Nachrichtenbeitrag

„Care-Ökonomie“ als Ausweg aus den Krisen der Gegenwart

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Von Ulrike Brandhorst

Produktive Arbeit neu bestimmten – im Interview mit NNA plädiert Weltzukunftsratsmitglied Riane Eisler für ein neues Wirtschaftsystem, das auf einer ganzheitlichen „economy of care“ aufbaut, in der die Fürsorgearbeit belohnt wird.

PACIFIC GROVE/USA (NNA) – Kapitalismus und Sozialismus – beide entstanden in den Frühzeiten der Industrialisierung – versagen angesichts der Herausforderungen der gegenwärtigen postindustriellen Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft. Und nicht nur das: Von Beginn an war keines der beiden Wirtschaftssysteme wirksam gegen Armut, Hunger und Umweltverschmutzung vorgegangen.

Riane Eisler, Vorsitzende des Center for Partnership Studies in Pacific Grove, California/USA , eine international bekannte Systemwissenschaftlerin und Anwältin für Frauen- und Kinderrechte, zeigt, wie wir über die veralteten Systeme hinausgehen können. In ihrem Buch „The Real Wealth of Nations“ plädiert sie für ein neues Wirtschaftssystem, das auf einer ganzheitlichen ökonomischen Sichtweise basiert, der „economy of care“.

Riane Eisler ist 1931 in Wien geboren, sie floh mit ihren Eltern vor dem NS-Regime nach Kuba, später emigrierte sie in die USA. Sie gehört dem Weltzukunftsrat an. Ulrike Brandhorst hat die bekannte Wissenschaftlerin für NNA interviewt.

NNA: 600 Millionen Menschen sind auf der Flucht vor Hunger und Krieg. Im reichen Deutschland werden soziale Standards beständig gesenkt. Umweltberichte gleichen Katastrophenmeldungen. Gibt es eine gemeinsame Ursache für diese Entwicklungen?

Eisler: Das sind alles Symptome eines grundsätzlich falschen Ökonomie-Verständnisses und der daraus resultierenden politischen Entscheidungen und wirtschaftlichen Praktiken. Den in frühindustriellen Zeiten entwickelten Systemen fehlen Antworten auf die Fragen unserer post-industriellen Ära. Unsere technischen Möglichkeiten führen zur raschen Ausbreitung des daraus resultierenden Fehlverhaltens. Das eigentliche Problem jedoch liegt tiefer. Kapitalismus und Sozialismus stammen aus dominatorischen Gesellschaften, in denen Menschen über Menschen, Männer über Frauen, Rasse über Rasse, Religion über Religion, Mensch über Natur herrschten.

Diese Hierarchien sind immer noch so tief verwurzelt, dass viele Menschen sie als Gott gegeben oder natürlich ansehen. Wirtschaftssysteme entstehen nicht in einem Vakuum. Sie sind Teil übergeordneter, gesellschaftlicher Systeme. Unsere aktuellen Probleme sind die logische Folge unserer Wirtschaftssysteme. Sowohl Sozialismus als auch Kapitalismus reflektieren Werte und Sozialstrukturen dominatorischer Gesellschaften.

NNA: Was ist der Unterschied zwischen diesen dominatorischen und den partnerschaftlichen Systemen, die eher geeignet sind, Hunger, Elend und Umweltverschmutzung zu überwinden? Was kennzeichnet diese Systeme? Warum ist eine partnerschaftliche Einstellung und Praxis so wichtig für unsere Zukunft?

Eisler : Da hilft ein Blick zurück auf die Menschheitsgeschichte – auch unter ökonomischem Aspekt. Alle Gesellschaften der alten Kategorien wie kapitalistisch/sozialistisch, religiös/säkular, östlich/westlich, rechts/links oder entwickelt/unterentwickelt waren repressiv, gewalttätig und besaßen kein Umweltbewusstsein. Mit den Begriffen partnerschaftlich/dominatorisch werden zwei neue Kategorien eingeführt, um über diese eingeschliffene Denkart hinauszugehen.

