von künstlichen Lichtquellen auf geschützten Stränden ist so ein wichtiges Ziel des Tamar-Projekts. Außerdem begleiten die Patrouillen den Vorgang des Schlüpfens und die Rückkehr der Babies ins Meer.

Tamar widmet sich auch der Erforschung der Lebenswege der Schildkröten. In den Forschungsstationen an der brasilianischen Küste werden die Tiere mit Markierungen oder auch Sendern ausgestattet, so dass ihr Verbleib nachvollzogen und zuverlässige Daten über den Bestand erhoben werden können. Rückmeldung über die brasilianischen Meereschildkröten erhielten die Tamar-Forscher z.B. schon aus weit entfernten Gebieten wie Australien. Sitamar heißt die Platform, die regelmäßig Daten über die Meeresschildkrötenpopulation sammelt, aufbereitet und interpretiert.

Besonders beeeindruckend in den Informationszentren wie in Barra da Lagoa ist der Überblick über die einzelnen Arten der Meereschildkröten in Brasilien. Einige von ihnen können die Besucher als lebendige Nachzuchtexemplare in Becken schwimmend erleben, andere anhand von naturgetreuen Modellen. Der europäische Besucher staunt vor allem über die Größe der Tiere, die er bisher als höchstens handtellergroß im Terrarium zu Hause erlebt hat.

Die größte Meeresschildkröte Brasiliens ist die Lederschildkröte, (Dermochelys coriancea), die bis zu zwei Meter messen und 700 Kilo wiegen kann. Ihr Panzer ist weicher als die der anderen Arten, eher wie Leder und hat weiße Flecken. Sie ernährt sich von Quallen und ihr Hauptnistgebiet liegt an der Küste des brasilianischen Bundesstaats Espiríto Santo.

Am verbreitesten auf dem brasilianischen Festland ist die Unechte Karettschildkröte (Caretta caretta). Ihre durchschnittliche Länge beträgt einen Meter und sie wiegt durchschnittlich ca. 200 Kilo. Sie ernährt sich von Krabben, Hummern und anderen Weichtieren. Pflanzenfresser sind dagegen die Grünen Meeresschildkröten (Chelonia mydas), die Algen und Seegrass fressen und als junge Tiere an der ganzen brasilianischen Küste beobachtet werden können. Sie werden 1,20 Meter lang und wiegen im Durchschnitt 250 Kilo. Diese Art ist die einzige, die auch auf Inseln im Meer Gelege hinterlässt. Dadurch weist sie auch die stabilste Population auf.

Die weltweit am meisten bedrohte Art der Meeresschildkröten ist die Echte Karettschildkröte (Eretmochlys imbriacata), die rund einen Meter lang wird und ca. 110 Kilo wiegt. Sie wurde traditionell wegen ihres Panzers gejagt, aus dem Schildpatt hergestellt wurde. Sie findet sich an der Küste des brasilianischen Bundesstaates Bahia sowie an den südlichen Küsten des Bundesstaates Rio Grande do Norte. Diese Art ernährt sich von kleinen Mengen von Seeanemonen, Schwämmen und anderen Wirbellosen.

Der Gang durch die faszinierenden Welt der Meeresschildkröten Brasiliens im Informationszentrum von Barra da Lagoa endet mit dem Besuch im Shop mit den zahlreichen Tamar-Produkten. Hier können die Besucher durch den Erwerb von T-Shirts, Spielwaren und anderen Produkten, die einen Bezug zu den Meereschildkröten haben, das Projekt unmittelbar unterstützten. Zehn solche Shops gibt es in Brasilien bisher, Verkaufserlöse und Eintrittspreis kommen nach Angaben von Tamar zu 100 Prozent dem Projekt zugute. „15 Millionen Schildkröten gerettet“, heißt es z.B. auf einem der T-Shirts, die das Tamar-Projekt zu seinem 30jährigen Bestehen anbietet. Sein Aufdruck dokumentiert, dass es sicherlich eines der nachhaltigsten und wirkungsvollsten Souvenirs aus der Urlaubsregion im Süden Brasiliens darstellt.

END/nna/ung

Bericht-Nr.: 130408-03DE Datum: 8. April 2013

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Fotos: Cornelie Unger-Leistner