Nachrichtenbeitrag
Im Zwiespalt zwischen Anthroposophie und Kapital
Erstmalig ist jetzt im Johannes Mayer Verlag Stuttgart eine Biografie des schwäbischen Unternehmers und Sozialreformers Emil Molt (1876 -1936) erschienen, dem die Waldorfschulen ihre Existenz verdanken. Der „Vater der Waldorfschule“ ist den wenigsten ein Begriff. NNA-Korrespondent Wolfgang G.Vögele hat sich das Buch angesehen, in dem viel Unbekanntes und auch Brisantes zutage gefördert wird.
STUTTGART (NNA) - Verfasser der Biografie ist Dietrich Esterl, pensionierter Waldorflehrer und profunder Kenner der Geschichte der Waldorfschulbewegung. Esterls neues Buch beruht auf langjährigen Recherchen, u.a. im Archiv des Bundes der Freien Waldorfschulen.
Molt ist sogar in der Waldorfschulbewegung kaum bekannt, nur zwei Institutionen tragen seinen Namen, die Emil-Molt-Akademie in Berlin und die Waldorfschule in Calw. Als Direktor der 1906 gegründeten Waldorf-Astoria-Company m.b.H. Cigarettenfabrik Hamburg-Stuttgart hatte Molt die Waldorfschule 1919 in Stuttgart als Betriebsschule für die Kinder seiner Arbeiter gegründet und aus seinem Privatvermögen finanziert. Sein Ziel war es, das Menschenrecht auf gleiche Bildung für alle zu verwirklichen. Bereits 1906 hatte sich der schwäbische Fabrikant der anthroposophischen Bewegung angeschlossen. Nach dem 1.Weltkrieg setzte sich Molt öffentlich für Rudolf Steiners Dreigliederung des sozialen Organismus ein. So lag es nahe, Steiner mit dem pädagogischen Konzept für die neue Schule zu beauftragen. Am Ende trat Molt gegenüber dem pädagogischen Initiator fast völlig in den Hintergrund.
In Esterls Biographie wird Emil Molt dem Leser als Unternehmer mit seinen Erfolgen und Niederlagen nahegebracht, denn wie viele Unternehmer der anthroposophischen Bewegung stand auch Molt im Spannungsfeld zwischen Kapitalismus und anthroposophischen Reformbestrebungen. Sein Engagement und seine Mitarbeit in einigen daraus hervorgegangenen Institutionen führte zu internen Konflikten. Biograf Esterl scheut nicht davor zurück, diese klar zu benennen bis hin zu den Spannungen, die sich offenkundig auch zwischen Molt und Steiner ergeben haben.
Die Biographie ist übersichtlich in vier Hauptkapitel gegliedert, enthält einen dokumentarischen Anhang mit einem Vortrag und einer Ansprache Molts sowie einem Exkurs über die „Waldorf-Bücherei“, eine Schriftenreihe, an der namhafte deutsche Schriftsteller mitwirkten. Für den Werdegang der Firma Waldorf Astoria zieht Esterl Berichte von Molts Privatsekretär Otto Wagner heran; er bringt auch Zitate aus bisher unveröffentlichten Briefen von Waldorflehrern, die sich über Molt äußern. Das Buch besitzt ein hilfreiches Personenregister und ist mit sorgfältig ausgewähltem, qualitativ hochwertigem Bildmaterial ausgestattet.
Der gelernte Kaufmann Emil Molt gründete 1906 mit zwei Geschäftspartnern seine eigene Zigarettenfabrik. Das Unternehmen florierte und beschäftigte 1919 etwa 1000 Mitarbeiter. Geschäftsreisen führten Molt in die Tabak-Anbaugebiete Griechenlands und der Türkei. Molt kümmerte sich vorbildlich um die sozialen und kulturellen Belange seiner Arbeiter. So erwarb er für seine Arbeiter zwei Erholungsheime. 1918 richtete er firmeneigene Arbeiterfortbildungskurse ein. Die Werkszeitung „Waldorf-Nachrichten“ sollte die Allgemeinbildung seiner Arbeiter fördern.
