Nachrichtenbeitrag
„Kein Guru, sondern ein ganz normales Genie“
WEIL AM RHEIN (NNA) - Kurz vor Ende des Jubiläumsjahrs wurde Rudolf Steiner noch eine besondere Ehre zuteil: Peter Sloterdijk, einer der führenden Philosophen der Gegenwart, würdigte den Begründer der Anthroposophie als ein „ganz normales Genie“. Da die zeitgenössische Philosophie vermehrt den Blick auf das Individuum richte, gebe es heute neue Gründe, nach Steiner zu fragen, betonte Sloterdijk. Er habe die Subjektivität mit einer nach oben offenen Dimension versehen.
Sloterdijk, derzeit Rektor der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe, diskutierte anlässlich der Eröffnung der Ausstellung „Rudolf Steiner - Die Alchemie des Alltags“ im Vitra Design Museum in Weil am Rhein mit dem Leiter des Rudolf Steiner Archivs, Walter Kugler und mit dem Chefkurator der Ausstellung, Mateo Kries über die Bedeutung Rudolf Steiners in Geschichte und Gegenwart.
Die vom Vitra Design Museum konzipierte Ausstellung, die auf ihrer Tournee durch Kunstmuseen in Wolfsburg, Stuttgart, Wien und Prag für Besucherrekorde gesorgt hatte, ist jetzt an den Ort ihrer Entstehung zurückgekehrt und wird in Weil noch bis 1. Mai 2012 zu sehen sein.
Mehrere hundert Besucher füllten am späten Nachmittag das von der irakischen Architektin Zaha Hadid entworfene Feuerwehrhaus, um zu hören, was Peter Sloterdijk über das „Phänomen Steiner“ zu sagen hat. Auf die Frage von Mateo Kries, was ihn an Steiner reize, erwiderte Sloterdijk, Steiner stehe an einer sehr markanten Stelle der Geschichte, an der das Christentum massiv an Glaubwürdigkeit eingebüßt habe. Damals seien manche zu der Überzeugung gekommen, man müsse die Verhältnisse von Grund auf ändern, nicht im Hinterzimmer eines Lokals eine neue Partei gründen. Als Bilanz des 20. Jahrhunderts müsse man heute sagen: Nicht die Revolutionäre, sondern die Lebensreformer haben Recht behalten, die eine Veränderung von innen anstrebten. Heute sei man eher bereit, in Steiner nicht einen Guru, sondern „ein ganz normales Genie“ zu sehen.
Walter Kugler betonte, Steiner habe auf der Horizontalen der verschiedenen Lebensreformbewegungen gleichsam eine Höhen und Tiefen verbindende Vertikale errichtet. Der Aufschwung ins Spirituelle sei bei Steiner nie ohne Berücksichtigung des Materiellen geschehen. Ihm sei das Profane ebenso wichtig gewesen wie das Heilige. Viele Anthroposophen seien aber in einseitiger Weise mehr am Heiligen interessiert gewesen. Steiner habe der “Diktatur des kategorischen Imperativs“ die Kraft der Phantasie entgegengesetzt. Der Aufbruch der Moderne habe europaweit das Ende eines finsteren Zeitalters und zugleich eine Wende zum Spirituellen markiert: „Der Himmel war offen, man musste nur hingucken.“
Das Verbot der Anthroposophischen Gesellschaft unter dem Naziregime und die isolierte Situation Dornachs während des Zweiten Weltkriegs hätten viel zur jahrzehntelangen öffentlichen Nichtbeachtung Steiners beigetragen. Die gezielte Marginalisierung Steiners von außen habe sich nach 1945 fortgesetzt, während die Anthroposophen in aller Stille weitergearbeitet hätten ohne die Maxime zu beachten „Tue Gutes und rede darüber“. Noch 1983 sei ein Harald Szeemann mit seiner Ausstellung „Der Hang zum Gesamtkunstwerk“, in dem er auch Steiner präsentierte, in das offene Messer der Kritiker gelaufen, die das Konzept des Gesamtkunstwerks in einen engen Zusammenhang mit Totalitarismus gebracht hätten. Mateo Kries meinte, durch ihr künstlerisches Epigonentum („Versteinerung“) hätten die Anthroposophen selbst viel zu ihrer Isolierung beigetragen und lange Zeit ein kulturelles Nischendasein geführt.
Sloterdijk bestätigte das aus eigener Erfahrung mit dem Hinweis, dass man selbst in der Diskothek den Anthroposophen sofort habe erkennen können. „Wir haben aber heute neue Gründe, nach Steiner zu fragen. Die zeitgenössische Philosophie fragt heute vermehrt nach dem Individuum.“ Steiner habe die Subjektivität „nach oben anschlussfähig gemacht“. Es komme ihm angesichts der Wende in Steiners Biographie nach 1900 so vor, als ob in Steiner ein manischer Generator angeworfen worden wäre. In seinen zahlreichen Vorträgen habe Steiner eine neue Form mündlichen Philosophierens entwickelt. Sloterdijk bezeichnete Steiner als den „größten mündlichen Philosophen des 20. Jahrhunderts“.
