Nachrichtenbeitrag
Dialog mit der Erziehungswissenschaft ein wichtiges Anliegen
BUCHBESPRECHUNG | Die Geschichte der Waldorfschule von Historiker und Waldorfpädagoge Volker Frielingsdorf ist im Beltz-Verlag erschienen. Eine fesselnde Lektüre, findet NNA-Korrespondent Wolfgang G. Voegele.
WEINHEIM (NNA) – Pünktlich zum 100 jährigen Jubiläum der Waldorfschule liegt nun erstmals eine deutschsprachige „Geschichte der Waldorfpädagogik“ vor, die die Waldorfschule „von ihrem Ursprung bis zur Gegenwart“ in den Blick nimmt. Verfasst hat sie der Historiker und Waldorfpädagoge Volker Frielingsdorf, seit 2014 Professor für Waldorfpädagogik und ihre Geschichte an der Alanus Hochschule Alfter bei Bonn.
Für seine zur Buchmesse in Leipzig erschienene Monografie konnte Frielingsdorf u.a. das umfangreiche Archiv der Waldorfschule Uhlandshöhe in Stuttgart nutzen, das vom Bombenkrieg verschont geblieben war.
Der Autor zeigt sich als Kenner der Außenperspektive, geht auch auf die Rezeption der Waldorfpädagogik in Standardwerken zur Reformpädagogik ein, schildert die allmähliche Ausdifferenzierung der Waldorfpädagogik und weist auf neue, durch das Größenwachstum notwendig gewordene länderübergreifende Organisationsstrukturen hin.
Frielingsdorf hatte im Beltz Verlag zuvor bereits den Reader „Waldorfpädagogik kontrovers“ (2012) herausgegeben und sich im „Handbuch Waldorfpädagogik und Erziehungswissenschaft“ (2016) mit der schwierigen Beziehungsgeschichte zwischen Reform- und Waldorfpädagogik auseinandergesetzt.
Erfolgreiche Praxis
Sein neuestes Buch ist in sechs Hauptkapitel gegliedert: Das erste widmet sich der Begründung der Waldorfpädagogik und umfasst den Zeitraum von der Schulgründung 1919 bis zum Tod Rudolf Steiners 1925. Die Selbstverwaltung der Waldorfschulen wird als ein Schritt auf dem langen Weg in ein freies, nicht vom Staat bevormundetes Geistesleben gesehen, ein Fernziel, das letztlich auf Steiners Freiheitsphilosophie zurückgeht.
Frielingsdorf enthält sich weitgehend einer esoterischen Begründung der Waldorfpädagogik und stellt diejenigen Aspekte der Waldorfpädagogik in den Vordergrund, die sie anschlussfähig machen an die Erziehungswissenschaft. Er belegt Steiners frühe erfolgreiche Praxis im Unterrichten, seine vielfältige Tätigkeit in der Erwachsenenbildung und seine Vorschläge zur Reform des Schul- und Hochschulwesens. Im zweiten Kapitel werden die Jahre der ersten Ausbreitung bis 1933 geschildert. Das dritte Kapitel berichtet von der Existenzgefährdung und Schließung der Waldorfschulen unter der NS-Diktatur. Während dieser Zeit gab es kaum eine Weiterentwicklung.
Das vierte Kapitel betrachtet den Wiederaufbau und die zweite Pionierphase nach der Stunde Null. Erstaunlicherweise hatte keine der bisherigen vielen Versuchsschulen das Dritte Reich überlebt. Das Überleben der Waldorfschulen erklärt sich aus Substanz und Tragekraft ihrer Protagonisten. Sie setzten zuerst in Nordrhein-Westfalen eine Finanzierung durch die öffentliche Hand durch, mit der Folge weiterer Ausbreitung in der BRD als akzeptierter Teil der Bildungslandschaft. Abschlüsse wie das Abitur konnten in der eigenen Schule abgenommen werden, was für einige Waldorfpädagogen fast als Verrat galt. Aber selbst Steiner habe Kompromisse machen müssen (Einrichtung einer Vorbereitungsklasse für das Abitur 1924/25).
Konstruktiver Dialog
Das fünfte Kapitel behandelt die neue Wachstumsdynamik der Waldorfschulen seit 1969/70, als eine unerwartete Boomphase einsetzte. Der Autor weist nach, dass mit der eigenen Lehrerbildung die Weichen dafür richtig gestellt waren. Im abschließenden Kapitel wird der „Aufbruch zu neuen Ufern seit 1989/90“ umrissen und die öffentliche Rezeption zwischen wohlwollendem Interesse und harscher Kritik beleuchtet. Die Waldorfpädagogik habe lange in einer Parallelwelt neben dem übrigen Bildungswesen her gelebt, sei aber inzwischen in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Frielingsdorf geht auf neue Entwicklungen im 21. Jahrhundert ein: Integration und Inklusion, interkulturelle Waldorfschulen, Waldorfmethoden an öffentlichen Schulen.
