Nachrichtenbeitrag
Durch Schulung der Aufmerksamkeit sich und die Welt verändern
Eine Tagung in Stuttgart befasste sich mit dem Lebenswerk des Bewusstseinsforschers und Meditationslehrers Georg Kühlewind: die Revolutionierung der Ichvorstellung als Zeitnotwendigkeit.
Bewusstseinsforschung und Meditation waren die großen Lebensthemen des ungarischen Naturwissenschaftlers und Anthroposophen Georg Kühlewind (1924-2006). Eine Tagung in Stuttgart vom 9.-12.Oktober, veranstaltet von der Akanthos Akademie e.V. mit Referenten aus Wien, Klagenfurt, Udine und Stuttgart sollte die Aktualität von Kühlewinds Denken und der von ihm entwickelten Meditationspraxis aufzeigen, wie NNA-Korrespondentin Cornelie Unger-Leistner berichtet (siehe auch das NNA-Interview mit Wolfgang Tomaschitz „Worin liegt die Aktualität des Denkens und der Meditationslehre von Georg Kühlewind?“).
STUTTGART (NNA) – 80 Teilnehmer waren zur Tagung mit dem Titel „Die Wahrheit tun, der Meditationsimpuls im Werk von Georg Kühlewind“ gekommen, die im Rudolf Steiner Haus stattfand. In einem Rundschreiben zuvor hatten die Veranstalter auf das Hygienekonzept der Tagung hingewiesen, das eine begrenze Teilnehmerzahl, die Verpflichtung zum Tragen von Masken im Gebäude sowie Abstandsregeln vorsah.
Die Tagung sollte eigentlich schon im März stattfinden, war aufgrund der Coronakrise und des Lockdowns dann aber verschoben worden. Bei Veranstaltern und Teilnehmern waren Erleichterung und Freude zu spüren, dass die Zusammenkunft zum neuen Termin gerade noch möglich geworden war angesichts der in ganz Europa wieder steigenden Coronainfektionszahlen.
Schon von diesem Hintergrund her war die Zusammenkunft etwas Besonderes – eine Art meditative Insel im turbulenten Zeitgeschehen ringsumher. Gemeinsame Übgruppen, in denen sich die Meditierenden über ihre Erfahrungen austauschen, gehörten schon immer zum Konzept von Georg Kühlewind und zwar auch in einer Zeit, in der diese in der anthroposophischen Bewegung regelrecht verpönt waren. Auch bei der Stuttgarter Tagung war ein großer Anteil der Tagungszeit dem Üben nach dem Konzept der „Kühlewind-Schule“ gewidmet, in dessen Zentrum die menschliche Aufmerksamkeit steht.
In den Vorträgen der Referenten kam auch immer wieder zum Ausdruck, wie wichtig und dringlich es gerade in der Gegenwart ist, zu einer veränderten Erfahrung des Ich zu kommen durch Schulung der Aufmerksamkeit. Ob bei der Veränderung unserer Haltung gegenüber der Natur oder der Orientierung in der Informationsflut der digitalen Medien – letztendlich ist es das menschliche Ich und seine Sicht auf die Welt, das – wie Tagungsorganisator Andreas Neider hervorhob – diese Welt auch konstituiert.
„Revolution der Ichvorstellung“
Salvatore Lavecchia, Professor für Geschichte der Antiken Philosophie aus Udine/Italien bescheinigte Kühlewinds Werk eine „Revolution der Ichvorstellung“, bei der das Ich nicht als dunkles, von der Welt getriebenes Zentrum der Persönlichkeit, sondern als Möglichkeit einer geistigen Mitte und als Quell von geistiger Wärme und geistigem Licht angesehen wird, das zur ständigen Erneuerung fähig ist.
Organisationsberater Rudi Ballreich aus Witten/Herdecke setzte Kühlwinds meditative Forschungsmethoden in Bezug zum Kraftfeld zwischen Ich und Du in der Philosophie von Martin Buber. Entsprechend stand bei seinen Übungen die Begegnung mit dem Du im Vordergrund.
Wolfgang Tomaschitz, Sekretär der Anthroposophischen Landesgesellschaft Österreichs, unterstrich in seinen Ausführungen die Anschlussfähigkeit von Kühlewinds Denken an die akademische Bewusstseinsforschung, die „philosophy of mind“. Auch Andreas Neider von der Akanthos Akademie hob in seinem Abschlussbeitrag die Bedeutung Kühlewinds für den Dialog sowohl innerhalb der anthroposophischen Bewegung als auch außerhalb mit anderen spirituellen Strömungen hervor (siehe dazu auch das Interview mit Wolfgang Tomaschitz).
„Ausdruck eines freien Menschen“
Kühlewind-Schüler Prof. Laszlo Böszörmenyi, Informatiker aus Klagenfurt, hatte die Tagung mit einem Vortrag zur Biografie von Georg Kühlewind eröffnet, den er mit dem Hinweis versah, jede Aufzählung der biografischen Fakten könne nur die Oberfläche der Entwicklung eines Menschen darstellen. Er bezeichnete Kühlewinds Lebensgang als „Ausdruck eines freien Menschen“ und begann seine Darstellung mit den letzten Lebensjahren von Kühlewind, als seine Schüler eine „ungeheure Güte“ in dessen Wesen bemerkten: „Man kam in eine erhöhte Welt, wenn man ihm begegnete“. Neben Intensität und Ernst sei aber auch Fröhlichkeit immer Teil von Kühlewinds Ausstrahlung gewesen.