Für Molt war die soziale Frage auch immer eine Erziehungsfrage. Schon auf einer Betriebsratssitzung am 23.4.19 hatte er die Absicht geäußert, eine Betriebsschule zu gründen. Nach Molt müssten zuerst die Gedanken und Gefühle der Menschen sozialisiert werden, ehe die Gesellschaft sozialisiert werde (S.87). In seiner Betriebszeitung ließ er die von der SPD geforderte „Einheitsschule“ diskutieren.
Noch rechtzeitig vor der beginnenden Geldentwertung kaufte Molt aus seinen Privatmitteln ein Schulgebäude an und stattete die Schule mit 100.000 Mark Anfangskapital aus. Die Schule begann mit 256 Schülern: 191 Arbeiterkindern und 65 Kindern aus besser gestellten anthroposophischen Familien. Das Schulgeld für die Arbeiterkinder zahlte die Fabrik. Auch nach dem späteren Verlust seiner Firma zahlte Molt die Schulgelder „seiner“ Arbeiterkinder persönlich weiter. Steiner regte an, dass diese Schule allen Kindern offen stehe und nicht nach Herkunft, Religion, Geschlecht oder Begabung selektiert werden solle.
Wie aus den Bauplänen hervorgeht, an denen Molt mitbeteiligt war, hatte er schon 1920 vorausschauend an eine Hochschule und einen Kindergarten auf dem Schulgelände gedacht.
Der bislang noch kaum aufgearbeitete Themenkomplex „Steiners häufige Konflikte mit seinen Mitarbeitern“ spiegelt sich auch in Molts Biographie. Die Ursachen dieser Konflikte wurden bisher eher den Mitarbeitern angelastet. Hier geht Esterl nun einen anderen Weg und stellt die Frage, ob nicht auch Rudolf Steiner z.B. durch unglückliche Besetzung bestimmter Positionen mit zu den Konflikten beigetragen hat.
Den Schwerpunkt der Darstellung legt Esterl auf die Jahre nach 1922, die bisher kaum dokumentiert worden sind. Esterl sieht z.B. einen „tragischen Bruch“ in Molts Biographie, der sich aus dem weiteren Schicksal der Waldorf-Astoria-Fabrik ergeben hat.
Hier konzediert Esterl Schwierigkeiten in der Auswertung der Dokumente: Vor allem der Zusammenhang der Astoria-Firmengeschichte mit der von Molt initiierten Wirtschaftsassoziation „Der Kommende Tag AG“ sei schwer durchschaubar, u.a. weil wichtige Unterlagen in den Archiven fehlten und weil die Memoiren der Zeitzeugen oft widersprüchlich seien.
Sicher ist sich Esterl aber in einem Punkt: Molt habe das Vertrauen Steiners verloren, als die Futurum AG scheiterte und Molt die Aktien seiner Fabrik in Deutschland verkaufte. Molt fühlte sein Lebenswerk, die Astoria Fabrik vom „Kommenden Tag“ abgestoßen, obwohl sie wirtschaftlich die besten Zukunftschancen gehabt habe.“ „Es war“, resümiert Esterl, „als habe man einem Segelschiff den Mast abgesägt, weil das größte Segel gerade nicht genügend Geschwindigkeit brachte.“ (S.270)
Esterl hebt die Bedeutung der letzten Lebensjahre Molts für die Existenz der Waldorfschule hervor, deren Schließung 1938 Molt nicht mehr erlebte. In der schwierigen Situation nach der Machtergreifung Hitlers sieht Esterl in Molt einen Protektor der Schule, der sich gegen eine Anpassung an die Vorgaben des NS-Staates gewandt habe. Als Vorkämpfer für die Dreigliederung habe Molt die Gefährdung der Schule durch ein totalitäres System gesehen.
In diese Jahre fällt auch die Spaltung der Anthroposophischen Gesellschaft (1935), deren Folgen auch im Stuttgarter Lehrerkollegium schmerzlich spürbar waren. Bereits 1931 war das Stuttgarter Kollegium ideologisch gespalten, was die ihm von Steiner noch aufgetragene Kontrollfunktion bei Schulneugründungen im In- und Ausland erschwerte.
