Nachrichtenbeitrag
Ein Anthroposoph der Herzen
BUCHBESPRECHUNG | Neuerscheinung zum 70. Geburtstag von Sergej Prokofieff versammelt viele internationale Zeitzeugenberichte und gibt Einblicke in sein Leben.
DORNACH (NNA) – Ein ungewöhnlicher Vortrag in Stuttgart füllt im Jahr 1982 den großen Saal der Freien Waldorfschule Uhlandshöhe: lediglich durch Weitersagen wurde er bekannt gemacht und der Vortragsredner musste ebenfalls anonym bleiben. Ein noch nicht einmal 30jähriger Russe ist es, der über die Aufgaben der Anthroposophie und den Grundsteinspruch referiert. Würde es in der Sowjetunion publik, dass er im Westen vor Publikum spricht, drohten ihm Verhaftung und Straflager – so erklären sich die Vorsichtsmaßnahmen.
Wer ist dieser Sergej O. Profkofieff, der diesen Gefahren im Interesse seiner Mission bezüglich des Werks von Rudolf Steiner trotzt und der in den folgenden Jahren nicht nur in Stuttgart, sondern auch in Dornach und andernorts die Zuhörerschaft in seinen Bann zieht? In einem neuen Buch „Ein Leben für die Anthroposophie – Erinnerungen an Sergej Prokofieff“ kann man mehr über den Shooting Star der anthroposophischen Bewegung erfahren, der am 16. Januar 2024 siebzig Jahre alt geworden wäre. 2014 starb er an einem Krebsleiden und musste zuvor seine Arbeit im Vorstand der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft in Dornach niederlegen, in den er 2001 berufen worden war. (NNA berichtete) Herausgeber des Buches sind seine Witwe, Astrid Prokofieff und Hans Hasler.
Seit Rudolf Steiner selbst hat nie wieder jemand so viel über Anthroposophie publiziert wie Sergej Prokofieff und in vielen Ländern so viele Zuhörer begeistert – die Schilderungen von internationalen Zeitzeugen seines Lebens im Buch belegen eindrücklich, wie intensiv er mit dem Werk von Rudolf Steiner und seiner Persönlichkeit verbunden war und mit welcher Hingabe er dies weiterzugeben wusste.
Seine Hauptanliegen waren die Entfaltung der esoterischen Arbeit der Anthroposophischen Gesellschaft, ein Verständnis der Weihnachtstagung 1923/24, die Christologie, aber auch die elementare Herausforderung des Menschen durch das Böse sowie das Thema Schuld, dem er im 20.Jahrhundert eine große Bedeutung zuwies und das er in seinem Buch über „Die okkulte Bedeutung des Verzeihens“ bearbeitet hat. Deutlich wird in eigenen Ausführungen Prokofieffs am Anfang des Buches mit den Erinnerungen aber auch, dass er seine Anliegen im Vorstand der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft nicht so zur Geltung bringen konnte, wie er es sich erhofft hatte und es gerade in den letzten Jahren seines Lebens doch eher einsam um ihn herum geworden war.
Ein genialer Mensch
Ein ungewöhnlicher Lebensweg brachte Prokofieff zu seiner Lebensaufgabe: Schon in ganz jungen Jahren Ende der sechziger Jahre hatte er die Anthroposophie im Haus des Poeten und Malers Maximilian Woloschin in Koktebel auf der Krim kennengelernt. Bis in die Mitte der 80er Jahre hinein erarbeitet er sich – vom Diskurs im Westen weitgehend unabhängig – das Werk Steiners unter den schwierigen Bedingungen in der Sowjetunion. Überwachung durch den Geheimdienst, Angst vor Abhöranlagen bei den Treffen der anthroposophischen Gruppe in Moskau: wie die Anthroposophen ihre Arbeit im Untergrund organisierten, wird in den Zeitzeugenberichten anschaulich geschildert.
