Nachrichtenbeitrag
Flüchtlingspolitik als „neue Dimension der Unmenschlichkeit“
Der Sozialmediziner Prof. Gerhard Trabert hat die Flüchtlingspolitik der EU heftig kritisiert. Europa habe auf ganzer Linie versagt. Aus Angst vor dem Rechtspopulismus werde das Thema aus dem Bundestagswahlkampf herausgehalten.
MAINZ/BERLIN (NNA) – Die Flüchtlingspolitik der Europäischen Union hat eine „Dimension der Unmenschlichkeit erreicht, die deutlich ausgesprochen werden muss und der wir uns entschieden entgegenstellen müssen“.
Dies betonte Prof. Gerhard Trabert, Vorsitzender des Vereins „Armut und Gesundheit e.V.“ auf einem Benefiz-Festival zugunsten Geflüchteter am vorletzten Wochenende in Mainz.
Trabert, der Träger des Bundesverdienstkreuzes und des Verdienstordens des Landes Rheinland-Pfalz ist, berichtete vor den überwiegend jugendlichen Besuchern des Festivals von seiner jüngsten Reise, die ihn ins irakische Mossul, ins nordsyrische Kobane und in die Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Lesbos geführt hat. Er war auch mit der Seenotrettungsorganisation Seewatch e.V. im Mittelmeer unterwegs.
Europa hat aus der Sicht des Sozialmediziners in der Flüchtlingsfrage auf ganzer Linie versagt. „Banken retten – aber Menschen ausgrenzen und diskriminieren, diese Politik macht mir Angst“, sagte Trabert. Es mache ihn „sehr wütend“, dass die Flüchtlingspolitik aus dem Bundestagswahlkampf herausgehalten werde, weil die großen Parteien Stimmengewinne der rechtspopulistischen AfD befürchten. Deutschland sei das viertreichste Land der Welt und der reichste Land der Europäischen Union und könne mehr als eine Million Geflüchteter aufnehmen.
Unsägliches Leid
Bei seinem Aufenthalt in Mossul habe er das unsägliche Leid der Bevölkerung erlebt. „Da sind diese vielen Kinder, die vom IS missbraucht wurden und traumatisiert sind – niemand hilft ihnen.“ Die fehlende Gesundheitsversorgung habe auch in Syrien zum Tod von 200.000 Menschen geführt – eine Zahl, die nirgends veröffenlticht werde. „Sie sterben im Stillen – in ihren Ländern herrscht die Hölle, aber wir sehen weg“.
Trabert kritisierte auch den Begriff des „Wirtschaftsflüchtlings“. „Es gibt Menschen, die fliehen vor Granaten und andere fliehen vor dem Hungertod, aber wir diskriminieren sie“.
Hart ins Gericht ging Trabert auch mit dem Versuch der EU, mithilfe autoritärer oder diktatorischer Regimes die Flüchtlingsbewegungen einzudämmen: „Diese menschenverachtende Politik dürfen wir nicht hinnehmen“. Die Schließung der Balkanroute habe zu einem „Dominoeffekt“ geführt, die geflüchteten Menschen stauten sich jetzt in den Lagern in Libanon, in Syrien und der Türkei. „Wie es ihnen dort geht, weiß niemand“.
Zu einem Flüchtlingslager an der türkischen Grenze sei ihm der Zugang verwehrt worden, berichtete Trabert. Auch in den Flüchtlingslagern in Griechenland herrschten unsägliche Zustände: „Man kann kaum hinsehen, wenn die Menschen dort Plastikplanen verbrennen, nur damit es ihnen etwas warm wird“.
„Empört euch“
Prof. Trabert schilderte außerdem, wie er den Einsatz von Seewatch auf dem Mittelmeer erlebt hat: „Es ist eine Erfahrung der eigenen Art, wenn man in der Weite des Meeres ein kleines, weißes Schlauchboot sieht, in dem 150 Menschen sich drängen und man weiß, dass 90% von ihnen nicht schwimmen können“.
Für den Einsatz der Grenzschutzagentur Frontex im Mittelmeer gebe es kein demokratisches Mandat und die libysche Küstenwache, mit der die EU kooperiere, agiere in immer weiterer Entfernung vor der Küste und dränge die Flüchtenden zurück nach Libyen.
Prof. Trabert kritisierte auch den Versuch, Seenotrettungsorganisationen wie Seewatch zu kriminialisieren. Seewatch fordert legale Einreisewege nach Europa (#safepassage, NNA berichtete) und leistet mit den Schiffen der Organisation humanitäre Hilfe auf dem Mittelmeer. Nach eigenen Angaben konnte Seewatch bisher 27.000 Menschen aus dem Mittelmeer retten.
Prof. Trabert zitierte auf dem Herzblick Festival in Mainz den französischen Autor und ehemaligen Widerstandskämpfer Stéphane Hessel, dessen Buch „Empört euch“ 2010 zum Bestseller in Europa wurde. Darin rief er die junge Generation zum Widerstand auf gegen eine Politik, die Menschenrechte und Sozialstaat zunehmend mit Füßen tritt und stattdessen den Interessen des Finanzkapitals dient.
Der Grundkonsens, den Europa nach dem 2.Weltkrieg für sich gefunden habe, werde so unterhöhlt, schrieb Hessel, hier gelte es, Widerstand zu leisten. Protestbewegungen im Süden Europas berufen sich u.a. auf das Buch Hessels.
Fest stehen
Dessen „Empört euch“ gelte auch für die Flüchtlingspolitik, betonte Trabert. „Wir dürfen keinen Millimeter zurückweichen vor Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Rechtspopulismus“. Den etablierten Parteien gab er eine Mitschuld am Erstarken des Rechtspopulismus, weil sie die Frage der sozialen Gerechtigkeit nicht mehr auf die politische Agenda gesetzt haben.
Trabert ist Professor für Sozialmedizin und Sozialpsychiatrie an der Hochschule RheinMain in Wiesbaden. Er wurde bundesweit bekannt für sein Modell zur medizinischen Versorgung Wohnungsloser, bei dem er die Wohnungslosen mit einer mobilen Arztpraxis aufsucht.
Der Sozialmediziner sprach auf dem Herzblick Festival in Mainz, das von verschiedenen Organisationen, darunter auch Amnesty international, zusammen mit der Flüchtlingshilfe Mainz veranstaltet wurde. Der Erlös des Festivals kam einer Organisation in Serbien zugute, die Flüchtende an den Außengrenzen der EU unterstützt.
END/nna/ung
Bericht-Nr.: 170904-03DE Datum: 4. September 2017
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