Nachrichtenbeitrag
„Die Welt ist unverhofft in ein Großexperiment eingetreten“
Bietet die Corona-Virus-Krise Chancen für eine grundsätzliche Umgestaltung im Sinn einer Postwachstums-Gesellschaft? Petition fordert: Jetzt ein grünes Europa schaffen!
Während sich Politik und medizinische Wissenschaft gegenwärtig mit den in der Corona-Virus-Krise getroffenen Maßnahmen befassen, Möglichkeiten und Risiken ihrer Lockerung diskutieren, ist im Bereich der Ökonomie eine ganz andere Diskussion in Gang gekommen: Prof. André Bleicher fragt nach den Chancen, die in der Krise liegen für eine sozial-ökologische Umgestaltung der Wirtschaft. Und eine Petition fordert: „Europa auf den Weg zu einer grünen und fairen Wirtschaft bringen“.
Biberach (NNA) – Prof. André Bleicher, Rektor der Hochschule Biberach und dort Professor für Ökonomie mit dem Schwerpunkt Unternehmensführung und Organisation hat die gegenwärtige Entwicklung unter diesem Gesichtspunkt analysiert. Sein Beitrag wird auch in der nächsten Ausgabe der Vierteljahresschrift Sozialimpulse erscheinen.
Ist mit der Corona-Virus-Krise auch der Abschied von der Wachstumsgesellschaft eingeläutet, wie ihn die Verfechter eines „Degrowth“ oder Postwachstums für notwendig halten, um der weiteren Zerstörung unserer Lebensgrundlagen Einhalt zu gebieten und eine Wirtschaftsweise herauszubilden, die dem Wohle aller dient? Achtsamkeit, Solidarität und Kooperation sollen nach dieser Auffassung die grundlegenden Werte einer Postwachstumsgesellschaft sein. Die Menschheit müsse sich „als Teil des planetarischen Ökosystems begreifen“. Nur so könne ein selbstbestimmtes Leben in Würde für alle ermöglicht werden, heißt es dazu auf der Homepage von „Degrowth – Konzeptwerk neue Ökonomie“.
Kann die Post-Corona-Gesellschaft sich in eine solche Richtung entwickeln?
Die Corona-Krise erweist sich als eine schwerwiegende Wirtschaftskrise und als eine Krise, die nicht auf eine ökonomische Ursache zurückzuführen ist, sondern auf einen exogenen Schock. Das Virus erfordert einschneidende Maßnahmen – es geht um Leben und Tod – die in ökonomischen Kategorien normalerweise nicht fassbar sind. Wir haben es mit gesellschaftlichen und ökonomischen Verschiebungen zu tun. Um welche Prozesse geht es?
- Das Aussetzen von Produktion und Wertschöpfung aufgrund von Verboten oder mittels politischer Regulation zwecks Eindämmung der Pandemie.
- Die Reduktion des Konsums: Ausgehverbote und Ladenschließungen schränken Einkaufszeiten und -volumina ein. Selbst elektronisch getätigte Einkäufe werden aufgrund von Kapazitätsgrenzen zumindest gestört.
- Homeoffice: Unternehmen restrukturieren sich im laufenden Betrieb, der klassische Tagesablauf eines Angestellten / Arbeiters gerät in Unordnung, Management und Organisation müssen sich neuen Gegebenheiten anpassen.
- Die Globalisierung – Errungenschaft der letzten 70 Jahre – ist radikal eingebrochen; Unternehmen werden sich, was die Ausgestaltung ihrer Wertschöpfungsketten betrifft, umstellen und versuchen, den Produktionsablauf mit mehr Resilienz zu versehen.
- Die Freizeitkultur (Restaurants, Kneipen, Clubs, Events, Sportveranstaltungen etc.) ist stillgelegt, der Feierabend, das Wochenende sind sozial ‚ausgetrocknet‘.
