Nachrichtenbeitrag

Dunkle Flecken der Vergangenheit offengelegt

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Von NNA-Korrespondent Wolfgang G. Voegele

REZENSION | Eine neue Publikation untersucht die Rolle der Christengemeinschaft in der NS-Zeit. Sie belegt auch gerade jetzt wieder die Notwendigkeit der Abgrenzung gegenüber Rechtstendenzen in der anthroposophischen Bewegung.

Die Aufarbeitung der NS-Zeit erweist sich als längerer Prozess – auch im kirchlichen Bereich. Erst jetzt gibt es dazu eine umfassendere Publikation auch über die anthroposophische Christengemeinschaft. NNA-Korrespondent Wolfgang G. Voegele hat sich das Buch von Frank Hörtreiter angeschaut. Einmal mehr wird darin die Notwendigkeit der Abgrenzung gegenüber Rechtstendenzen in der anthroposophischen Bewegung deutlich.

STUTTGART (NNA) – Sahen sich die großen christlichen Kirchen nach Kriegsende 1945 noch weitgehend als Repräsentanten des „anderen Deutschland“, ja sogar des Widerstandes, so ergaben Forschungen erst später ein anderes, differenzierteres Bild. So waren es vor allem die Forschungen der von den Kirchen eingesetzten zeithistorischen Kommissionen, die dazu beitrugen, dass auch von Anpassung an das NS-Regime und von Mittäterschaft kirchlicher Kreise an seinen Verbrechen die Rede war (1).

Wie verhielt es sich nun mit der Christengemeinschaft in der NS-Zeit?

Auch sie konnte sich nach der „Stunde null“ zunächst als verfolgte Minderheit fühlen: Im zwanzigsten Jahr ihres Bestehens war sie 1941 zugleich mit anderen Glaubensgemeinschaften (Zeugen Jehovas) verboten worden, ihre Priester wurden verhaftet, ihre Literatur beschlagnahmt.

Dass die Verfolgung der Christengemeinschaft auch in der evangelischen Kirche nicht ohne Anteilnahme wahrgenommen wurde, belegt Hörtreiter mit einer Aussage des Theologen und Widerstandskämpfers Dietrich Bonhoeffer: „Die Verhaftung der Mitglieder der sogenannten Christengemeinschaft, die man als stille und völlig unpolitische Menschen kennt, wird auch in der evangelischen Kirche aufs Tiefste bedauert.“ (2)

Eine interne kritische Aufarbeitung der Geschichte der Christengemeinschaft in der NS-Zeit fand jedoch lange nicht statt. In den 1980er Jahren untersuchten einzelne Autoren wie Arfst Wagner die Rolle von Anthroposophen im Dritten Reich, wobei auch hier Anpassung und Mitläufertum ans Licht kamen. In Uwe Werners gründlicher Studie Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus (1999) wird auch die Christengemeinschaft erwähnt, die bei den Nazis als Tarnorganisation der 1935 verbotenen Anthroposophischen Gesellschaft galt.

An eine systematische Aufarbeitung der Geschichte der Christengemeinschaft in der NS-Zeit hat sich jetzt erst – kurz vor ihrem 100jährigen Bestehen – Frank Hörtreiter, Pfarrer und Öffentlichkeitsbeauftragter der Gemeinschaft, herangewagt. Für sein 415-seitiges Buch konnte er zahlreiche unveröffentlichte Quellen (Tagebücher, Briefe usw.) nutzen, vor allem aus dem Archiv der Christengemeinschaft Berlin. Es besteht aus sieben Kapiteln, wobei das letzte nur Dokumente enthält und die Hälfte des Buches ausmacht.

Die Rolle Friedrich Rittelmeyers

Die erste Hälfte des Buches beschäftigt sich immer wieder mit dem ersten Leiter der Christengemeinschaft (Erzoberlenker) Friedrich Rittelmeyer, der bis zu seinem Tod 1938 versucht hatte, das drohende Verbot der Christengemeinschaft zu verhindern.