Auch über Kindheit und Jugend von „Serjoscha“ erfährt man vieles, Prokofieffs hochbetagte Mutter Sofia Prokofiefjewa hat ebenfalls einen Text zu dem Buch beigesteuert. Dass hier ein ungewöhnlicher, genialer Mensch heranwächst, bemerkte Sofia Prokofijewa schon früh, z.B. als er als Siebtklässler Deutsch lernen wollte und die Lehrbücher, die sie ihm beschafft hatte, zurückwies, weil das Vokabular drin nicht seinen Ansprüchen genügte. Stattdessen griff Sergej zu Goethes Faust Teil zwei, mithilfe dessen er dann seine Deutschkenntnisse erlangte.
Prokofieff ist, wie die Schilderung seiner Mutter zeigt, in der Sowjetunion in einem freigeistigen, künstlerischen Umfeld aufgewachsen, zunächst studierte er Malerei und Kunstgeschichte in Moskau. Der Komponist Sergei Sergejewitsch Prokofjew (1891–1953) war sein Großvater, den er aber nicht mehr kennengelernt hatte. Seine Musik habe er sehr verehrt, kein Konzert in Moskau verpasst, in dem Werke seines Großvaters erklangen, schreibt seine Mutter dazu.
1977 wird Sergej Prokofieff dann Mitglied der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft, 1980-81 verfasst er sein erstes Buch „Rudolf Steiner und die Grundlegung der neuen Mysterien“. 1985 gelingt ihm die Ausreise aus der Sowjetunion, es folgt der Umzug in die Schweiz, dann nach Bad Boll in Deutschland und der Beginn seiner weltweiten Vortragstätigkeit. Prokofieff hält seine Vorträge frei und ohne Notizen in vier Sprachen – in Russisch, Deutsch, Französisch und Englisch. Unterstützt wird seine Arbeit von seiner Frau Astrid, die er bereits 1982 in Edinburgh geheiratet hatte.
Hohes spirituelles Niveau mit Humor
Immer wieder wird in den Schilderungen der Begegnungen mit ihm auf das hohe spirituelle Niveau seiner Vorträge und Publikationen verwiesen, die Anthroposophie habe wie ein inneres Panorama vor seinem Seelenauge gestanden, wird z.B. berichtet, aus dem er souverän habe schöpfen und sprechen können.
Es war aber nicht nur diese Qualität, die Sergej Prokofieff zu einem der erfolgreichsten Vortragsredner der anthroposophischen Bewegung werden ließ: wie in den Berichten immer wieder betont wird, begeisterte er die Zuhörer durch die geistige Wärme, die er ausstrahlte, durch seine Wahrheitsliebe und vor allem auch durch seine Bescheidenheit. „Authentisch“ würde man heute sagen, war es, wie er für sein Anliegen Anthroposophie eingetreten ist, niemals von oben herab und immer bereit, auf den Menschen einzugehen, der konkret vor ihm stand. Hinzu kam sein Humor, den er – wie Vorstandskollegin Virginia Sease anmerkt – auch in die Vorstandsarbeit hineingetragen habe.
So wird der früh verstorbene Sergej Prokofieff sehr lebendig in diesem Buch durch die Erinnerungen der Menschen, für die die Begegnung mit ihm nicht selten lebensbestimmend wurde. Wer einen Überblick über Prokofieffs Werk erwartet hat oder auch eine inhaltliche Auseinandersetzung mit seinem Schaffen, wird von dem Buch enttäuscht sein, denn das bietet es nicht. Es macht jedoch die Spur deutlich, die Prokofieff durch sein Wirken in den Herzen von so vielen Menschen hinterlassen hat.
END/nna/ung
Literaturhinweis:
Prokofieff, Astrid/ Hasler, Hans (Hg): Ein Leben für die Anthroposophie – Erinnerungen an Sergej O. Prokofieff, Dornach 2023, ISBN 978- 3- 7235- 1736 – 9
Bericht-Nr.: 240209-01DE Datum: 9. Februar 2024
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