- Sämtliche Kulturangebote werden ausgesetzt, die Sendeanstalten greifen auf Konserven zurück, da auch Neuproduktionen nicht mehr möglich erscheinen.
- Das Ende des Tourismus steht gleichsam als Menetekel an die Wand geschrieben – Reisen, Flüge, Hotels, Airbnb, all diese Angebote stehen auf absehbare Zeit nicht zur Verfügung.
- Autokäufe brechen ein, denn wer sich nicht bewegen kann, denkt nicht über neue Statussymbole nach, die dann in der Garage geparkt werden müssen.
Abstrahiert man von den einzelnen Prozessen, so zeigen sich vier große Tendenzen:
(1) Mobilität bleibt nachhaltig beschränkt und zwar auf allen Ebenen: International werden die Flüge gestrichen und regulieren Einreiseverbote den personellen Austausch zwischen Ländern und Kontinenten. National wird der Reiseverkehr durch Einschränkung der benötigten Infrastrukturen (Hotels) auf ein Minimum reduziert und lokal beschränken funktionale Äquivalente, die gleichsam wie Ausgehverbote wirken, die üblichen Interaktionen. Das öffentliche Leben verschiebt sich aus den realen Räumen in die Virtualität (Social Media und TV).
(2) Gesellschaftlich hat sich eine Halbierung der Arbeit entwickelt, viele Unternehmen, ja Branchen sind vorläufig geschlossen. Neu entdeckt wird die Bedeutung der Daseinsvorsorge: Krankenhäuser, Lebensmittel, Polizei, Feuerwehr und Altenpfleger arbeiten an der Grenze der Belastungsfähigkeit, gleichsam im Dienst an der Gesellschaft.
(3) Das Wachstum – ohnehin schon stagnierend – ist einstweilen beendet, die Ökonomie schrumpft, Szenarien rechnen mit Einbrüchen des Bruttoinlandsprodukts (BIP) im hohen einstelligen Bereich. Bei einem BIP von 3,44 Billionen Euro in 2019 kann jeder ermessen, was der Verzicht auf nur ein Prozent Wirtschaftsleistung bedeutet.
(4) Die Emissionsbilanzen – im Zuge der Klimakrise ins Bewusstsein gerückt – verändern sich zum Positiven.
Degrowth
Im Grunde schlittert die Welt in einen Zustand hinein, den die kapitalismuskritischen Vertreter der Postwachstumstheorie in den Diskussionen der letzten beiden Jahrzehnte als Alternative vorgeschlagen haben: Degrowth, Décroissance oder Postwachstum .
Was in dieser Theorie nur eine Möglichkeit war, hat sich jetzt durch die Covid-19-Pandemie ungeplant und vollkommen überraschen ereignet mit einer Vielzahl von Aspekten: Beendigung des globalen Kapitalismus mit seinem aggressiven Wettbewerb, Verschiebungen in der Konsumkultur (weniger kaufen, Grundnahrungsmittel höher bewerten), Eindämmung der globalen Tourismusschwemme, klimatologische Erholung durch Verzicht auf Flüge und Autoverkehr.
Aber, wohlgemerkt, dieses Corona-Postwachstum hat seinen Preis, der mit Insolvenzen, Arbeitslosen und mit einem damit einhergehenden sinkenden Wohlfahrtslevel zu entrichten sein wird. Und, Postwachstum ist schlagartig eingetreten, by desaster, not by design, wie sich es die Vertreter des Konzeptes eigentlich wünschen. Postwachstum ist aber im Falle Corona nicht das Ergebnis eines geänderten Bewusstseins, sondern einfach das Ergebnis starker antiepidemischer Maßnahmen. Die Einsicht dafür kommt nicht aus der Reflektion der Wachstumsfolgen, sondern aus der Furcht vor hohen Sterberaten.
Unabhängig davon, ob man den Postwachstumsvorstellungen anhängt oder diese eher skeptisch sieht, die Welt ist unverhofft in ein Großexperiment eingetreten mit der Fragestellung, welche Veränderungen Gesellschaften ertragen können? Veränderungen, die ohne den Virus-Schock nicht denkbar gewesen wären.