Hörtreiter kritisiert einerseits den heute nicht mehr erträglichen pathetischen Stil Rittelmeyers und seine Aussagen zu völkischem Denken und Judentum. Andererseits versucht er, hinter diesen Aussagen Rittelmeyers Hauptanliegen aufzuspüren, eine Bestimmung dessen, was Christentum ist, gerade auch in Abgrenzung zum völkischen Denken.

Ausführlich wird Rittelmeyers Schrift „Deutschtum“ (1934) besprochen, die auch eine Reaktion auf Hitlers Machtergreifung war. Inhaltlich entstand diese Schrift, die sich am deutschen Idealismus orientierte, aus Aufsätzen, die er seit 1924 publiziert hatte. Für den heutigen Leser sei es schwer zu erkennen, ob Rittelmeyer sich bei den Machthabern empfehlen oder sich von ihnen distanzieren wollte. Auch hier kritisiert Hörtreiter die pathetische Sprache und die verallgemeinernden Schlüsselbegriffe, mit denen Rittelmeyer nationale Eigenheiten bezeichnet.

Hörtreiter sieht in der Schrift keine Taktik der Anbiederung an das NS-Regime, die Art der Darstellung sei eher im Charakter Rittelmeyers begründet gewesen, der immer versucht habe, Andersdenkende zunächst einmal in deren Idealen wahrzunehmen um dann Fehlendes zu ergänzen. Auch sei Polemik nicht Rittelmeyers Sache gewesen. Den Nationalsozialismus als solchen habe Rittelmeyer jedoch klar abgelehnt.

Angesichts dieser von Hörtreiter herausgearbeiteten Ambivalenzen stellt sich die Frage, ob nicht auch das Werk von Friedrich Rittelmeyer eine kommentierte Ausgabe erfordert, sollte es in der heutigen Zeit in der Christengemeinschaft weiter verwendet werden.

Helmut Zanders Vermutung, Rittelmeyer habe unter Steiners Einfluss seine völkischen Einstellungen verschärft, widerspricht Hörtreiter: Er sei vielmehr stark beeindruckt gewesen von den Angriffen auf Steiner durch rechtsradikale Schläger und habe eher dazu beigetragen, junge Priester von „braunen Tendenzen“ abzuhalten. Rittelmeyer sei auch nicht, wie Zander irrtümlich schreibe, aus dem Vorstand der Anthroposophischen Gesellschaft ausgeschlossen worden, sondern zurückgetreten (S. 32).

Einflüsse aus der Jugendbewegung

Hörtreiter tritt auch Darstellungen aus der linksalternativen Szene entgegen, die von einer reaktionären Moderne sprechen und die Ideale der Lebensreform und Jugendbewegung mit der Ideologie des Faschismus in einen Topf werfen. Hier sei vielmehr eine saubere Unterscheidung nötig. Von den jüngeren Gründern der Christengemeinschaft kamen viele aus der Wandervogel- bzw. Jugendbewegung.

Manche von ihnen besuchten weiterhin Jugendtreffen, wie ein Brief von Alfred Schreiber von 1927 zeigt. Es gab manche Gemeinsamkeit in Idealen und Lebensformen (das Ideal, sich selbst zu wandeln, um die Welt zu verändern, Naturnähe, Pflege des Laienspiels), doch von den mehr politischen Gruppierungen (völkische oder sozialistische Jugendbünde) hätten sich die jungen Priester ferngehalten. Es sei ihnen unmöglich erschienen, das Individuelle einem Kollektivismus aufzuopfern.

Kampf um das Überleben

Nach dem Verbot der deutschen Anthroposophischen Gesellschaft (1935) gab es vielfältige Versuche, das Überleben der Christengemeinschaft zu sichern. Dies belegen Briefe Rittelmeyers (von denen einer als Faksimile abgebildet ist) oder die Eingabe an Heydrich mit den Unterschriften sämtlicher Priester nach der Suspendierung Hermann Heislers (1939), der unvorsichtig gehandelt hatte, indem er trotz Verbot weiter anthroposophische Einführungskurse abhielt. Bei langwierigen Verhandlungen mit der Gestapo war auch Elisabeth Klein aktiv, eine Waldorflehrerin, die durch ihre Kontakte zu höheren NS-Funktionären die Schließung der Dresdner Waldorfschule lange hinausgezögert hat. Ihre Haltung zum NS-Regime und ihre Rolle in der Geschichte der Waldorfschulbewegung ist umstritten.

