Nachrichtenbeitrag
„Es ist das Ich, das die Biographie schreibt.“
Die gegenwärtige Individualisierung ist eine Herausforderung für die Menschen, die sich nicht umgehen lässt und von älteren Menschen, deren Anteil in den westlichen Gesellschaften ständig zunimmt, können durchaus noch wichtige Impulse ausgehen. Diese Thesen vertritt die bekannte Biographieforscherin Gudrun Burkhard im Gespräch mit NNA.
FLORIANOPOLIS (NNA) – Gudrun Burkhard ist Ärztin, sie ist in Brasilien geboren, hat aber deutsche Wurzeln. Ihr Vater war nach dem 1.Weltkrieg aus Berlin nach Brasilien ausgewandert. Durch ihre ärztliche Tätigkeit kam sie zur Biographiearbeit. Ihr Buch „Das Leben in die Hand nehmen“ ist ein Bestseller, der in zwölf Sprachen übersetzt wurde. Heute lebt die 83jährige in Florianopolis im Süden Brasiliens.
NNA: Frau Burkhard, wenn man jetzt ein paar Jahrzehnte zurückblickt, hat man den Eindruck, dass die Jahrtausendwende für viele Menschen ein einschneidendes Ereignis war. Sie haben in Ihrer Biographiearbeit viele Lebensläufe analyisert – was meinen Sie, ist diese Einschätzung richtig?
Burkhard: Es hat sich schon Entscheidendes verändert – vor allen durch äußere Einflüsse wie die Kommunikationstechnologie. Unsere Kinder heute werden mit all diesen Geräten groß, die Beschleunigung, die hier eingetreten ist, hat sich aus meiner Sicht nach der Jahrtausendwende noch einmal verstärkt.
NNA: Was sind aus Ihrer Sicht die hauptsächlichen Auswirkungen in den Lebensläufen? Sie haben ja in Ihrer Arbeit sehr viele davon analysiert. Können Sie da einen Trend erkennen?
Burkhard: Die Auswirkungen dieser Techniknutzung für die Menschen brauchen ihre Zeit, wir werden erst in ca 30 Jahren merken, welche Konsequenzen das hat. Es wird ja durch die Hirnforschung darauf hingewiesen, dass die Synapsenbildung im Gehirn nichts Feststehendes ist, dass man auch Entwicklungen fördern kann. Wenn z.B. ältere Menschen sich darum bemühen, Fingergymnastik machen, oder nochmal Sprachen lernen, macht sich auch bemerkbar. Deswegen ist auch dieses schlimme Wort von der Vergreisung, das jetzt manchmal benutzt wird, um die Zukunft der westlichen Gesellschaften zu beschreiben, nicht richtig.
NNA: Was würden Sie dem entgegensetzen?
Burkhard: Es kann immer im Alter auch eine Belebung stattfinden, auch durch die Erfahrung der Menschen. Jeder Mensch hat ja so etwas wie seine eigene Philosophie, die er im Laufe seines Lebens entwickelt. Auch der ältere Mensch kann daher, wenn er sich darum bemüht, noch etwas Neues in die Welt bringen und kreative Ideen entwickeln.
NNA: Wodurch kann man die Gefahr der Resignation und der Stagnation im Alter denn überwinden?
Burkhard: Diese Gefahr ist nicht so gegeben, wenn der ältere Mensch dazu gebracht wird, sich weiterzuentwickeln. Allerdings gehört da auch das eigene Bemühen dazu. Es gibt Skelrotisierungstendenzen oder auch Schädigungen durch die Nahrung. Wenn man immer unbeweglich im Stuhl vor dem Fernseher oder dem PC sitzt, bringt das keine Belebung für das Gehirn. Das gilt übrigens auch für die Jungen: Da wird eine Menge von Informationen aufgenommen durch die Medien, ohne dass dadurch eine Belebung eintritt. Die muss schon aus eigener Kraft kommen, dazu sind Übungen notwendig.
NNA: Was wären denn aus Ihrer Sicht konkrete Gegenstrategien?