Ökonomie der Sorge
Zu beantworten bleibt die bedeutsame Frage, was davon post coronam erhalten bleibt. Begrifflich könnte dieses Experiment dergestalt beschrieben werden, dass sich jenseits aller materiellen Maximierung eine ‚Ökonomie der Sorge‘ entfaltet, die das Leben in der Gesellschaft, die Formen des Sozialen, der Geselligkeit, und die Nachfrage nach Gütern aus der Angst vor dem Tod in eine Form extremer Vorsicht presst.
Eines steht allen klar vor Augen: Die Gesundheitssysteme müssen erheblich saniert und reorganisiert (aus der Privatisierung erlöst) werden. Des Weiteren wird deutlich: Die Digitalisierung wird einen großen Sprung machen, wenn man bedenkt, dass Institutionen und Unternehmen sich auf home working einstellen, dass Schulen, Behörden und Hochschulen künftig viel stärker digital arbeiten werden.
Wie weit das home working, mit seiner relativen Autonomie, die Hierarchien und Organisationen der Unternehmen nachhaltig wandeln wird, bleibt genauso zu beobachten wie die neuen Verknüpfungen globaler Wertschöpfungsketten und ein ganz anderer Umgang mit Rohstoffen.
Ob wir später noch so viel fliegen müssen (weil die digitalen Konferenzen einfacher sind), ob der Tourismus wieder die alten Massendimensionen einnehmen wird, ob wir die Freiheiten, die wir im globalen Verkehr hatten, aufrechterhalten, ob die Finanzmärkte wieder eine dominante Dimension einnehmen dürfen – alles offene Fragen, aber mit Sicherheit werden Spuren der Postwachstumsphase, die wir gerade durchlaufen, erhalten bleiben und eine andere Gesellschaft und Wirtschaft ausbilden.
In welchem Maße sich das ereignen wird, ist einstweilen nicht abzusehen. Es wird auch davon abhängen, wie weit der Stress in der Gesellschaft anwachsen wird, inwieweit Insolvenzen und Arbeitslosigkeiten politische Phänomene hervorbringen, über die man eigentlich gar nicht genau nachdenken möchte. Denn Krisenmanagement kann ja auch schiefgehen, weil es selber experimentell und erfahrungslos sein muss.
Petition fordert: „Europa auf den Weg zu einer grünen und fairen Wirtschaft bringen“.
Führende Umweltorganisationen in Europa unterstützen eine Petition, mit der die Staatschefs aufgefordert werden, die Corona-Virus-Krise für einen grundsätzlichen Umbau der Gesellschaft in Richtung Nachhaltigkeit zu nutzen. Es sei an der Zeit, sich zusammenzuschließen, um „Europa entschieden auf den Weg zu einer grünen und fairen Wirtschaft zu bringen“.
Die Regierungen sollten der Versuchung widerstehen, schnellen „Lösungen“ nachzugeben, heißt es in dem Aufruf und eine Wirtschaft zu retten, die „sozial ungerecht ist, die unseren Planeten verschmutzt und überhitzt, unsere natürlichen Ressourcen erschöpft und die Gesundheit und das Wohlergehen der Bevölkerung gefährdet“.
Stattdessen müssen die Chance genutzt werden, um „etwas Neues, etwas viel Besseres aufzubauen: eine wirklich nachhaltige Wirtschaft, die klimaneutral, ressourcenschonend und fair ist, in der Mensch und Natur gedeihen“. Auf diese Weise könnten qualitativ hochwertige grüne Arbeitsplätze geschaffen, die Klimakrise bekämpft, die Natur bewahrt und Wirtschaft und Gesellschaft langfristig widerstandsfähiger gemacht werden.
END/nna/ung
Bericht-Nr.: 200430-05DE Datum: 30. April 2020
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