Die zunehmende Erforschung der Waldorfpädagogik ebnet den Weg zu einem konstruktiven Dialog mit der Erziehungswissenschaft. Inzwischen liegen mehr als 80 empirische Studien zur Waldorfpädagogik vor, womit die Waldorfschulen zu den besterforschten Schulen aus dem Umkreis der Reformpädagogik zählen. Verschiedene Absolventenstudien, die auf sehr umfangreichen Befragungen beruhen, (z.B. Barz/Randoll, 2007) dokumentierten einerseits die Zufriedenheit der Absolventen mit ihrer Schulzeit, enthielten aber auch bedenkenswerte Kritikpunkte an den Waldorfschulen wie mangelnde Reformbereitschaft, Defizite im Fremdsprachenunterricht, Vernachlässigung der Kontrolle der Erreichung von Lernzielen oder geringe fachliche Kompetenz von Klassenlehrern. Diese Beanstandungen trüben jedoch nach Frielingsdorf das positive Gesamtbild der Waldorfschule aus der Sicht ihrer Absolventen nicht entscheidend.
Die jeweils realisierte Form der Waldorfschulen hat bekanntlich mehr Anerkennung gefunden als ihr weltanschauliches Konzept. Selbst einer der ausdauerndsten Kritiker der Waldorfschulen, Prof. Heiner Ullrich, habe zugeben müssen, dass die Waldorfschulen vom Außenseiter zum „Anführer“ der Reformpädagogik geworden sind. Sind Waldorfschulen trotz oder wegen der Anthroposophie erfolgreich? Diese zentrale Frage zieht sich wie ein roter Faden durch das gesamte Buch.
Die bekannte Formel von der guten Praxis und der dubiosen Theorie hält Frielingsdorf für abgenutzt. Die sehr verschiedenen äußeren Faktoren, die Erziehungswissenschaftler für den Erfolg verantwortlich machen, sind für ihn nicht entscheidend. Er ist vielmehr überzeugt, dass die Ursache des anhaltenden Booms die Verwurzelung der Waldorflehrer in der Anthroposophie ist. Diese sei nicht dogmatisch zu verstehen, vielmehr als ein Weg zur Erkenntnis.
„Erziehung zur Freiheit“
Die Quintessenz der Waldorfpädagogik sieht er in ihrem optimistischen Menschenbild, nach dem jeder zur Freiheit veranlagt sei. Daher auch das Motto „Erziehung zur Freiheit“. Er nennt fünf Voraussetzungen, um eine freie Schule zu realisieren: freie Lehrerwahl, freie Schüler- u. Elternwahl, freie Wahl der Lehrstoffe und Lehrmethoden sowie die „Freiheit der finanziellen Selbstverwirklichung“. Teil des Erfolgsgeheimnisses sei das Vertrauen in die Kreativität der einzelnen Lehrer.
Waldorfschulen könnten den scheinbar übermächtigen Trends Globalisierung, Digitalisierung und Migration differenziert gegenübertreten. Sie könnten unsere Gesellschaft bereichern und auch einiges zur Lösung der sozialen Frage beitragen. Denn das sei ein Aspekt ihres Gründungsauftrags gewesen. Die Rassismuskritik an Rudolf Steiner hält Frielingsdorf für überzogen. Die Internationalität der Bewegung und das früh artikulierte Problembewusstsein sprächen dagegen. Sein „Ausblick“ auf die nächsten hundert Jahre ist eher optimistisch gefärbt.
Der Autor ist kein expliziter Waldorf-Insider, er kennt den neuesten Forschungsstand und geht auf die vielfältige Waldorfkritik ein. Seit langem plädiert er für einen Dialog zwischen Waldorfpädagogik und Erziehungswissenschaft. Von apologetischen Tendenzen, die mitunter in der Waldorfszene auftauchen, distanziert er sich deutlich.
Sein Buch ist klar konzipiert und wird den Ansprüchen gerecht, die man an eine sachliche historische Bestandsaufnahme stellen muss. Seine Darstellung der oftmals dramatischen Abläufe im Spannungsfeld zwischen Risiken und unerwarteten Erfolgen gerade auch während der Gründungsphase der Stuttgarter Mutterschule fesselt den Leser. Zahlreiche Abbildungen bereichern den Band. Dies alles trägt dazu bei, dass Frielingsdorfs Buch als Standardwerk zum Thema bezeichnet werden kann.
END/nna/vog
Literaturhinweis:
Volker Frielingsdorf: Geschichte der Waldorfpädagogik. Von ihrem Ursprung bis zur Gegenwart. Weinheim 2019 (Beltz-Verlag), 480 Seiten (m. Abb.). Hardcover € 29,95. ISBN 978-3-407-25802-1.
Bericht-Nr.: 190519-01DE Datum: 19. Mai 2019
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