Keine Gesellschaft ist rein partnerschaftlich oder dominatorisch, dennoch finden sich in den unterschiedlichen Gesellschaften unterschiedliche Anteile dieser Merkmale. In Gesellschaften, in denen die dominatorische Seite überwiegt, werden Familie, Stamm und/oder Staat von oben nach unten autoritär geführt. Männer und “Männliches” stehen über den Frauen und dem “Weiblichen”.

Gewalt wird gesellschaftlich akzeptiert oder gar idealisiert – egal ob es sich dabei um das Schlagen von Frauen und Kindern handelt oder um Pogrome und Kriege. Der Aufstieg der Nationalsozialisten in Deutschland führte z.B. zu einem massiven Ruck in Richtung eines dominatorischen Systems.

NNA: Wie ist die bundesdeutsche Gesellschaft der Gegenwart unter diesen Gesichtspunkten zu bewerten?

Eisler: Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich Deutschland auf familiärer und staatlicher Ebene zu einem partnerschaftlichen, demokratischen System entwickelt. Das beinhaltete das Streben nach gleicher Wertschätzung für Frauen und Männer, sowie nach Gewaltlosigkeit und Respekt in allen Beziehungen – seien sie zwischenmenschlich oder international.

Im Zuge dieser Entwicklung wurden politische Maßnahmen ergriffen, welche “weibliche“ Tätigkeiten wie Fürsorgearbeit anerkennen, z. B. die Elternzeit. Wie in den meisten Ländern sind aber auch hier noch dominatorische Denkweisen verwurzelt. “Weibliches” wird immer noch geringer geschätzt als “Männliches”.

Solange wir dieses zugrundeliegende Wertesystem nicht verstehen, wird es uns nicht gelingen eine Care-Wirtschaft zu realisieren, also eine Wirtschaft, die auf der Erkenntnis basiert, dass Fürsorge für Mensch und Umwelt angesichts der enormen Herausforderungen in Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt unabdingbar ist.

NNA: Die ökologischen, ökonomischen und sozialen Missstände wurzeln also in ganz grundsätzlichen fehlerhaften Annahmen, die unserer gegenwärtigen Gesellschaft zugrunde liegen – wie lassen sich diese ändern?

Eisler: Durch das Schaffen von Bewusstsein, argumentieren und handeln. Mein Buch „The Real Wealth of Nations“ macht das System geschlechterbedingter Wertschätzung sichtbar, auf dem diese schädlichen und fehlerhaften Grundannahmen basieren. Gleichzeitig zeigt es, wie sehr die Wirtschaft profitiert, wenn sie in Fürsorge investiert – angefangen von der Kinderbetreuung bis hin zum Umweltschutz. So profitieren z.B. Unternehmen, wenn sie ihre Angestellten zu Kreativität und Innovation ermutigen (anstatt sie, wie in dominatorischen Unternehmen, dazu anhalten, einfach nur Aufträge auszuführen).

Wichtig ist die Umsetzung dieser Erkenntnisse. Das Center for Partnership Studies hat daher eine Caring Economy-Kampagne gestartet.

NNA: Warum ist es so schwierig, bei diesem Thema voran zu kommen – die Probleme sind doch überall sichtbar.

Eisler: Nach Einstein können wir Probleme nicht mit der selben Denkart lösen, durch die sie entstanden sind. Die „Väter“ von Kapitalismus und Sozialismus, Adam Smith und Karl Marx, betrachteten die Natur als etwas zum Ausbeuten und Fürsorge für andere Menschen als „einfach nur Frauenarbeit“, als “reproduktive” Tätigkeit (im Gegensatz zu “produktiver”).

