Nachrichtenbeitrag
„Die größte Fehlentscheidung der Eisenbahngeschichte“
Über zehn Jahre protestieren die Gegner des Stuttgart21 Großbahnprojekts: letzte Woche fand die 500. Montagsdemo statt. S21 sei unter anderem ein „Sargnagel“ des Klimaschutzes. Ein alternatives Konzept „Umstieg21“ gibt es schon.
STUTTGART (NNA) – Ein denkwürdiges Jubiläum feierte die Bewegung gegen das Großprojekt Stuttgart21: Zur 500. Montagsdemo versammelten sich am 3. Februar rund 4.000 Personen vor der Baustelle in der Stuttgarter Innenstadt. Seit mehr als zehn Jahren engagieren sich damit Menschen gegen das Projekt.
Neben den aktiven Gruppen der Juristen und der Ingenieure22 für den Kopfbahnhof finden sich nach wie vor unterschiedlichste Projektgegner im Aktionsbündnis zusammen: ArchitektInnen, TheologInnen, Stadtteilgruppen, das Mahnwachenteam, die Parkschützer, SPD-Mitglieder gegen Stuttgart21, die SÖS (Stuttgart ökologisch sozial) im Stuttgarter Gemeinderat, das Rems-Murr-Bündnis und GewerkschafterInnen gegen S21.
Alle genannten Gruppen „lassen nicht locker im Engagement, sich für Alternativen, für Enthüllungen bisher verschwiegener unangenehmer Fakten und für ein Gegengewicht gegen eine stets beschönigende Berichterstattung pro S21 einzusetzen“, heißt es dazu auf der Homepage des Bündnisses. Der Tiefbahnhof „bringt’s nicht“ betonen die Gegner – weder die geplanten höheren Zugzahlen pro Stunde noch die erforderliche Sicherheit für die Reisenden, „geschweige denn die von der Bundesregierung geplante Verdoppelung der Fahrgastzahlen samt Einführung eines Deutschland-Taktes mit integralen Takt-Fahrplänen an den Knotenbahnhöfen.
Flaschenhals
Auf der 500. Demonstration war deswegen immer wieder ein Flaschenhals zu sehen, für die Stuttgart21-Gegner ein Bild für die drohende Verschlechterung der Leistungsfähigkeit des Bahnhofs durch den Neubau. „Mit einem 8-gleisigen Durchgangsbahnhof wird die Leistungsfähigkeit des Stuttgarter Bahnknotens (derzeit 40 Züge pro Stunde) auf 32 Züge pro Stunde deutlich vermindert und damit zu einem Verkehrs-Engpass („Flaschenhals“) mit bundesweiten Rückwirkungen gemacht“.
Weitere Nachteile sehen die Gegner in einer einseitigen Förderung des Fernverkehrs, der Regionalverkehr müsse sich „in die Fahrplanlücken zwängen“. Ein integrierter Taktfahrplan werde so unmöglich. Außerdem würden die Bahnsteige im Tiefbahnhof auf ihre Länge von 400 Metern eine „für Bahnhöfe europaweit unzulässige Höhendifferenz von über 6 Metern aufweisen“. Bei nur 1,5 Metern Gefälle sei es im Kölner Hauptbahnhof immer wieder zu Wegroll-Vorgängen gekommen, bei einigen mit Verletzten.
Unter Klimaschutzgesichtspunkten sei Stuttgart21 „ein weiterer Sargnagel“, da der Betrieb mit den stark ansteigenden und engen Tunnelstrecken „einen enormen Energieverbrauch“ nach sich ziehen werde – ebenso wie einen dauerhaften Energieaufwand für Beleuchtung, Rolltreppen, Aufzügen und Belüftung.
Risken
Das Projekt produziere außerdem eine ganze Reihe von Risiken, hier nennen die Stuttgart21-Gegner „zerstörerische Quellprozesse“ in denjenigen Tunnelabschnitten, die durch problematische Anhydrid-Gesteinsformationen führen. In der in sich geschlossenen Tiefbahnhofhalle sei mit einer hohen Feinstaub-Belastung zu rechnen – vor allem durch den Abrieb der Bremsen der Züge. Einschneidend würden im Bahnbetrieb zudem die fehlenden Ausweichmöglichkeiten bei technischen oder anderen Störfällen im Tiefbahnhof oder einer der Tunnelröhren sein aufgrund der „zu knapp bemessenen Gleiskapazitäten“.
Hinzu kämen die ständig wachsenden Kosten des Projekts, die derzeit mit 8,2 Milliarden EUR veranschlagt werden im Gegensatz zu den anfänglichen 2,5 Milliarden EUR. Das Projekt übersteige längst die von der Bahn selbst gesetzte Wirtschaftlichkeitsmarke von 4,5 Milliarden EUR. Die extremen Kosten für dieses Großprojekt bewirkten, dass „das Geld für andere, bundesweit wichtigere Bahnprojekte fehlen“.
Ungeachtet aller Proteste und gerichtlicher Klagen hätten sich DB-Vorstände und Aufsichtsräte an die Vorgabe der Bundesregierung „Weitermachen“ gehalten. Dabei hätten auch politische und wirtschaftliche Interessen der Projektbefürworter eine Rolle gespielt. Das Großprojekt sei so „über den Punkt seiner angeblichen Unumkehrbarkeit vorangetrieben worden“. Die Deutsche Bahn versuche, weitere Steuergelder für den Weiterbau und die Fertigstellung zu erzwingen. Keiner der Projektpartner wage es bisher, aus der Linie der Befürworter auszuscheren. S21 – so solle es erscheinen – sei „endgültig alternativlos und weiterer Widerstand dagegen aussichtslos.“
Alternatives „Gebot der Vernunft“
Dem stellen die Stuttgart21-Gegner ihr Konzept „UMSTIEG21“ entgegen. Ausgangspunkt des Konzepts ist der Erhalt und die Modernisierung des 16gleisigen Kopfbahnhofs. Darunter könnte im Trog des bereits gegründeten Tiefbahnhofs ein Zentraler Omnisbusbahnhof (ZOB) für Tourismus-, Regional- und Fernbusse entstehen, eine Tiefgarage sowie eine E-Auto-Verleihstation. Zur Anbindung des Flughafens sieht das Konzept einen S-Bahn-Ringschluss vor anstelle der „unvernünftigen und höchst problematischen“ Streckenführung auf den Fildern.
Die bereits fertiggestellten Tunnel sollen umgenutzt werden z.B. für einen emissionsfreien Straßenverkehr z.B. mit Elektrobussen oder auch für ein „smartes“ Konzept der City-Logistik mit Anlaufstellen für Güterferntransport am Stadtrand und eine Feinverteilung mit umweltschonenden Fahrzeugen in der City. Hier lohne ein Blick in die Schweiz, schreiben die Stuttgart21-Gegner, wo ein großes unterirdisches, weitgehend automatisiertes Güter-Transport-System realisiert werde, da eine Zunahme des Warenverkehrs von Straße und Schiene nicht werde bewältigt werden können. Die Schweizer Planer gingen von einer Entlastung der Innenstädte um 30% des Lieferverkehrs aus. (www.cst.ch)
Stuttgart21 sei „die größte Fehlentscheidung der Eisenbahngeschichte – wir geben einen Haufen Geld aus und haben dadurch keinen Vorteil“, zitieren die S21-Gegner den baden-württembergischen Verkehrsminister Winfried Hermann. (Bündnis 90/Die Grünen). Das Konzept von UMSTIEG21 sei ein „Gebot der Vernunft.“
END/nna/nh
Bericht-Nr.: 200210-04DE Datum: 10. Februar 2020
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