Burkhard: Gegenstrategien bestehen darin, dass man mit seinem Leben in Bewegung bleibt und zwar sowohl körperlich als auch im Denken. Für die Älteren kann das bedeuten, nochmal Mathematik zu studieren, einen Philosophiekurs zu belegen oder Schach zu spielen. Das trägt alles zu einem jugendlichen Denken bei.
NNA: Ihr letztes Buch richtet sich gezielt an die über 60jährigen und hat den Titel „Die Freiheit im Dritten Alter“. Was wollten Sie damit bewirken?
Burkhard: Dass genau das wahrgenommen wird, worüber wir gerade gesprochen haben. Auf diese Lebensphase wird eher negativ geblickt, mit Verachtung. Aber es kommt doch wirklich darauf an, wie man sein Leben führt.
NNA: Haben Sie dafür ein Beispiel aus Ihrer Biographieberatung zur Hand?
Burkhard: Mir fällt da ein 91jähriger ein, mit dem ich gearbeitet habe. Was nicht so einfach ist, denn die Erinnerung ist oft nicht mehr so da und man muss Bilder aussprechen, um das Gedächtnis in Bewegung zu bringen. Jedenfalls meinte der alte Herr, sein Ziel wäre es, auch weiterhin in Harmonie mit der Welt und dem Kosmos zu leben. Diese Person war durch schwere Zeiten gegangen, hatte Verluste durchzumachen, er hat z.B. seinen Betrieb verloren und er hatte immer das Gefühl, eigentlich im falschen Beruf gelandet zu sein, weil er eigentlich Architekt werden wollte. In der Beratung ergab sich dann aber, dass er sehr wohl etwas davon verwirklicht hatte und zwar im Privaten, er hatte viele Häuser gebaut und dabei auch im fortgeschrittenen Alter noch neue Erfindungen entwickelt. Diese Einsicht hat ihn dann mit seinem Leben versöhnt.
NNA: In ihrem Buch weisen Sie ja auch auf die sog. Mondknoten hin, das sind biographisch besondere Konstellationen, den letzten erlebt man mit 93 Jahren und sie schreiben, es wäre schön, wenn jemand diesen Alters mal davon berichten könnte. Haben Sie solche Berichte inzwischen bekommen?
Burkhard: Die Leute werden immer älter, aber über die Situation der über 90jährigen weiß man noch wenig, das ist eine Aufgabe für die Forschung. Den Mondknoten vorher erlebt man mit 74 Jahren, das kam vor in meinem Beratungen. Und da gab es schon neue Impulse und größere Umstellungen, von denen berichtet wurde, auch von Auswanderungen.
NNA: Wenn wir jetzt nochmal zu den jüngeren Leuten zurückkommen – die Situation heute ist ja gekennzeichnet durch eine große Individualisierung, jeder soll sein Leben ganz nach seinen eigenen Vorstellungen managen. Liegt darin nicht auch eine Überforderung?
Burkhard: Das sind die Herausforderungen unserer Zeit, wenn man sich das nicht bewusst macht, wird es problematisch. Es stimmt schon, das Leben ist heute viel anstrengender als noch vor 50 Jahren. Aber diese Herausforderungen sind nötig, wir brauchen ja auch immer mehr Kapazitäten, sowohl in materieller als auch in geistiger Hinsicht.
NNA: Vielen Zeitgenossen ist das zu anstrengend....
Burkhard: Sicher ist es bequemer, sich auf den Stuhl vor dem Fernseher zu setzen, aber dann nimmt man diese Herausforderung eben nicht an. Wobei ich nicht grundsätzlich gegen die neuen Medien sprechen möchte, in Maßen lässt sich ihre Nutzung schon vertreten. Sie dürfen nur nicht zur Sucht werden, das gibt es ja immer mehr, dass neben Drogen und Alkohol Menschen süchtig werden durch den Computer. Ich arbeite z.B. mit jemandem, deren Konzentration immer schlechter wird. Das hängt mit dem Übermaß an Mediennutzung zusammen. Wenn man das sieht in den Familien, da sitzt man am PC, es läuft eine Novela im Fernsehen und man löffelt noch seine Suppe – alle drei Dinge laufen total unbewusst ab und die Aufmerksamkeit wird zerstreut. Gerade im Alter kommt es darauf an, dass man sich auf eines konzentriert und nicht alles gleichzeitig macht – das gilt aber auch für die Jugendlichen, das ist ganz wichtig z.B. im Unterricht. Man muss lernen, an einer Sache dranzubleiben.
