Nachrichtenbeitrag

Gülen-Bewegung: Geheimbund oder zivilgesellschaftliche Kraft?

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Von NNA Mitarbeiter

Der Erziehungswissenschaftler Prof. Barz fordert eine sachliche und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der weltweiten Gülen-Bewegung.

Mainz (NNA) – In der Türkei macht Präsident Erdogan die weltweit agierende Bewegung des Predigers Fetullah Gülen für den gescheiterten Umsturzversuch des Militärs verantwortlich: Zehntausende Menschen wurden mit dem Vorwurf verhaftet, der Gülen-Bewegung nahezustehen, zuletzt auch über 40 Journalisten. Der Erziehungswissenschaftler Prof. Rainer Barz mahnt eine sachliche Auseinandersetzung mit der Bewegung an. NNA hat ihn dazu befragt.

NNA: Herr Prof. Barz, Sie haben sich mit einem Papier zur Gülen-Bewegung an die Öffentlichkeit gewandt, was ist der Grund?

Prof. Barz: Die erschütternden Ereignisse in der Türkei wirken sich auch in Deutschland aus. Die als Sündenbock von Erdogan verfolgte Bewegung hat auch in Deutschland viele Bildungseinrichtungen, darunter ca. 30 private Schulen gegründet. Von daher können wir nur ein Interesse daran haben, dass die Diskussion um die Gülen-Bewegung durch sachliche Information und belastbare Daten auf eine solide Grundlage gestellt und damit dem bloßen Widerstreit der unterschiedlichen Meinungen und Vorurteile entzogen wird.

NNA: Handelt es sich bei der Gülen-Bewegung um ein neueres Phänomen?

Prof. Barz: Seit ca. zehn Jahren macht diese – auch als Hizmet-Bewegung bezeichnete – Bewegung von sich reden, sie tritt für ein konsequentes Bildungsengagement ein, ist aber gleichwohl in der Tradition des Islam verwurzelt. Sie scheint ein enormes Mobilisierungspotential insbesondere in der muslimischen akademischen Bevölkerung – auch hier in Deutschland – zu besitzen. Sie ist durch Nachhilfeangebote, Privatschulgründungen und Studierenden-Wohngemeinschaften im Bildungsbereich sehr aktiv. Gleichzeitig ist sie in Deutschland teilweise mit einer äußerst kritischen Reaktion in Wissenschaft und Öffentlichkeit konfrontiert, die ihr eine geheimbundartige zielstrebige Unterwanderung der westlichen Gesellschaften unterstellt.

NNA: Sie hatten in einer Studie auch nach der Gülen-Bewegung gefragt, was kam dabei genau heraus?

Prof. Barz: Das hier erstmals veröffentlichte Ergebnis unserer Frage: 6 Prozent der Befragten mit türkischem Migrationshintergrund können sich vorstellen, ihr Kind dort anzumelden; weitere 17 Prozent würden gerne mehr über diese Schulen wissen. Das ergibt ein Gesamt-Potential von 23 Prozent. Hochgerechnet auf die Gesamtzahl der türkischstämmigen Kinder und Jugendlichen in der BRD ergibt das ein Potential von (konservativ) geschätzten 200.000 Schülerinnen und Schülern. Damit würden die Gülen-Schulen auf eine im Vergleich zu den Waldorfschülern in Deutschland doppelt so hohe Schülerzahl kommen – in Schulen gerechnet also ca. 500 Schulen. Anders herum kann man auf Basis dieser Daten annehmen, dass die aktuell gut zwei Dutzend Schulen erst den Anfang darstellen.

NNA: Bei der Gülen-Bewegung handelt es sich offenbar um ein weltweites Phänomen ...

Prof. Barz: „Baut Schulen statt Moscheen“ lautet ein oft zitiertes Motto von Fethullah Gülen. Man kann ihn als den wahrscheinlich prominentesten türkischen Prediger der islamischen Moderne bezeichnen, seit 1999 lebt er in den USA. Seine türkisch-sunnitisch verankerten und konservativ geprägten Leitgedanken mit Elementen des Sufismus, beeinflussten im Laufe der letzten dreißig Jahre Millionen von Menschen.

