Nachrichtenbeitrag
Historisch-kritische Steiner-Ausgabe erstmals erschienen
Ein erster Band der im frommann-holzboog Verlag, Stuttgart geplanten historisch-kritische Ausgabe von Rudolf Steiners Hauptwerken ist jetzt erschienen. Es handelt sich um Band 5, in dem Textentwicklung und Quellen von „Die Mystik im Aufgang des neuzeitlichen Geisteslebens“ (1901) sowie „Das Christentum als mystische Tatsache“ (1902) dokumentiert werden. Ansgar Martins hat für NNA in den Band hineingeschaut.
STUTTGART (NNA) – Die Ausgabe druckt Steiners Texte in der Fassung letzter Hand ab und vermerkt an gleicher Stelle die Änderungen gegenüber früheren Auflagen. In umfangreichen Kommentaren werden außerdem die literarischen Quellen und Vorlagen angeführt, auf die Steiner bei der Abfassung zurückgegriffen hat. Herausgeber Christian Clement hebt die philosophische Grundlage von Steiners-Mystik-Deutung hervor und merkt an, Steiner habe sich aus einem sehr kleinen Spektrum von Literatur zur Mystik bedient. Teilweise habe er sie ohne explizite Kennzeichnung in seine Darstellung eingearbeitet: „Weite Passagen, die sich wie Steiners eigene Gedankenentwicklung lesen, weisen sich beim Quellenstudium als unausgewiesene Paraphrasen der von ihm benutzten Sekundärliteratur“, so Clement.
Das aber mindert in den Augen ihres neuen Herausgebers die Aussagekraft von Steiners Deutungen der Mystik nicht, Clement sieht in ihnen vielmehr eine „zweite methodische Grundlegung“ der Anthroposophie neben den philosophischen Werken Steiners.
Über Rudolf Steiners Leben und Lehre um die Wende zum 20. Jahrhundert ist in den letzten Jahren viel Kontroverses publiziert worden. Ein Streitpunkt war immer wieder die Frage, wieviel Kontinuität in Steiners Werk zu finden sei. Zunächst philosophischer Individualist und Kulturkritiker wurde Steiner innerhalb weniger Jahre zum Vorsitzenden einer esoterischen Organisation, der Theosophischen Gesellschaft. Der Bohème und bekannte Goethe-Editor hielt dann quasi über Nacht Vorträge zu Themen wie Karma, Engelhierarchien oder planetarische Evolution. Herausgeber Clement positioniert sich in dieser Kontroverse als jemand, der die Kontinuitäten in Steiners Denken hervorhebt und begründet dies in den ausführlichen Kommentaren.
Vor der Jahrhundertwende hatte Steiner die „wahre“ Grundlage aller Religion und Mystik im menschlichen Ich gesehen. Der Mystiker, so Steiners Auffassung, finde nichts als sein eigenes Selbst, projiziere es aber in einen extern gedachten Gott. 1902, im „Christentum als mystische Tatsache“, vertrat Steiner einen ähnlichen Ansatz: Der „Myste“ habe gewusst, dass die „Volksgötter“ vom Menschen geschaffen seien. Doch er wollte, so Steiner, „diese götterschaffende Kraft“ als solche „schauen“ und damit ein „Höheres“ finden, das im Menschen und in der Natur gleichermaßen wirksam sei.
Für Clement weist damit nicht Steiners Philosophie schon auf seine Esoterik hin, sondern umgekehrt: „Die Steinersche Esoterik“, heißt es in der Einleitung, könne „als eine zum Zweck der Anschaulichkeit vorgenommene ideelle Umstülpung seiner Philosophie verstanden werden, in welcher dasjenige, was zuvor Inneres war, als Äußeres angeschaut wird und umgekehrt.“ Damit wären die esoterischen „Wesenheiten“ bildhaft gemeint und die Anthroposophie selbst letztlich eine Illustration dieser „götterschaffenden Kraft“ im Menschen, keine neue Metaphysik.
