Nachrichtenbeitrag

Mannheim „sagt ja“ zu seinen Migranten

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Von NNA-Korrespondentin Cornelie Unger-Leistner

Mannheim hat mit 39,4% den zweithöchsten Anteil aller deutschen Städte von Bürgern mit Migrationshintergrund. Pegida-Demonstrationen sucht man hier vergebens – dafür beteiligten sich im Januar 12.000 Menschen an der Kundgebung „Mannheim sagt ja“ für Vielfalt und eine bunt-gemischte Stadt. Grund für NNA-Korrespondentin Cornelie Unger-Leistner, sich in Mannheim einmal umzusehen.

MANNHEIM (NNA) – Menschen aus immerhin 177 Nationen leben in Mannheim. Knapp jeder zehnte Bewohner ist Moslem. Als die Yavuz Sultan Selim Moschee 1995 am Luisenring gebaut wurde, war sie das größte muslimische Gotteshaus in Deutschland. Sie bietet Platz für 2.500 Menschen.

Als ich auf einer Verkehrsinsel davor stehe, um ein Foto von dem Gebäude inklusive Minarett zu machen, hält ein Lieferwagen neben mir. Ein Mannheimer, der offenkundig zu den „Bürgern mit Migrationshintergrund“ gehört, kurbelt das Fenster herunter: „Sie könne da ruhig reingehe, da ist immer auf“, ermuntert er mich in Mannheimer Mundart – kurpfälzisch – zum Moscheebesuch. Eine Bibliothek und ein Informationszentrum im Erdgeschoss machen es leichter, sich auf eine Begegnung mit dem Zentrum des muslimischen Lebens in Mannheim einzulassen.

„Die Moschee ist ein Anziehungspunkt für die Menschen, auch aus dem Umkreis von 100 Kilometern. Da ist zum einen der Moscheebesuch, zum andern aber Mannheim auch als Einkaufzentrum. Wir haben hier viele türkisch-muslimische Unternehmer, das ist ein ganzes Viertel, aber es ist offen für alle, nichts abgeschottet.“ Talat Kamran leitet das Mannheimer Institut für Integration und interreligiösen Dialog e.V., das gleichzeitig mit dem Moscheebau in den 90er Jahren gegründet worden ist. Er ist vor mehr als 30 Jahren aus der Türkei nach Mannheim gekommen. „Man sollte lieber mit den Muslimen reden, als über sie“ – mit diesem Satz machte er mehrfach Schlagzeilen in den Zeitungen.

Genau darum geht es nun im Interview mit NNA.

Nach dem Attentat auf Charlie Hebdo haben die Mannheimer Muslime eine Mahnwache vor dem Mannheimer Morgen organisiert, um ihr Eintreten für die Pressefreiheit zu dokumentieren. Haben sich die Möglichkeiten, zwischen den Religionen zum Dialog zu kommen, durch die Gewalttaten in Paris verschlechtert? Talat Kamran ist vor allem in Sorge um die Projekte seines Instituts: „Das ist schon schlimm mit dem IS-Staat in Syrien und Irak, der 11.September war ein einzelnes Ereignis, aber jetzt kann man jeden Tag diese Videos im Fernsehen sehen. Das wird nun alles dem Islam zugeschrieben, die Menschen auf der Straße differenzieren nicht. Wenn ich jetzt z.B. finanzielle Unterstützung für unsere Projekte suche, merke ich das schon.“

Das Institut bietet Führungen durch die Moschee an, Vorträge zum Islam und eine Ausbildung für muslimische Krankenhausseelsorger, die schon an einigen Kliniken in Baden-Württemberg im Einsatz sind. Außerdem werden Jugendleiter für die islamischen Gemeinden qualifiziert.

Vorarbeit

Insgesamt seien die Muslime in Mannheim durch die Tätigkeit des Instituts jedoch gut vorbereitet auf Krisen, wie sie sich durch das Attentat ergeben können. „Unsere Vorarbeit, 20 Jahre Dialog mit anderen Religionen und den Bürgern der Stadt wirken schon in die deutsche Gesellschaft hinein und verbessern das Verständnis zwischen den Menschen“, betont Kamran. Dies könne man z.B. bei den Moscheeführungen für Schulklassen immer wieder beobachten: „Wir vergleichen dabei Christentum, Judentum und Islam. Es zeigt sich, die Besucher kommen mit weniger Vorurteilen heraus, als sie mit hineingebracht haben. Sie haben ein Gotteshaus wie alle andern erlebt.“

Umgekehrt war die Moscheegemeinde auch schon in einer christlichen Kirche zu Gast.

Ansatzpunkte sieht Kamran aber auch im persönlichen Bereich: „Man sollte den Dialog auch aus ganz humanistischen Gründen führen. Wir leben zusammen, da muss man schon mal fragen: Wie geht es meinem Nachbarn? Das gilt in allen Religionen und auch im Islam“. Man könne Freundschaften schließen, sich gegenseitig einladen, etwas zusammen machen.

„Diese Bemühung ist aus meiner Sicht noch viel zu wenig gegeben zwischen den Menschen, die Mehrheit tut das nicht, das gilt sowohl für die deutschen, als auch für die ausländischen Familien“. So sei es auch zu bedauern, dass Deutsche aus Stadtvierteln wegziehen, wenn dort der Ausländeranteil zu hoch werde. Dies führe dann auch zu den Schulklassen, in denen die Kinder mit Migrationshintergrund fast unter sich seien. „Das ist dann alles andere als integrativ“, betont der Leiter des Mannheimer Instituts.