Heute gibt es weltweit hunderte namhafte Organisationen in Wirtschaft, Medien und Bildung, die sich auf Gülen berufen. Insgesamt sollen der Gülen-Bewegung ca. 10 Millionen Personen angehören. Das Time Magazine bezeichnete Fethullah Gülen als einen der 100 einflussreichsten Menschen der Welt.

Ende des Jahres 2013 begann Staatspräsident Erdog?an mobil gegen die Gülen-Bewegung zu machen. Deren Anhänger hatten ihrerseits Mitglieder von Erdog?ans Kabinett durch Korruptionsermittlungen massiv in Schwierigkeiten gebracht. Gülens Hizmet-Bewegung ist in der Türkei inzwischen zur Terrororganisation erklärt worden und Erdog?an hat Gülen per internationalem Haftbefehl zur Fahndung ausgeschrieben.

NNA: Wie ist dies nun alles einzuschätzen?

Prof. Barz: Schon die Titel der Bücher, die sich mit der Gülen-Bewegung auseinandersetzen, signalisieren produktive Spannungsfelder: „Zwischen Tradition und Moderne“ (Homolka u.a. 2010), „Zwischen Predigt und Praxis“ (Boos-Nünning u.a. 2011), „Zwischen Netzwerk und Diskurs“ (Agai 2008). Gülen wird als der „Gandhi des Islam“, als muslimischer Erneuerer wie einst Luther, seine Lehre als islamischer Calvinismus, seine Bildungsrevolution als Versöhnung von Islam und moderner Leistungsgesellschaft gepriesen. Der baden-württembergische Ministerpräsident, die Bundesforschungsministerin, Rita Süßmuth, Bill Clinton – um nur einige zu nennen – treten auf Veranstaltungen der Gülen-Bewegung auf und würdigen deren zivilgesellschaftliches Engagement als wichtigen Beitrag der muslimischen Bevölkerungsminderheit zur Integration.

NNA: Woher kommt dann das umstrittene Image der Bewegung?

Prof. Barz: Auf der anderen Seite stehen Medienberichte, in denen eine geheimbundartige Untergrundtätigkeit, Manipulation und Gehirnwäsche der Mitglieder und Weltherrschaftsphantasien einer Art „Scharia im Schafspelz“ beschworen werden. Vergleiche gehen in Richtung Opus Dei oder Ajatollah Chomeini angeheizt insbesondere durch türkischstämmige Kritikerinnen wie Lale Akgün oder Necla Kelek, die etwa in der FAZ 2008 die Bewegung als "undurchsichtige islamistische Sekte mit Konzernstruktur" bezeichnete. In einer weiteren Interpretationsrichtung werfen türkische Nationalisten Gülen seit langem vor, ein Verbündeter des Westens, der USA, der EU und "der Juden" zu sein.

NNA: Was halten Sie für erforderlich, um hier zu einer validen Einschätzung zu kommen?

Prof. Barz: Es muss verwundern, dass sich die seriöse wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dieser transnational verfassten zivilgesellschaftlichen Strömung bestenfalls am Anfang befindet. Es findet sich für Deutschland heute lediglich eine erste Pilotstudie (und ab Oktober 2016 ein DFG-Projekt), in der die Kommunikations- und Interaktionsstrukturen der sog. Lichthäuser dokumentiert werden. Mittels teilnehmender Beobachtung wurden auch die dort zirkulierenden weltanschaulich-spirituellen Inhalte eingeordnet. Das Fazit der Untersuchung: „Keinesfalls kann auf der Grundlage der bisherigen Forschung von einer Indoktrination in den „sohbetler“, also den religiösen Gesprächsgruppen der Bewegung gesprochen werden, wie es durch den öffentlichen Diskurs nahegelegt wird.