Als György Székely am 6.3.1924 in Budapest geboren, wuchs Georg Kühlewind in einem assimilierten jüdischen Elternhaus auf. Kühlewinds Vater war Arzt und seine Kindheit müsse man sich so vorstellen, wie es Stefan Zweig in seinem Roman „Die Welt von gestern“ für Wien beschrieben habe: in einer Fülle von Kultur und Bildung und voller Musikalität, erläuterte Prof. Böszörmenyi. Drei Sprachen seien fließend gesprochen worden in der Familie – wobei Kühlewind selbst immer bedauert habe, es im Hebräischen nie wirklich weit gebracht zu haben.
In seiner Jugend stand die Musik im Vordergrund seiner Interessen, lange hatte er – auch unter dem Einfluss von Béla Bartók – die Idee, Pianist zu werden. Schon früh setzte er sich mit dem Denken seiner Zeit auseinander, las Sigmund Freud, Carl Gustav Jung und Karl Marx bereits in jungen Jahren. Durch die Beschäftigung mit der Psychoanalyse kam Kühlewind zu der Einsicht, dass das Bewusstsein entscheidend für die menschliche und auch die gesellschaftliche Entwicklung ist – seine Begegnung mit dem Kulturwissenschaftler Karl Kerényi wirkte weiter in diese Richtung.
Früh lernte Kühlewind auch seine spätere Frau Annie kennen. Als das Naziregime im März 1944 Ungarn besetzte, blieb Kühlewind in seiner Heimatstadt Budapest und wurde als Zwanzigjähriger Zeuge von grausamer Verfolgung und Deportation der ungarischen Juden. In dieser Zeit führte er ein Tagebuch. Zusammen mit seinem Vater wurde Kühlewind dann inhaftiert und verbrachte ein Jahr im Konzentrationslager Buchenwald. Nach dem Krieg studierte er Chemie. „Die Denkweise der Wissenschaft wurde wichtig für seine spirituelle Entwicklung“, betonte Referent Prof. Böszörmenyi.
Anthroposophie
Mit der Anthroposophie war Kühlewind ebenfalls schon in jungen Jahren in Berührung gekommen, als er auf einem Dachboden eine Bücherkiste entdeckt hatte, in der unter anderem die Bücher „Goethes Weltanschauung“ und „Wahrheit und Wissenschaft“ von Rudolf Steiner zu finden gewesen waren. Bei der Lektüre des letzteren habe „es gezündet“. Kühlewind studierte zehn Jahre lang Rudolf Steiner und besuchte die Zweigarbeit in Budapest.
Als er sich am Ende doch von der Anthroposophie wieder abwenden wollte, ermutigte ihn ein Traum zur Weiterarbeit. Durch Widersprüchlichkeiten in Steiners „Philosophie der Freiheit“ – das Denken könne nicht beobachtet werden und wird es zum Schluss doch – kam er dann zu der Überzeugung, dass eine Auseinandersetzung mit der Tätigkeit des Denkens bei der menschlichen Aufmerksamkeit ansetzten müsse. Durch eine Praxis des Übens könne diese auf eine andere Ebene jenseits des Alltagsbewusstseins gehoben werden.
Aufgrund der Gesetzgebung in Ungarn konnte der Chemiker Kühlewind bereits 1958 in Pension gehen – so blieben ihm viele Jahre zur Arbeit an seinen Texten und Meditationsschulungen. Insgesamt entstanden 23 Bücher und 30 Notizhefte, die teilweise noch posthum veröffentlicht worden sind.
Grenzgänger
Zu Zeiten des Eisernen Vorgangs war Kühlewind stets ein Grenzgänger zwischen Ost und West – dies aber auch in spiritueller Hinsicht. Er setzte sich intensiv mit den Meditationspraktiken des Zen auseinander und sein Denken bietet auch hier Anknüpfungspunkte für den Dialog - wie mehrfach auf der Tagung unterstrichen worden ist. „Georg hatte immer ein Interesse an tiefer geistiger Erfahrung, das Kleid war ihm egal“, fasste Prof. Böszörmenyi die Haltung Kühlewinds zusammen.
Das Streben nach Wahrheit erscheint so bei Kühlewind als fortlaufender Prozess, der auch keine gedanklichen Berührungsängste kennt. Er selbst habe lebenslang den Prolog aus dem Johannesevangelium meditiert, erfuhr man aus dem Vortrag.
Das Gewahrwerden des Logos als bestimmende Struktur der Welt, die Möglichkeit des fühlenden Wahrnehmens, des wortlosen Verstehens in der menschlichen Kommunikation, Licht und Leere des Bewusstseins sind weitere Themenschwerpunkte im Werk von Georg Kühlewinds.
Ab 1979 war er als Dozent am Seminar für Waldorfpädagogik in Budapest tätig, er hielt Vorträge und Kurse in fast allen Ländern Europas sowie in den USA und Südostasien. Kühlewind verstarb am 15.Januar 2006 in Budapest. Übgruppen seiner Schüler entstanden an vielen Orten seines Wirkens, sie trugen sein Lebenswerk weiter.
Die Vorträge der Tagung in Stuttgart wurden auf Video aufgezeichnet und können hier im Internet auf YouTube aufgerufen werden.
END/ung/nna
Der letzte Absatz und die Links in dieser Meldung wurden am 16. November 2020 geändert um den Link zu der Aufzeichnung der Vorträge auf YouTube einzufügen.
Bericht-Nr.: 201020-03DE Datum: 20. Oktober 2020
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