Nachrichtenbeitrag
„Lebendige Medienlandschaft Afghanistans ist zerstört“
Ende August jährt sich der chaotische Abzug der letzten US-geführten Truppen vom Flughafen Kabul zum zweiten mal. Reporter ohne Grenzen erinnert an das Schicksal von Journalisten und Journalistinnen unter der Talibanherrschaft. Neue Medien entstehen im Exil.
BERLIN (NNA) – Zwei Jahre nach dem Fall Kabuls erinnert die Organisation „Reporter ohne Grenzen‘“ (RSF) an das Schicksal und den Widerstand afghanischer Journalistinnen und Journalisten.
Seit der Machtübernahme der Taliban am 15. August 2021 ist die Medienlandschaft Afghanistans deutlich geschrumpft. Medienschaffende würden bedroht und verfolgt, Reporter verhaftet, Redaktionen durchsucht und Berichte zensiert, berichtet die Organisation, die mit Medienschaffenden in Afghanistan gesprochen hat.
„Die Lage der Pressefreiheit in Afghanistan ist erschütternd. Doch die Widerstandsfähigkeit afghanischer Journalistinnen und Journalisten macht Mut. Sie kämpfen im In- und Ausland dafür, weiter unabhängig über die Lage vor Ort berichten zu können. RSF steht an ihrer Seite“, sagte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr. Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht Afghanistan derzeit auf Platz 152 von 180 Staaten.
Die Taliban haben nach der Machtübernahmem im Land große Teile der einst lebendigen Medienlandschaft Afghanistans zerstört. Mehr als die Hälfte der 547 Medien, die 2021 registriert waren, sind nach Angaben der Afghan Independent Journalists Association (AIJA) inzwischen verschwunden. Von den 150 Fernsehsendern arbeiten heute weniger als 70. Von den 307 Radiosendern berichten nur noch 170. Die Zahl der Nachrichtenagenturen ist von 31 auf 18 gesunken. Und von den rund 12.000 Journalisten und Journalistinnen, die 2021 noch in Afghanistan arbeiteten, haben mehr als zwei Drittel ihren Beruf aufgegeben.
„Am stärksten betroffen sind die Lokalmedien“, berichtet Zarif Karimi, Direktor der Organisation NAI-Supporting Open Media in Afghanistan. Das jüngste Beispiel für die Zerstörung bildet der Radio- und Fernsehsender Hamisah Bahar in der Provinz Nangahar, der Anfang August von den lokalen Behörden geschlossen worden sei.
Die Medien, die nicht schließen mussten, arbeiten unter schwierigen und gefährlichen Bedingungen. „Wir Journalisten fühlen uns durch die Festnahmen und die Schikanen, denen wir ausgesetzt sind, verängstigt, niedergeschlagen und verzweifelt und zensieren uns selbst“, sagt ein Fernsehjournalist in Kabul, der ebenfalls anonym bleiben möchte. „Diejenigen, die fair und präzise berichteten, wurden inhaftiert, mussten ihre Arbeit aufgeben oder das Land verlassen“, so der Journalist..“
Mediendirektoren und Chefredakteure, die in Afghanistan weiter Artikel veröffentlichen oder Programme senden wollen, wissen das genau. Wenn sie überleben wollen, müssen sie sich an viele Vorschriften der Taliban halten, die die journalistische Arbeit erheblich einschränken. Gleichzeitig gibt es praktisch keine Gesetze, die Journalistinnen und Journalisten schützen.
Medienlandschaft ohne Frauen
In der derzeitigen Medienlandschaft innerhalb des Landes fehlen Frauen weitgehend. Mehr als 80 Prozent der afghanischen Journalistinnen mussten seit Mitte August 2021 ihre Arbeit aufgeben, schreibt RSF. „Es wird jeden Tag schlimmer. Mir wurde wiederholt das Recht verweigert, über Ereignisse zu berichten, nur weil ich eine Frau bin“, sagt eine Journalistin, die für einen Fernsehsender in Kabul arbeitet und anonym bleiben möchte. „Als Journalistin muss ich alles, was ich tue, zweimal überdenken.“ Journalistinnen könnten zum Beispiel nicht an Talkshows mit Männern teilnehmen oder ihnen Fragen stellen.
Viele afghanische Journalistinnen und Journalisten waren gezwungen, vor den anhaltenden Schikanen der Taliban ins Ausland fliehen. „Wir wollten weiterarbeiten, aber das erwies sich bald als viel zu gefährlich, und einige Kollegen wurden von den Taliban misshandelt“, sagt z.B. Zaki Daryabi, Gründer des investigativen Online-Magazins Etilaatroz, das 2012 als Printmedium gestartet wurde. Daryabi floh im Oktober 2021, zwei Monate nach der Machtübernahme der Taliban, aus Kabul.