Auch ein für die Stiftung Wissenschaft und Politik erstelltes Gutachten betont, „dass die nach außen gerichteten zivilgesellschaftlichen Aktivitäten der Bewegung in Deutschland, ihr Engagement im Bereich der Bildung und des interreligiösen bzw. interkulturellen Dialogs, objektiv der Integration von Migranten in die deutsche Gesellschaft dienen”.

NNA: Gibt es in anderen Ländern auch Einschätzungen dazu?

Prof. Barz: In der Schweiz gibt es eine Masterarbeit. In ihr hat der Sozialwissenschaftler Thierry Kaufmann (2014) ähnlich festgehalten, dass von Missionierung für den Islam keine Rede könne. Ebenso wenig handle es sich hier um einen Geheimbund. Viel eher seien die Schulen Talentschmieden, die einem hohen Bildungsideal und einem erfolgsorientierten Wirtschaftsethos verpflichtet seien. Auch eine von der amerikanischen Soziologin Helen Rose Ebaugh (2012) auf der Basis von zahlreichen Befragungen in verschiedenen Ländern erstellte Studie kommt insgesamt zur Bewertung der Gülen-Bewegung als einer bedeutenden zivilgesellschaftlichen Strömung.

NNA: Wie sind die sog. Gülen-Schulen in Deutschland aus ihrer Sicht bildungspolitisch einzuschätzen?

Prof. Barz: Sie stellen unter mindestens drei Gesichtspunkten ein äußerst relevantes bildungspolitisches Novum dar:

Erstens stellen sie den in Deutschland sichtbarsten Ausdruck dieser wohl einflussreichsten transnationalen zivilgesellschaftlichen Bildungsbewegung in der islamischen Welt dar. Zweitens bereichern sie die Landschaft der Schulen in freier Trägerschaft um eine weitere Variante mit spezifischer Prägung. Und drittens stellen sie eine Art Selbsthilfeinitiative von türkisch-muslimischen Migranten dar, denen die interkulturelle Öffnung des deutschen Bildungssystems nicht schnell genug Erfolge bringt und die Bildungschancen ihrer Kinder nicht wirklich verbessert.

NNA: Die angemessene Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund gelingt bis heute im deutschen Bildungswesen nicht wirklich, könnte das Konzept der Gülen-Schulen hier mehr leisten?

Prof. Barz: Besonders die fehlende Wertschätzung für kulturelle Vielfalt und die Herkunftskultur wird von Schülern und Eltern insbesondere mit türkischem Hintergrund im deutschen Schulwesen bemängelt. ?Genau hier setzen die Schulen und Nachhilfezentren der Gülen-Bewegung an, indem sie individuelle Förderung von Kindern besonders – aber nicht nur – mit türkischen Wurzeln versprechen. Durch den spirituellen Hintergrund wird eine besondere Wertschätzung der türkischen Kultur und auch des Islams deutlich, auch wenn dieser im Schulalltag offenbar keine sichtbare Rolle spielt und z.B. kein islamischer Religionsunterricht angeboten wird. ?

Inwieweit die Ansprüche auf eine bessere Pädagogik ohne weltanschaulich-religiöse Färbung real eingelöst werden, ist eine offene Frage.?In den vielfältigen kulturellen, sportlichen und naturwissenschaftlichen Aktionen und Events, an denen Gülen-Schulen erfolgreich teilnehmen (Mathe-Olympiade, Kultur-Festival etc.) deutet sich freilich an, dass es ihnen gelingt, gerade für türkischstämmige Schülerinnen und Schüler eine überzeugende Alternative zum staatlichen Angebot zu etablieren.

NNA. Prof. Barz, vielen Dank für das Gespräch.

END/nna/ung

Bericht-Nr.: 160807-04DE Datum: 7. August 2016

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Fetullah Gülen <br>Foto: Forum für INTERKULTURELLEN Dialog FID e.V.