Nachrichtenbeitrag

Flüchtlinge aufnehmen: Risiko oder Chance?

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Von NNA Mitarbeiter

Studie des Bundesverbands Wohnen und Stadtentwicklung ergibt: postmaterielle Milieus urteilen anders als klassisch-bürgerliche.

BERLIN (NNA) – Wie Bundesbürger die Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland einschätzen, hängt vor allem von ihrer grundsätzlichen Haltung zur gesellschaftlichen Vielfalt und ihrem Lebensstil ab. Dies ergab eine bundesweite, repräsentative Mehrthemenbefragung des Bundesverbands für Wohnen und Stadtentwicklung e.V. (vhw) in Berlin.

Die Befragung war bereits im Sommer 2015 durchgeführt worden, vom 31. August bis 21. September 2015 also ‚“inmitten einer sich zuspitzenden und polarisierenden Debatte über die Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland“, betont der vhw dazu auf seiner Homepage. Allerdings überwogen damals im öffentlichen Diskurs eher die positiven Stimmen.

Zugrunde gelegt wurde der Befragung das Konzept der Sinus-Milieus, das die Befragten nach ähnlichen Grundüberzeugungen, Lebensstilen und Verhaltensmustern einteilt.

Erstmals sei in der Befragung deutlich geworden, dass die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen sozialen Milieus wichtiger für die jeweilige Einstellung zu den aktuellen Themen ist, als zum Beispiel Alter, Bildung, Einkommen, die Größe des Wohnortes, die Region (Ost/West) und sogar die in- oder ausländischen Wurzeln, betont der vhw.

Tiefer Riss

Während die klassisch-bürgerliche Mittelschicht eher Risiken in der Flüchtlingsaufnahme sieht, beurteilt das postmaterielle Milieu der liberal-kritischen Bildungselite sie eher als Chance für die Gesellschaft.

Gut 60 Prozent der Befragten stimmten der Aussage zu, es gebe „zu viel Zuwanderung von Menschen, die nicht zu uns passen“, davon die Hälfte „voll und ganz“. Unter den Milieus teilten diese Auffassung „voll und ganz“ nur 16 Prozent der „Liberal-Intellektuellen“, aber 50 Prozent des Milieus der Bürgerlichen Mitte. Selbst zwischen den jüngsten und den ältesten Befragten (24 Prozent zu 42 Prozent), den niedrigsten und höchsten Bildungsabschlüssen (39 Prozent zu 24 Prozent) oder den Befragten mit oder ohne Migrationshintergrund (27 Prozent zu 32 Prozent) war die Differenz geringer.

Zwei zentrale Zusammenhänge lassen sich aus der Sicht des vhw dabei erkennen: Während die Postmateriellen „Vielfalt“ in allen Lebensbereichen eher als Aufbruch und Chance wahrnehmen, überwiegen bei der Bürgerlichen Mitte und den Traditionellen Verunsicherung und Sorgen vor einem Verlust angestammter Werte. Besonders skeptisch wird in diesen Milieus zugleich der Islam gesehen, während die jüngeren, kreativen Milieus hier grundsätzlich toleranter reagieren.

Zudem stimmen bei ihnen und den Liberal- Intellektuellen jeweils nur Minderheiten von 20 bis 25 Prozent der These voll zu, „die deutsche Kultur (müsse) wieder stärker in den Mittelpunkt“ gestellt werden, während bei der Bürgerlichen Mitte nahezu zwei Drittel, nämlich 62 Prozent, dieser Ansicht sind. Der vwh interpretiert diese Befunde der Studie als „tiefen Riss, der durch die Mitte der Gesellschaft geht“.

Übereinstimmung bei praktischen Fragen

Ähnlich unterschiedlich wie die bürgerliche Mitte bzw. die Postmateriellen reagieren auch traditionelle und modernen Milieus der unteren Gesellschaftsschicht auf das Flüchtlingsthema. Während das Milieu der „Prekären“ sorgenvoll und ablehnend-resigniert auf die Zuwanderung reagiere, betrachteten „die hedonistischen und kreativen Milieus Vielfalt und Zuwanderung mit selbstverständlicher Gelassenheit“.