Nach der Machtergreifung mussten sich die deutschen Waldorfschulen zwischen Gleichschaltung und Schließung entscheiden. Die einzelnen Schulen taten dies auf sehr unterschiedliche Weise, aber auch in den zuständigen NS-Behörden herrschte anfangs noch Uneinigkeit über die Haltung zur anthroposophischen Pädagogik. Esterl spricht hier gleichwohl von „Grauzonen der Abgrenzung“, die trotz grundsätzlicher Unvereinbarkeit der Waldorfpädagogik mit der NS-Ideologie bestanden haben. Auch Molt habe sich zum Teil an „fragwürdigem“ Taktieren gegenüber den NS-Machthabern beteiligt. Am Ende zieht Biograf Esterl jedoch ein entlastendes Fazit: Durch seine stets vermittelnde Funktion zwischen den einzelnen Fraktionen im Lehrerkollegium sowie zwischen dem Teil der Eltern der Waldorfschule, der der NSDAP nahe stand und dem Kollegium sei es Molt zu verdanken, dass die Waldorfschule in ihrer Substanz erhalten geblieben sei.
Hätten die Waldorfschulen durch ein Mehr an Anpassung im NS-Staat überlebt, wie dies von den der NSDAP nahestehenden Teilen der Elternschaft gefordert worden war, so gäbe es heute keine einzige Waldorfschule mehr, resümiert Esterl. Die Alliierten hätten diesem Typ von Schule keine Genehmigung erteilt.
Molt hat die Schließung „seiner“ Waldorfschule in Stuttgart nicht mehr erlebt, er starb 1936. In Molts Autobiographie sei der Schmerz über gescheiterte Aktionen und interne Zerwürfnisse spürbar, betont Esterl.
Dabei sieht der Molt-Biograph Parallelen zwischen den Pionierjahren der Anthroposophie und der Gegenwart. Steiner wollte durch direktes Einwirken auf die gesellschaftlichen Verhältnisse und mit praktischen Modellen wie der Waldorfschule verhindern, dass sich Katastrophen wie der erste Weltkrieg wiederholen. Heute seien die globalen Krisen eher größer geworden, es gäbe aber auch deutliche Anzeichen für neue Ideen, die optimistisch stimmten.
Anthroposophie sei bis in die 1970er Jahre ein kaum beachtetes Exotikum geblieben. Die Fragen, die Molt bewegt hätten, stellten sich heute erneut in der Auseinandersetzung mit Anthroposophie-Kritikern. Nüchtern stellt Esterl fest, die Anthroposophische Gesellschaft habe es versäumt, ihre „inneren Verhältnisse“ sachgemäß aufzuarbeiten. In Folge dieses Versäumnisses leide sie heute an Überalterung und Mitgliederschwund und kämpfe um ihr Überleben.
Esterl bedauert, dass immer mehr Mitarbeiter anthroposophischer Institutionen ohne Bezug zur Anthroposophischen Gesellschaft, ja zu den Grundlagen der Anthroposophie arbeiteten. Gleichzeitig wachse die Akzeptanz der Praxisfelder und weltweit regten sich Fragen nach dem „Bewusstsein unseres Menschentums“, was ja Kernanliegen der Anthroposophie sei.
Die These vom Angekommensein der Anthroposophie in der Mitte unserer Gesellschaft teilt Esterl nicht, glaubt aber, dass sie das Potential dafür besitze: Gefragt seien hier vor allem Praktiker, wie Molt einer gewesen sei. Dieser habe sich bemüht, eine authentische Sprache zu finden, die von Zeitgenossen verstanden werden konnte. Außerdem sei es ihm darum gegangen, eine Kultur des sozialen Zusammenwirkens zu finden, die Kräfte freisetze und nicht lähme. Trotz vieler Hindernisse und Rückschläge sei sich Molt sicher gewesen, wertvolle Keime gelegt zu haben. Gerade deshalb eröffne seine Biographie einen wichtigen Aspekt zum Verständnis der Anthroposophie im 20. Jahrhundert.
End/nna/vog
Dietrich Esterl: Emil Molt 1876-1936. Tun, was gefordert ist. Stuttgart: Verlag Johannes M. Mayer 2012, 344 S., € 24.80, ISBN 978-3-867-83026-3
Bericht-Nr.: 121031-01DE Datum: 31. Oktober 2012
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