Nachrichtenbeitrag
Gesucht: Politiker mit Rückgrat
Der Ökonom und Philosoph Prof. Birger Priddat fordert ein neues Verhältnis zwischen Politik und Wirtschaft. Die „Affaire Weil“ im Diesel-Skandal zeige die Notwendigkeit einer Wandlung im politischen Umgang.
WITTEN-HERDECKE (NNA) – Abgas-Skandal und Diesel-Affäre beschäftigen derzeit die Gemüter in Deutschland und können auch Einfluss auf den Ausgang der Bundestagswahl am 24. September haben. Prof. Birger Priddat von der Universität Witten-Herdecke (UWH) hat sich Gedanken darüber gemacht, wieviel Lobbyismus der Demokratie zumutbar ist.
VW schreibt mit an Reden von Ministerpräsidenten, dies habe man erfahren im Zuge des Abgas-Skandals. „Ist das etwas Neues?“, fragt sich der Ökonom, der Inhaber des Lehrstuhls für Volkswirtschaft und Philosophie an der UWH ist. „Für Kenner der politischen Praxis ist das überhaupt nicht neu, wissen wir doch, dass in Berlin und Brüssel unzählige Lobbyisten damit beschäftigt sind, zum Teil an Gesetzestexten mitzuschreiben“.
In Niedersachsen – Heimat des größten deutschen Automobilkonzerns VW – war man sich offensichtlich schon seit jeher einig zwischen Management und Landesregierung, alle Dinge untereinander zu besprechen und zu regeln. Längst sei die Kontrollfunktion des Aufsichtsrates von einem konsensorientierten Diskurs begleitet gewesen in dieser „anerkannten und geachteten Institution VW“.
Geändert hat sich dies durch den Betrugsskandal und der Dieselaffäre, meint Prof. Priddat. „VW wird seitdem völlig anders, nämlich hochsensibilisiert, beobachtet. Diese Risiken hat die Politik nicht wirklich beachtet“. Man sei „unvorbereitet in diese nationalen Fettnäpfchen gestiegen“, ohne Plan B oder eine strategische Option hinsichtlich der Fragen „Was tun, wenn die deutsche Autoindustrie in- und ausländisch ihren Markenwert verliert? Und den Elektromobilitäts-Wettbewerb gegen China und Tesla?“ Man habe sich zu sehr vertraut, meint Prof. Priddat.
Instinktverlust
Die Politik habe im Laufe dieses Prozesses „ihren Instinkt verloren“. Denn gerade dann, wenn die Lage längst heikel sei, sich vom Verursacher der Misere die politischen Aussagen diktieren zu lassen, sei „politisch äußerst unklug“. Denn jetzt stehe Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) da als einer, der die Situation nicht lenke, sondern der von den Verursachern in Haftung genommen wurde. Als Ministerpräsident habe er „seine Souveränität verschenkt“. „Solche opportunistischen Politiker will man allmählich nicht mehr sehen“, folgert Prof. Priddat.
Als Aufsichtsrat sitze Weil – wie schon die Ministerpräsidenten vor ihm – zwischen zwei Stühlen. Für VW und das Land wolle er die Wertschöpfungskraft erhalten. Als Ministerpräsident aber müsse er kontrollieren und Schaden vom Land abwenden.
Durch sein „politisch taktloses Verhalten“ habe er den Schaden aber vermehrt: „Er hätte sich von vornherein heraushalten können – in keinem Vertrag steht, dass die beiden Sitze im Aufsichtsrat vom Ministerpräsidenten selber eingenommen werden müssen. Auch hier hat Weil nicht die Risiken erspürt, die durch die Betrugshandlungen des niedersächsischen Weltkonzerns für die Politik hochklappen“.
Es gehe nicht darum, die Gesprächsebene zwischen Wirtschaft und Politik abzubauen: “Natürlich sind diese Gespräche wichtig, zumal die Politiker oft wenig Kompetenz in Ökonomie haben. Und weil die Unternehmen natürlich wissen wollen, auf was sie sich einstellen müssen in der Politik“. All das sei notwendig und legitim – bis die Grenze strafrechtlich überschritten werde, von dem Moment an sei „höchste Vorsicht geboten“.
Sagen was nötig ist
Die Vorsicht habe Weil nicht gehabt. Deshalb brauche es künftig – wie in jedem Konzern heute schon üblich – Compliance-Regeln, an die man sich halten könne, wenn man in Konflikt steht. Bei aller produktiven Kumpanei müsse man dann, wenn es darauf ankomme, auf die Regeln verweisen können, „um nicht in etwas hineingezogen zu werden, was man nicht wollen kann und um dann zu sagen, was zu sagen nötig ist“. Dass man als Landesvater dem Konzern in schwerer Zeit beistehen wolle, könne sein, aber deshalb sich die Argumentation und damit die Haltung wie die Entscheidbarkeit vorschreiben zu lassen, sei „ein starkes Stück“, betont Priddat.
Die „Affäre Weil“ ist für den Witten-Herdecker Ökonom „ein Indikator für eine Wandlung im politischen Umgang.“ Die Zeit der „naiven Kumpanei“ sei vorbei. Die Märkte seien „keine großen Wohlstandstanker mehr, die sich positiv wie von selbst regeln, sondern voller Überraschungen – positiver wie negativer Art“. Und ihr Management sei „keine Vertrauensbruderschaft, sondern z.T. vorteilssuchend bis zum Betrug.“
Die Politik muss sich von daher umstellen, „sehr viel aufmerksamer werden, erste Indizien wahrnehmen, neutrale Wissenschaftlerkohorten haben, die ihnen die Dinge präventiv entschlüsseln, die sie als Politiker mehr nur vermuten“.
Politiker müssten heutzutage „ein anderes Rückgrat haben“, so die Schlussfolgerung von Priddat. Dazu gehört aus seiner Sicht auch die Bereitschaft, Verhältnisse abzuschaffen, die nicht zur demokratischen und zivilisatorischen Grundvereinbarung gehören.
END/nna/ung
Bericht-Nr.: 170904-02DE Datum: 4. September 2017
© 2017 Nexus News Agency. Alle Rechte vorbehalten.