Nachrichtenbeitrag
Krisenjahr 1914 von „hoher Modernität“
~ NNA-Serie: Zeitenwende Erster Weltkrieg ~
Im kommenden Jahr jährt sich der Ausbruch des Ersten Weltkriegs, der in einigen unserer Nachbarländern „Der große Krieg“ heißt. Bereits jetzt wird deutlich, dass in der Öffentlichkeit ein großes Interesse an allem besteht, was mit dem Krieg, seinen Ursachen und seinen dramatischen Folgen zusammenhängt. NNA trägt dem mit einer Reihe von Berichten Rechnung. Das Buch „Die Schlafwandler“ des australischen Historikers Prof. Christopher Clark, der sich mit den Ursachen des Kriegsausbruchs befasst, wurde vor diesem Hintergrund zum Bestseller. NNA-Korrespondentin Cornelie Unger-Leistner hörte in Mainz einen Vortrag des Autors und liefert damit den Auftakt für die Serie.
MAINZ (NNA) – „Wir aber lebten alle ohne Wiederkehr, nichts blieb vom Früheren, nichts kam zurück, uns war im Maximum mitzumachen vorbehalten, was sonst die Geschichte sparsam jeweils auf ein einzelnes Land, ein einzelnes Jahrhundert verteilt....“
In seinem Buch „Die Welt von gestern“ beschreibt Stefan Zweig eindrücklich die Wende, die der Ausbruch des Ersten Weltkriegs für die Menschen in Europa mit sich gebracht hat. Seine Generation habe „den Katalog aller nur denkbaren Katastrophen durchgeackert von einem zum anderen Ende.“ Von Existenz, Heimat, Vergangenem und Einstigem gelöst und mit Vehemenz ins Leere geschleudert, so sieht der Schriftsteller seine Generation, die in ihrer Kindheit die „Welt der Sicherheit“ des Kaiserreichs erlebt hat.
Warum zieht die so beschriebene Jahrhundertkatastrophe derzeit das Interesse der Öffentlichkeit in einem Ausmaß auf sich, das auch Experten erstaunt? In Mainz musste die Landeszentrale für politische Bildung mit Prof. Christopher Clarks Vortrag in den großen Saal des Rathauses umziehen und es fanden immer noch nicht alle Interessenten Platz.
Gefährliche multipolare Welt
In seinen einleitenden Worten bescheinigte Clark der Julikrise von 1914, die mit dem Attentat auf den österreichischen Thronfolger in Sarajewo den Kriegsausbruch einleitete, eine „hohe Modernität“. Durch den Anschlag auf das World Trade Center 2001 habe die Welt die „verwandelnde Kraft eines Ereignisses“ erlebt. „Die Situation 1914 ist uns dadurch näher, nicht mehr so fremd“, betonte der Historiker, der aufgrund seiner Studienzeit in Berlin ein akzentfreies, brilliantes Deutsch spricht. Für die „bisweilen mörderische Energie“ des Nationalismus auf dem Balkan, wo der Krieg seinen Ausgang genommen hatte, sei Europa durch die jüngste Vergangenheit der Region mit unvorstellbaren Ereignissen wie dem Massaker von Srebrenica sensibilisiert worden. Auch die geopolitische Lage entspreche heute eher der Situation von 1914 als beispielsweise den Zeiten des Kalten Kriegs: „Wir leben in einer gefährlichen mulitpolaren Welt, die die bipolare Stabilität des Kalten Krieges abgelöst hat“, betonte Clark.
Frage nach der Schuld am Kriegsausbruch
In seinem Buch untersucht Clark, der an der Universität Cambridge lehrt, die systemischen Ursachen für die Entstehung des Krieges. Die Frage nach der Schuld am Kriegsausbruch sei „älter als der Krieg selbst“. Bedingt durch NS-Zeit und Holocaust erscheine der Erste Weltkrieg im Nachhinein nur als eine Station auf dem Weg in die Katastrophe und lange Zeit hat die Debatte über den deutschen Sonderweg in die Moderne den Diskurs der Wissenschaft bestimmt. Vor diesem Hintergrund sei Diskussion aber auch „hochgradig moralisch aufgeladen“ geführt worden, „was als das Gegenteil von vorurteilsfreier Erkenntnis zu betrachten ist,“ betonte Clark. Der Suche nach dem Schuldigen am Kriegsausbruch setzt der Historiker in seiner Forschung eine Zusammenschau von Ereignissen, Akteuren und deren Selbstzeugnisse entgegen, aus vielen Puzzleteilen rekonstruiert er das komplexe Ursachengeflecht der Entstehung des Krieges.
Zu kurz kommt nach Clarks Auffassung in den an die zehntausenden gehenden Schriften zur Kriegsentstehung beispielsweise die Rolle Serbiens, die in der bisherigen Forschung marginalisiert worden sei. Anhand verschiedener Gesprächsprotokolle der verantwortlichen Politiker betroffener Staaten wie der Ententemächte Frankreich und Russland zeigt Clark den Zuhörern die vielfältigen Facetten der Kommunikation auf, die – bei aller Verschiedenheit der Akteure – eines gemeinsam hatten: Den Krieg als unausweichliche Konsequenz in Gedanken und Worten zu antizipieren. Dies gelte für die Akteure in den Regierungen aller beteiligten Staaten.