Steiner habe nicht nur redend, sondern auch mit künstlerischen Mitteln gewirkt, ergänzte Kries. Im Hinblick auf Steiners Wandtafelskizzen meinte Sloterdijk: “Steiner hat schlicht die PowerPoint Präsentation mit Kreide erfunden.“ Er habe vor der Tafel improvisiert und darauf vertraut, dass ihn im rechten Moment die Evidenz ergreife, wie es schon Fichte von einem guten Redner erwartet habe. Dabei sei Steiner gleichsam zum Medium, zu einem „Antennenmenschen“ geworden.
Was der Dadaist Hugo Ball nach dem ersten Weltkrieg gesagt habe: „Alle Welt ist medial geworden“, habe Steiner schon zwei Jahrzehnte früher geahnt. Er habe gespürt, dass etwas ganz Neues in der Luft lag. Der heutige Zeitgeist lasse nach einer Periode der „coolness“ bestimmte Formen der Pathetik wieder zu, wovon auch Steiner profitiere. Kries bestätigte, auch die Architektur habe seit den späten 1980er Jahren wieder mehr Bewegung und Schwung in diesem Sinn bekommen. In den Künsten bestehe heute wieder eine Sehnsucht nach neuer Sinn-Aufladung. Erstaunlich viele junge Künstler seien bereit, ihr Schaffen mit demjenigen Steiners kontextualisieren zu lassen, weil sie spüren: Hier könnte ein Überbau für mich sein. Designer seien heute oft weltanschaulich Suchende, die nach der Ethik und nach der Nachhaltigkeit ihres Tuns fragen.
Bei dem Podiumsgespräch fehlten auch heitere Momente nicht. Als Kries das ausgestellte riesige Bett im traditionellen Dornach-Stil erwähnte, das in seiner Massivität abschreckend wirken kann und das er scherzhaft als “Schlumpfbett“ bezeichnete, meinte Sloterdijk: „Die frühen Anthroposophen hatten wohl eine heroische Moral. Sie waren offenbar bereit, jede Nacht zu den ‚Müttern’ zu gehen.“
Abschließend zog Sloterdijk das Resümee: „Die Antennen sind heute wieder ausgefahren. Immer mehr Menschen ahnen, dass weltweite Kooperation überlebenswichtig ist. Steiner ist ein idealer Transmitter für diese Botschaft.“
In der vorausgehenden Pressekonferenz hatte Mateo Kries einen Einblick in die lange Entstehungsgeschichte der Ausstellung gegeben und unterstrichen, dass sie nicht von der anthroposophischen Szene ausgegangen sei. Man habe nicht zu Steiner bekehren, sondern den noch relativ unbekannten gestalterischen Aspekt seines Werkes in den Vordergrund stellen wollen. Dabei habe man die Zugangsschwelle möglichst niedrig gehalten: Den Besuchern sollte vermittelt werden, dass Steiner nicht nur „den Anthroposophen gehöre“, sondern auch für ein breiteres Museumspublikum interessant sei. Kries dankte den zahlreichen Leihgebern und Sponsoren, darunter der Kulturstiftung des Bundes, für ihre Unterstützung.
Museums-Manager Marc Zehntner erläuterte den Journalisten das Rahmenprogramm zur Ausstellung in Weil am Rhein, es sei das umfangreichste, das Vitra je konzipiert habe: 44 Veranstaltungen sollen mit Bezug auf Steiner stattfinden, davon ein Drittel extern im Dreiländereck des Großraums Basel. Die Palette reiche von dem im November in der Fondation Beyeler geplante Podiumsgespräch “André Breton trifft Steiner“ bis zu Führungen mit dem Motto “Steiner für Kinder“.
Mateo Kries führte die Pressevertreter durch die reich bestückte Ausstellung, die das Steinersche Lebenswerk in zeitgenössische Bewegungen wie Lebensreform, Jugendstil oder Expressionismus einbettet.
Darin wird deutlich, dass viele Vertreter der kulturellen Avantgarde nicht nur von Steiner wussten, sondern auch einen geistigen Austausch mit ihm suchten. Mit der Gegenüberstellung von Objekten und Entwürfen nichtanthroposophischer Künstler wie Olafur Eliasson und dem sogenannten „Dornach Design“ werden zunächst rein ästhetischen Bezüge hergestellt, etwa eine Ähnlichkeit der Formen. Die Ausstellung ist aber bemüht, auch auf gedankliche Berührungspunkte hinzuweisen: für zahlreiche Künstler bot Steiners Ideenkosmos einen ideologischen Überbau, der ethisch fundiert und alltagstauglich war. Joseph Beuys’ „Eine Rose für direkte Demokratie“ (1973) spielt auf die gesellschaftspolitische Dimension des Steinerschen Werks an. Um der Gefahr einer bloßen Hommage an Steiner vorzubeugen, wurden auch zeitgenössische Karikaturen und kritische Pressestimmen zur Person Steiners in die Ausstellung aufgenommen.
END/nna/vog
Literaturhinweis:
Ausstellungskatalog: Rudolf Steiner – Die Alchemie des Alltags. Hrsg. Mateo Kries, Alexander von Vegesack, Vitra Design Museum 2010. 79,90 €. Deutsche Ausgabe: ISBN 978-3-921936-85-3. Englische Ausgabe: ISBN 978-3-921936-86-0.
Bericht-Nr.: 111016-01DE Datum: 16. Oktober 2011
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