Eine spannende längere Darstellung der Vorgeschichte des Verbots von 1941 hat Ellen Huidekoper (1956-2011) verfasst, Hörtreiter hat sie in sein Buch aufgenommen, das er eigentlich zusammen mit Huidekoper verfassen wollte. Die Historikerin war 1985 zur Priesterin geweiht worden und gehörte seit 1987 zur Leitung der Christengemeinschaft.

Hilfsaktionen für Juden, aber auch antisemitische Ansichten

Die Frage, ob jüdische Mitglieder weiterhin am Gottesdienst teilnehmen sollten, wurde in den Gemeinden unterschiedlich entschieden. Rittelmeyer hatte die weitere Teilnahme befürwortet.

Wenig bekannt geworden sind die Ausschleusungsaktionen für jüdische Gemeindeglieder während der deutschen Besatzung der Niederlande (S. 109 f.). Dem Lenker der Christengemeinschaft in den Niederlanden gelang es während der deutschen Besatzung, sich einer Aktion der übrigen Kirchen anzuschließen, die sich bemühte, einen Abtransport von getauften Juden zu verhindern. Die Besatzungsbehörden stimmten zu, so dass vielen der Transport in die Vernichtungslager erspart blieb.

In den Tod gingen Gemeindeglieder, wenn auch nicht wegen ihrer Zugehörigkeit zur Christengemeinschaft, sondern als Juden. Berichte von Überlebenden bezeugen ein Fortleben des Gemeindelebens im Transitlager Theresienstadt.

Martha Haarburger hat sich für die dortigen Blinden eingesetzt und berichtete später, dass in Gruppen, die als Lesekreise getarnt waren, der Text des Christengemeinschafts-Kultus gesprochen wurde. „Wir vergaßen, dass wir hinter Stacheldraht waren, bewacht und von hasserfüllten Todfeinden umgeben.[…] Wir fühlten, dass helfende Kräfte bei uns waren.“

Auch Henriette Schläger, die sich um die unter Quarantäne stehenden Flecktyphus-Kranken gekümmert hatte, erzählt in einem Brief von der regelmäßigen gemeinsamen Lektüre anthroposophischer Schriften und von den erschütternden Abschieden, als Freunde in die Vernichtungslager gehen mussten.

Die in einem jüdischen Elternhaus in Mannheim aufgewachsene Maria Krehbiel-Darmstädter findet im Umkreis des evangelischen Stadtpfarrers Paul Klein (einem persönlichen Schüler Rudolf Steiners) zur Anthroposophie und wird Mitglied der Christengemeinschaft. Als die badischen Juden 1942 in das südfranzösische Lager Gurs deportiert werden, steht Maria dort ihren Mitgefangenen als Seelsorgerin bei, obwohl sie durch Krankheit zunehmend geschwächt ist. Sie fühlt sich überkonfessionell und in der Christengemeinschaft. Versuche von Freunden, sie in die Schweiz zu schleusen, scheitern. Sie wird in das Sammellager Drancy bei Paris abtransportiert. Wegen ihrer Fürsorglichkeit unter polnischen Juden wird sie „Mère Maria“ genannt. Von dort kommt sie 1943 schließlich nach Auschwitz, wo sie sofort ermordet wird. Peter Selg hat eine Biographie über sie verfasst (3). Schon vorher waren ihre Briefe einem breiteren Leserkreis bekannt geworden. Ohne angemaßte Vorbildlichkeit, so Hörtreiter, habe sie die Segenskraft Christi enpfangen, um sie anderen Menschen weiterzugeben. „In diesem Sinne darf die Christengemeinschaft ihrer als einer Heiligen gedenken“ (S. 131).