Vor seiner Abreise wurden sein jüngerer Bruder, Etilaatroz-Reporter Taqgi Daryabe und der Etilaatroz-Kameramann Nematullah Nagdi festgenommen verprügelt, als sie über einen Frauenprotest in Kabul berichteten.
Zaki Daryabi erhielt auch eine Vorladung, ging aber nicht zur Polizei, um nicht festgenommen zu werden. Ihm und anderen Mitarbeitenden des Magazins gelang es, Flugtickets zu bekommen und das Land zu verlassen. Doch für die Mitarbeitenden von Etilaatroz ist der Weg ins Exil wie für die meisten afghanischen Journalistinnen und Journalisten, die das Land verlassen konnten, voller Fallstricke und Umwege.
In den USA gelang es Zaki Daryabi schließlich, einen Teil des über die ganze Welt verstreuten Teams von Etilaatroz wieder zusammenzubringen, um sein Online-Magazin und die Online-Zeitung KabulNow neu zu starten. Beide Medien haben inzwischen zehn Mitarbeitende im US-Bundesstaat Maryland und rund 30 Korrespondentinnen und Korrespondenten in Afghanistan.
„Das Erstaunlichste ist, dass unsere Online-Leserschaft in den vergangenen zwei Jahren erheblich zugenommen hat und dass das Gebiet, das wir abdecken, größer ist als früher“, sagt Daryabi. „Auch unsere Präsenz in den sozialen Medien ist in dieser Zeit stark gestiegen.“
Diese Entwicklung haben die Taliban nicht vorausgesehen: Eine neue Generation von vernetzten Afghaninnen und Afghanen, die sich seit zwei Jahrzehnten an den Konsum relativ freier und pluralistischer Medien gewöhnt hatten, haben nicht vor, sich von den Taliban vorschreiben zu lassen, wie sie denken und kommunizieren sollen, betont RSF.
Suche nach unabhängigen Informationen
Auf ihrer Suche nach unabhängigen Informationen sind die Menschen in Afghanistan darum zunehmend auf Exilmedien angewiesen. Um die freie Berichterstattung aus dem Exil heraus weiterhin zu gewährleisten, wird der JX Fund, der im April 2022 gemeinsam von RSF, der Schöpflin Stiftung und der Rudolf Augstein Stiftung gegründet wurde, in Zukunft auch afghanische Medien und Medienschaffende im Exil unterstützen. Der Start des Programms ist für Oktober 2023 geplant.
Ein weiterer Hoffnungsschimmer für afghanische Journalistinnen und Journalisten sei das Mitte Oktober 2022 angelaufene Bundesaufnahmeprogramm gewesen: Jeden Monat wollte die Bundesregierung 1.000 gefährdete Afghaninnen und Afghanen nach Deutschland holen. Zwar gab es inzwischen sechs Auswahlrunden, in denen Personen ermittelt wurden. Bisher sei unter dieser Initiative aber noch niemand nach Deutschland gekommen, schreibt RSF
Ein Grund liege darin, dass die Visaverfahren des Bundesaufnahmeprogramms knapp drei Monate pausiert hätten und erst Ende Juni wieder angelaufen seien. Hintergrund waren Sicherheitsbedenken nach Hinweisen auf mögliche Missbrauchsversuche. Diese Entwicklung habe RSF wenig überrascht, schreibt die Organisation. Sie bemängelte von Anfang an, dass die Bundesregierung „Aufgaben, die sie eigentlich selbst übernehmen sollte, auf die Zivilgesellschaft abwälzt“.
Seit der Wiederaufnahme müssen alle Antragsteller eine zusätzliche Sicherheitsprüfung durchlaufen. Diese findet in der deutschen Botschaft in der pakistanischen Hauptstadt Islamabad statt. Medienberichte zufolge warteten Ende Juni insgesamt rund 14.000 Afghaninnen und Afghanen mit Aufnahmezusage auf ihr Visum.
Seit Beginn des Bundesaufnahmeprogramms habe RSF immer wieder auf seine Schwachstellen hingewiesen und Verbesserungsvorschläge gemacht . „Doch unsere Kritik ist verhallt. Die eigentlich begrüßenswerte Initiative ist bisher eine einzige Enttäuschung“, meint RSF-Geschäftsführer Christian Mihr dazu.
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Bericht-Nr.: 230814-01DE Datum: 14. August 2023
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