Es sei keine Möglichkeit einer politischen Lösung in Betracht gezogen worden. „Österreich hat seine Entscheidung zum Kriegseintritt aus dem Bauch heraus gefällt. Es ist erstaunlich, wie wenig Risikoanalyse betrieben worden ist“, betont Clark in der anschließenden Diskussion mit den Zuhörern. Als Großmacht habe Österreich keinen anderen Weg gesehen als die Mobilmachung gegen Serbien, eine nachbarschaftliche Zusammenarbeit bei der Aufklärung der Morde an dem Thronfolger und seiner Frau hätten dem Verlauf eine andere Wendung geben können. Clark sieht bei allen Akteuren auch ein bestimmtes Verständnis von Männlichkeit am Werk, das den Weg in friedliche Lösungen versperrt habe sowie auch eine gewisse Unbeweglichkeit der handelnden Politiker: „Die frühere Generation von Politikern wie Bismarck oder Carvour hätte nicht so steif auf die Krise reagiert.“
Schlafwandler
Auf die Fragen der Zuhörer hin erteilt Clark auch der These eine Absage, wirtschaftliche Interessen seien ursächlich für den Kriegsausbruch gewesen: „Das war nicht entscheidend, die Ursachen waren nicht ökonomisch und rational motiviert. „Deutschlands Wirtschaft habe sich in einem Aufschwung befunden, der durch den Eintritt in den Krieg eher gestört worden sei.
Allen Akteuren gemeinsam gewesen sei das Wegsehen und die Inkonsequenz, so das Fazit des Historikers, das auch den Titel seines Buches „Sleepwalkers“ mitbestimmt habe. Es sei allen klar gewesen, dass es nicht bei einem kleinen Krieg bleiben würde, dass eine Materialschlacht die Konsequenz sein würde.
Von den Zuschauern befragt, wie sich vor dem Hintergrund seiner Forschung heute ein Krieg verhindern lasse, verwies Clark vor allem auf das Augenmerk gegenüber regionalen Krisen. Als Australier mache ihm hier vor allem das ostchinesische Meer Sorge, bei dem es sich um eine gefährliche Zone handele, wo es durch unnachgiebige Positionen auf allen Seiten immer wieder zu Eskalationen komme.
Außerdem zog Clark eine Parallele zur Eurokrise, die gerade auf dem Höhepunkt gewesen sei, als er das letzte Kapitel seines Buches geschrieben habe. Obwohl auch hier ein allgemeines Bewusstsein der Krise vorhanden gewesen sei, sei es nicht möglich gewesen, nationale Egoismen zu überwinden.
Systemischer Blick
In seiner Rezension von Clarks „Schlafwandlern“ in H-Soz-u-Kult würdigt Jost Dülffer vor allem das intensive Quellenstudium von Clark: „Noch kein Historiker hat so dicht aus Archivquellen, Forschungsliteratur und späteren Selbstzeugnissen die ‚mental maps’ einer so großen Zahl von Akteuren ermittelt, die auch in den Staaten plural waren und sie dann in täglichen Aktionen gezeigt.“ Clarks flüssiger, unprätentiöser und empathischer Stil ermögliche es dem Leser, sich hervorragend in die „doch so andere Mentalität dieser Zeit ein(zu)fühlen“.
Zur Rolle des Deutsche Reichs, dem eine ganze Generation von Historikern die Alleinschuld am Kriegsausbruch zugeschrieben hatte wie sie auch von den Siegermächten im Versailler Vertrag in Artikel 231 festgeschrieben worden war, liefert Clarks Buch eine deutlich andere Sichtweise. Eine Erklärung für den großen Erfolg des Buchs gerade auch in Deutschland lasse sich daraus aber nicht herleiten, findet sein Rezensent: „Das scheint ... wenig plausibel, denn der systemische Blick auf die Staatengesellschaft Europas und ihre Dynamiken darf mittlerweise als der internationale Standard der Zunft (der Historiker) gelten.“
Augen nicht vor den Anforderungen der Zeit verschließen
Rund neun Millionen Tote und 20 Millionen verwundete Soldaten, viele von ihnen durch den Einsatz moderner Technik grausam verstümmelt, sechs Millionen zivile Opfer, vier untergegangene Reiche und ein zerrüttetes Europa, das in die Weltwirtschaftskrise taumelt, die wiederum den Nationalsozialismus an die Macht bringt mit alle seinen verheerenden Konsequenzen für den ganzen Kontinent – zu den Opfern des „Katalogs des Schreckens“ gehört in letzter Konsequenz auch der Schriftstellter Stefan Zweig, von dem am Anfang die Rede war. Er hat den Umbruch, dem seine Generation ausgesetzt war, nicht verkraftet.
Das Vorwort zu seinem Buch „Die Welt von gestern“, in dem er die Zeitenwende analysiert, schreibt er im Jahr 1944 im Exil in Brasilien, es ist das Jahr, in dem er sich das Leben nehmen wird. Ein „wehrloser, machtloser Zeuge“ sei er gewesen, heißt es in dem Vorwort, Zeuge eines „unvorstellbaren Rückfalls der Menschheit in längst vergessen gemeinte Barbarei“.
Angesichts der unübersichtlichen, mulitpolaren politischen Lage im Zeitalter der Globalisierung mahnt Clarks Buch nicht nur die handelnden Akteure der Politik, sondern auch die Bürger der Zivilgesellschaft, die Augen nicht zu verschließen vor den Anforderungen der Zeit und sich ihnen mit größtmöglicher Geistesgegenwart zu stellen.
END/nna/ung
Literaturhinweis:
Christopher Clark (2013): Die Schlafwandler. München.
Stefan Zweig (1997): Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers. Frankfurt
Bericht-Nr.: 131202-02DE Datum: 2. Dezember 2013
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