Vorurteile abschaffen

Es sei auch nicht zu leugnen, dass Ausländer sowohl bei der Arbeitsplatz – als auch bei der Ausbildungsplatzsuche benachteiligt würden und oft auch schwer Wohnungen fänden. „Das ist aber ein Problem, das überall auf der Welt besteht, dass Fremden mit Vorurteilen begegnet wird und sie es schwer haben, das geschieht genauso in der Türkei oder in den USA.“ Abhilfe könne hier vor allem im Bildungswesen geschaffen werden, das die Kinder auf das Leben in der multikulturellen Gesellschaft vorbereiten müsse. Hier sei in Deutschland viel versäumt worden in den vergangenen Jahrzehnten, z.B. dass es keinen Religionsunterricht für die muslimischen Kinder an den Schulen gebe.

In dieser „Tragödie“ sieht Kamran auch einen Grund für die Anfälligkeit von europäischen Jugendlichen für islamistisches Gedankengut: „Sie kennen ihre eigene Religion nicht richtig. In der Schule könnte man ein anderes Islambild vermitteln.“ Fortschritte seien auch dadurch zu erzielen, dass die muslimischen Gemeinden als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt würden. Dies würde ihnen aus Kamrans Sicht zu mehr Anerkennung im öffentlichen Leben verhelfen. Das Argument, dass die Muslime zu wenig organisiert seien, will er nicht gelten lassen: „Da fehlt einfach der politische Wille, oder es wird auf Wähler Rücksicht genommen.“

Wie begründet ist die Furcht der Europäer, mit dem Islam könne eine Weltanschauung Einzug halten, die Grundsätze von Demokratie und Menschenrechten in ihren Ländern untergräbt? Hier vertritt Talat Kamran, der selbst Sunnit ist und dem Sufismus, einer spirituellen Richtung im Islam nahesteht, die Auffassung, dass „die islamische Welt schon bessere Zeiten gehabt hat, z.B. im Osmanischen Reich oder der Alhambra in Spanien, da wurde viel toleranter gelebt.“ Nulltoleranz gegenüber Andersgläubigen, sei ein „Abgrund“, der nicht der islamischen Tradition entspreche. „Man muss als Moslem immer bei sich selbst anfangen, das ist das A und O. Ziel ist es, die Herzen zu kultivieren, nicht nur den Intellekt“, betont er. Die Herzensbildung umfasse im Islam eine ästhetische Bildung, Empathie und Interesse für den anderen.

Wie passt dies nun aber mit all den Koranversen zusammen, die Gruppen wie Pegida zitieren, um die angebliche Gewaltbereitschaft der Muslime gegenüber Andersgläubigen zu belegen?

Islam im Kontext

Dem hält Talat Kamran entgegen, dass der Koran im Laufe von 23 Jahren entstanden sei und seine Suren sich auf konkrete historische Situationen bezögen. „Der Vers, der immer zitiert wird hinsichtlich des Kampfes gegen die Ungläubigen, entstand, als das Leben des Propheten Mohammed in Gefahr war, das ist ein geschichtlicher Kontext.“ Dieser Kontext sei zu beachten, der Koran spreche nicht „im Allgemeinen“, es sei immer zu fragen: „Wann wurde was offenbart, in welchem Zusammenhang stand es und was bedeutet der Vers heute?“

Auch die islamische Gesetzgebung, die Scharia, sei in einem konkreten historischen Zusammenhang entstanden, in dem sie auch sinnvoll gewesen sei, um die Übermacht der Kalifen durch gesetzliche Regelungen zu begrenzen. Berufe man sich heute unmittelbar auf den Koranverse, um Gewalt zu rechtfertigen, sei dies ein Missbrauch der Texte.

Chancen verbessern

Was kann nun – abgesehen vom Religionsunterricht an den Schulen – noch getan werden, um muslimische Jugendliche vor der Verführung durch islamistische Parolen und Videos zu schützen? Hier hat Talat Kamran eine klare Botschaft: Ihre Chancen auf Bildung, Ausbildung und Arbeit überall in Europa verbessern. Es sei eine Realität, dass die Kinder von Einwanderern auf all diesen Gebieten benachteiligt würden. „Wenn ihnen dadurch die Anerkennung fehlt, schafft das Spannungen und Frustrationen und dieses Vakuum füllen dann die Hassprediger.“ Insofern sei die terroristische Gefahr in Europa kein „Produkt von außen“. „Das hat mit uns allen zu tun und wir alle haben die Verantwortung“, betont der Leiter des Mannheimer Instituts.

So betrachtet zeigt die Parole „Je suis Charlie“ nur die eine Seite der Medaille.

Wieder zu Hause nehme ich mir die Worte von Talat Kamran hinsichtlich der persönlichen Kontakte zu Herzen und forsche als erstes nach der verschwundenen Email eines türkischen Freundes und Kollegen, dem ich eigentlich schon lange einmal schreiben wollte....

END/nna/ung

Bericht-Nr.: 150225-03DE Datum: 25. Februar 2015

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Multikulturelles Mannheim (Foto: Cornelie Unger-Leistner)
Talat Kamran: „Wie geht es meinem Nachbarn?“ (Foto: Talat Kamran)
12.000 Menschen demonstrierten in Mannheim im Januar gegen Angst und Hass (Foto: Thomas Tröster, Stadt Mannheim, Fachbereich Presse und Kommunikation)
Die Mannheimer Moschee (Foto: Talat Kamran)
Nach den Attentaten in Paris zeigten auch Passanten in Mainz ihre Solidarität mit diesem Schild am französischen Kulturinsitut (Foto: Cornelie Unger-Leistner)