NNA: Aber wie findet man heraus, was jetzt wirklich die wichtige Sache ist? Gerade im Zeitalter der Globalisierung stürmt doch vieles auf die Menschen ein, die jungen Leute haben eine Riesenauswahl und man hat zunehmend den Eindruck, dass sie in der ganzen Welt unterwegs sind.
Burkhard: Man kann auch beobachten, dass die jungen Leute anfangen, sich um die anderen Länder zu kümmern und auch mitzuempfinden, wenn sich dort Tragödien abspielen, wenn z.B. ein Tsunami alles zerstört. Wenn das mitgetragen werden kann, dann heißt das doch, das die jungen Leute anfangen, sich um die Menschheit als solche zu bemühen. Ich erlebe das so, dass die Jugend Aufgaben sucht, wenn sie irgendwo Not und Mangel fühlen, dann fühlen sie sich angezogen, mitzuhelfen.
NNA: Zum Schluss noch eine grundsätzliche Frage. Sie haben Ihre Biographiearbeit ja auf der Grundlage der Anthroposophie Rudolf Steiners entwickelt. Biographieforschung ist ja gerade sehr en vogue – was ist denn das Besondere an Ihrer Arbeitsweise?
Burkhard: Das Besondere liegt in der stärkeren Gliederung, es wird mehr unterschieden zwischen physisch-konstitutionellen Bedingungen und dem, was an Einflüssen von Umwelt und Erziehung ausgeht und schließlich dem geistigen Element. Das ist das Ich, das die Biographie schreibt, durch das die geistigen Gesetzmäßigkeiten wirken. Dieses Menschenbild ist der Hauptunterschied. Außerdem arbeiten wir z.B. stark mit dem 7-Jahres-Rhythmus. Diese Entwicklungsrhythmen haben sich übrigens nicht verändert, auch wenn es Akzelerationen gibt und Verlangsamungen, die Rhythmen sind geblieben.
NNA: Welche Rolle spielt denn die Idee der Reinkarnation in Ihrer Arbeit?
Burkhard: Die Idee der Reinkarnation steht im Hintergrund aller Biographiearbeit; sie wird nur direkt angesprochen wenn sie sich im Gespräch ergibt. Es ist aus unserer Sicht auch nicht notwendig, wie das z. B. bei den Rückführungstherapien gemacht wird. Wir versuchen immer, bewusst mit den Menschen zu arbeiten. Nur was der Mensch durch sein Bewusstsein ergreifen kann, bringt ihn weiter heutezutage.
NNA: Und was ist das Ziel Ihrer Arbeit?
Burkhard: Dass der Mensch sein Ziel findet in der Welt, damit ist seine humanitäre Aufgabe gemeint, also sein Beitrag für die Welt, nicht nur für sich selbst. Oft ist es auch so, dass die Schritte hin zu einem neuen Lebensziel schon gemacht sind, dass es eigentlich schon da ist, nur ist es dem betreffenden Menschen nicht bewusst. Das ist dann die Aufgabe der Biographiearbeit, das bewusst zu machen.
NNA: Frau Burkhard, wir danken Ihnen für das Gespräch.
END/nna/ung
Literaturhinweise:
Gudrun Burkhard: Das Leben in die Hand nehmen. Arbeit an der eigenen Biographie, 3. Aufl. Stuttgart 1993
Dies.: Die Freiheit im „Dritten Alter“. Biographische Gesetzmäßigkeiten im leben ab 63, 2. Aufl. Stuttgart 2004
Bericht-Nr.: 131025-02DE Datum: 25. Oktober 2013
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