Mit dem Hinweis auf diese ich-philosophische Grundstruktur von Steiners Mystik um 1901/2 relativiert Clement viele der darin verhandelten Inhalte: Seiner Deutung nach dachte Steiner hier noch nicht an ein esoterisches Christentum. Vielmehr suchte er nach den Mechanismen, nach denen religiöse und mythische Vorstellungen überhaupt gebildet werden.
Eine Schwäche von Clements Darstellung liegt in der nur begrenzt stattfindenden Diskussion dieses Ansatzes mit der schon vorliegenden Sekundärliteratur. Viele der Thesen leiden so darunter, dass sie nicht mit alternativen Deutungen abgeglichen werden. Nur Helmut Zander und Lorenzo Ravagli tauchen etwa für die historische Einordnung der beiden Schriften länger auf, Autoren wie Gerhard Wehr und Christoph Lindenberg oder Robin Schmidts Studie über „Rudolf Steiner und die Anfänge der Theosophie“ (2010) sucht man an dieser Stelle vergeblich. Allerdings hat der prominente Mystik-Forscher Alois Maria Haas ein Vorwort verfasst, das die ganze Breite psychologischer, religiöser und neomystischer Aufbrüche um 1900 – von Freud zur Theosophie – abhandelt.
Ebenfalls vermissen kann man einen Rückblick auf Steiners bereits radikal metaphysische Haltung in seinen Goethe-Schriften, seine anti-idealistische Position in den späten 1890ern sowie einen Ausblick auf die weitere Entwicklung von Steiners Weltanschauungskosmos aus den Mystik-Schriften. Die Metamorphosen von Steiners geistiger Entwicklung werden von Clement zwar zur Grundlage seiner Interpretation gemacht – als Denken in „Umstülpungen“ – in ihrer jeweiligen Radikalität aber letztlich nicht ernst genommen.
Möglicherweise findet auch Steiners Verhältnis zur Mystik vor 1900 zu wenig Beachtung: Im Rückblick auf seine Studienzeit sprach Steiner etwa über „das mystische Element, in dem ich eine Zeitlang in Wien fast besorgniserregend geschwommen habe.“ Seine Beschäftigung mit Mystik und Theosophie hat eben nicht erst mit den beiden jetzt erschienenen Schriften begonnen, sondern bereits in seinen Wiener Jahren. Das zeigt auch Clement selbst mit der Bemerkung, dass Steiner in den Vorträgen, die er später in Buchfassung zum „Christentum als mystische Tatsache“ zusammenkürzte, schon sehr vertraut mit theosophischen Autoren und Schriften war. Sogar von „Reinkarnation“ sprechen die Vorträge bereits, während das Buch sie nur am Rande und unter dem Terminus „Seelenwandelung“ erwähnt.
Aber all diese Kritikpunkte sind Detailprobleme im normativen Ansatz einer methodisch exzellenten Edition – und zur Bearbeitung solcher Fragen hat Clement ohne jeden Zweifel eine der wichtigsten Publikationen der letzten Jahre vorgelegt. Dass Clements kritische Steiner-Ausgabe zum Zankapfel zwischen historischer Esoterikforschung und traditioneller Steiner-Exegese werden könnte, ist nicht zu erwarten: Bisher hat das Editionsprojekt diese Fronten eher versöhnt als verschärft. So hat der Duktus der Ausgabeunter anderem auch David Marc Hoffmann, den neuen Leiter der Rudolf Steiner-Nachlassverwaltung, offenkundig überzeugt. Denn auf seine Empfehlung hinunterstützt nun auch der Rudolf Steiner-Verlag die historisch-kritische Steiner-Edition.
END/nna/ams
Literaturangabe:
Rudolf Steiner: Schriften. Kritische Ausgabe (SKA), hg. v. Christian Clement, fromann-holzboog: Stuttgart 2013ff.
Auszug online:
Bericht-Nr.: 131025-01DE Datum: 25. Oktober 2013
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