Weitgehende Übereinstimmung besteht zwischen den Milieus dagegen bei praktischen Fragen von Aufnahme und Unterbringung. So verlangen insgesamt 85 Prozent der Befragten eine „stärkere Berücksichtigung der örtlichen Bedingungen“ bei der Unterbringung und 77 Prozent erwarten eine Verteilung der Ankommenden auf unterschiedliche Stadtbezirke anstelle einer räumlichen Konzentration.

Die sog. „Kartoffelgrafik“ des Sinus-Instituts zeigt die zehn Milieus mit ihren jeweiligen Grundorientierungen. Die Übergänge zwischen den Milieus sind in der Realität fließend. Die Grafik zeigt auch die Anteile der einzelnen Milieus an der Bevölkerung in Deutschland: Während die postmateriellen liberal-intellektuellen und sozialökologischen Milieus, die überdurchschnittlich aufnahmebereit sind, ca 22% auf sich vereinen, bringen es die klassisch-bürgerlichen Milieus, die sich überdurchschnittlich ablehnend oder skeptisch zum Flüchtlingsthema äußern, auf rund 45%. Die Milieus, die sich nicht so dezidiert äußern und von daher keinem der beiden „Lager“ zuzuordnen sind, machen ca 24% aus.

Die Zahlen verdeutlichen auch die Brisanz der bevorstehenden Landtagswahlen in Deutschland und zeigen, dass bereits im vergangenen Sommer ein erheblicher Anteil von Bundesbürgern eher skeptisch gegenüber der Flüchtlingsaufnahme war, dies aber im öffentlichen Diskurs nicht wirklich zum Tragen gekommen war.

Vertrauensverhältnis zur Politik gestört

Neben den Befragungsergebnissen zu Vielfalt, Flüchtlingsaufnahme und Rolle von Institutionen hat der vhw noch weitere Themen in der Umfrage erhoben, z.B. zur Wohnsituation, zum Bildungsanspruch, zur Nutzung des öffentlichen Raumes sowie zur Bürgerbeteiligung.

In der Befragung wurde aus der Sicht des vhw auch „das gestörte Vertrauensverhältnis vieler Bürger und Bürgerinnen in Politik und Parteien deutlich“. Gerade die politischen Parteien werden nur von 26 Prozent für (eher) „verlässlich“ gehalten; 45 Prozent meinen, deren Einfluss bei der Gestaltung der Städte sei „zu groß“ und nur 8 Prozent meinen, er sei „zu klein.“

Dagegen wollen die Befragten mehrheitlich den Einfluss von Bildungs- und Sozialträgern, aber auch von Vereinen und Initiativen stärken. Vor allem die postmateriellen und jüngeren kreativen Milieus sprechen sich für einen solchen Weg aus, der den Wunsch nach einer Verbreiterung der demokratischen Mechanismen im Sinne der „vielfältigen Demokratie“ reflektiert. Bürgerbeteiligung werde weithin positiv bewertet und von 80 Prozent sogar als „lebenswichtig für die Demokratiebetrachtet, heißt es in der Studie, durch die sich der vhw in seinem Kurs für mehr Bürgerbeteiligung bestätigt sieht.

Die Sinus-Milieus werden seit ca. 30 Jahren im Rahmen der sozialwissenschaftlichen Forschung genutzt. Die Definition der Sinus-Miiieus geht von der Lebenswelt und dem Lebensstil der Menschen aus und nicht von formalen demographischen Krtierien wie Alter, Schulbldung Beruf oder Einkommen. Die Sinus-Milieus fassen Menschen zusammen, die sich in Lebensauffassung und –weise ähneln, dabei gehen grundlegende Werteorientierung in die Definition der Milieus ebenso ein wie Einstellungen zu Arbeit, Familie, Freizeit oder Konsum. Die Milieus sind in ähnlicher Form auch in anderen Ländern anzutreffen, d.h. sie haben einen transnationalen Charakter.

END/nna/nh

Quelle:

www.vhw.de/fileadmin/user_upload/07_presse/PDFs/PDFs_2015/vhw_PI_9_vhw-Trendstudie.pdf

Bericht-Nr.: 160207-02DE Datum: 7. Februar 2016

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Die „Kartoffelgrafik“ des Sinus-Instituts zeigt die zehn Milieus mit ihren jeweiligen Grundorientierungen.