Erstmals veröffentlicht ist in Hörtreiters Publikation auch ein Schreiben von August Pauli an seine Mitpriester vom Januar 1942, in dem er überlegt, wie man trotz des Verbots weiterwirken könne. Er sieht das Verbot als Chance, um die geistigen Kräfte zu erproben und verweist auf die biblische Erzählung von Jona, der als Totgesagter überlebte. Als johanneische Kirche bestehe die Christengemeinschaft in einer Sphäre weiter, in denen kein Zugriff weltlicher Gewalten möglich sei. Dem johanneischen Christentum gehöre die Zukunft. Allerdings beklagt Hörtreiter, dass auch dieses Schriftstück nicht frei von Antisemitismus sei („aus heutiger Sicht völlig indiskutabel“), der die jüdische Abstammung mit Intellektualismus, Materialismus und Zersetzung in Zusammenhang bringt und sogar bezweifelt, dass „Mischehen zwischen Deutschen und Juden wünschenswert seien“.

Täterprofile erstmals aufgearbeitet

Hörtreiter beschränkt sich nicht auf die Opferperspektive, sondern arbeitet erstmals auch einzelne Täterprofile auf: Ein junger Pfarrer hatte sich während der deutschen Besatzung der Niederlande von der Christengemeinschaft abgewandt und sich als Nazi an der Judenverfolgung beteiligt. Nach dem Krieg konnten zwei ehemalige Nazis Priester werden: Friedrich Benesch und Werner Georg Haverbeck. Sie hatten bei ihrer Bewerbung ihre dunkle Vergangenheit verschwiegen. Haverbeck, ein hoher Nazi-Funktionär, wurde suspendiert, weil er im 2008 verbotenen „Collegium Humanum“ mit „patriotischen“ Dozenten und Holocaustleugnern zusammenarbeitete. Sein Buch „Rudolf Steiner, Anwalt für Deutschland“ wurde in anthroposophischen Kreisen weitgehend abgelehnt

Auch seinerzeit spektakuläre Austritte aus der Christengemeinschaft werden erwähnt, die mit Namen wie Werner Klein (1929), Gertrud Spörri und Hermann Weidelener (1933) verbunden sind. Deren persönliche Motive waren schon früher dargestellt worden (4).

Der Verfasser resümiert: „Die Christengemeinschaft darf sich gewiss nicht zum Widerstand zählen.“ und fragt selbstkritisch: „Haben wir für unsere verfolgten Mitgeschwister genug getan? Hätten wir es gekonnt?“

Das dokumentenreiche Buch mit seinen umfangreichen Auszügen aus Briefen und Tagebüchern legt dunkle Flecken der Vergangenheit offen, zeigt aber auch, wie die Christengemeinschaft während der Verbotszeit ihren Bekennern religiösen Halt bot. Es erinnert daran, dass einzelne Mitglieder auch außerhalb der eigenen Reihen als Helfer und Tröster wirkten. Frank Hörtreiter, der sich seit langem für den interkonfessionellen und ökumenischen Dialog einsetzt, hat damit nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Kirchengeschichte des 20. Jahrhunderts geleistet, sondern auch zur gegenwärtigen Debatte um die Notwendigkeit der Abgrenzung der anthroposophischen Bewegung gegenüber Rechtstendenzen.

Erwähnenswert sind noch die nützlichen Listen im Anhang: u.a. der Pfarrerinnen und Pfarrer im Zweiten Weltkrieg, der bisher erschienenen Chroniken einzelner Gemeinden sowie Personen- und Ortsregister.

Hinweise:
1 Vgl. Christiane Kuller/Thomas Mittmann: zeitgeschichte-online.de/themen/kirchenkampf-und-societas-perfecta, 1.12.2014.
2 Dietrich Bonhoeffer, Konspiration und Haft 1940-1945. Werkausgabe, Band 16, hrsg.von Jørgen Glenthøj, Ulrich Kabitz und Wolf Krötke, Gütersloh 1996, S. 231.
3 Peter Selg: Maria Krehbiel-Darmstädter. Arlesheim 2010.
4 Rudolf Gädeke: Die Gründer der Christengemeinschaft. Stuttgart 2021 (2. überarbeitete Aufl.).

END/nna/vog

Literaturhinweis:
Frank Hörtreiter: Die Christengemeinschaft im Nationalsozialismus, Verlag Urachhaus, Stuttgart 2021, 416 Seiten, gebunden, 46 Euro.

Bericht-Nr.: 211209-03DE Datum: 9. Dezember 2021

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