Was wir brauchen, ist eine neue Art zu denken. Das dominatorische Denken, das einst die „Eroberung der Natur“ pries, wird uns auf dem neusten Stand der Technik in eine evolutionäre Sackgasse führen. Um das Elend in der Welt realistisch zu bekämpfen, muss uns auch die gut dokumentierte Tatsache bewusst sein, dass Frauen weltweit den größten Anteil an den Ärmsten der Armen darstellen. Das liegt nicht nur an der traditionellen Benachteiligung von Frauen. Sie leisten auch den Löwenanteil der Fürsorgearbeit – in Haushalten umsonst und in der freien Wirtschaft oft für einen Hungerlohn. Selbst in den wohlhabenden USA lebt eine Frau über 65 mit doppelter Wahrscheinlichkeit in Armut wie ein Mann gleichen Alters.

Das müsste so nicht sein – unsere Aufgabe ist, die politische Anerkennung der Fürsorgearbeit zu sichern: Elternschaft, frühkindliche Bildung und Pflegearbeit müssen angemessen unterstützt werden. In der Wirtschaft geht es im Grunde darum, was wertgeschätzt wird – und was nicht. In dominatorischen Systemen – seien sie feudal, monarchisch, Stammesgemeinschaften, kapitalistisch oder sozialistisch – wurde Fürsorgearbeit nicht als wertvoll betrachtet. Es liegt an uns, dies zu ändern!

NNA: Was kann der Einzelne zu den notwendigen Änderungen von Grundannahmen, Gewohnheiten, Arbeitsleben und Gesetzgebung beitragen?

Eisler: Jeder von uns kann den Diskurs über Wirtschaft und Werte ändern – im Gespräch mit Freunden, Verwandten, Kollegen, Medien und politischen Entscheidungsträgern. Hierzu werden im Rahmen der Caring Economy Campaign online Führungsschulungen angeboten, um eine weltweite Bewegung für eine Care-Wirtschaft aufzubauen.

Jeder von uns kann sich dafür einsetzen, dass hier andere Maßstäbe – zum Beispiel die Social Wealth Economic Indicators – gesetzt werden. Diese zeigen, wie sich auf dem Fürsorgegedanken basierende politische Entscheidungen z.B. bezahlte Elternzeiten für Mütter und Väter oder frühkindliche Bildung wirtschaftlich auszahlen.

NNA: In Ihrem Buch fordern Sie auch eine Neubestimmung der produktiven Arbeit.

Eisler: In unserer postindustriellen Zeit werden immer mehr Jobs automatisiert – und das nicht nur im Produktionsbereich. So werden zum Beispiel Bilanzanalytiker durch Logarithmen ersetzt und die künstliche Intelligenz ist auf dem Vormarsch. Diese Entwicklungen zwingen uns dazu, neu zu definieren, was „produktive Arbeit“ bedeutet.

Wenn wir nach einem realistischen Mittel suchen, diese zu bestimmen, wird klar, dass vieles von dem, was im BIP als produktiv gewertet wird, eigentlich das Gegenteil davon ist: z.B. die Herstellung und der Verkauf von Zigaretten und Fast Food oder all die wirtschaftlichen Aktivitäten, die zur globalen Erwärmung beitragen. Gleichzeitig sind viele produktive Tätigkeiten im BIP oder anderen konventionellen Bemessungen gar nicht enthalten: z.B. der enorme wirtschaftliche Wert der Fürsorge und des Umweltschutzes.

Das liegt daran, dass herkömmliche wirtschaftliche Paradigmen weder natürliche Ressourcen, noch wirtschaftliche Beiträge von Ehrenamt und Hausarbeit berücksichtigen.

Wir können – und müssen – uns für ein partnerschaftliches Wirtschaftssystem einsetzen, in dem die wichtigste menschliche Arbeit belohnt und nicht bestraft wird: Die Fürsorgearbeit für Natur und Mensch von der frühsten Kindheit bis ins Pflegealter.

NNA: Liebe Frau Eisler, vielen Dank für das interessante Gespräch und diese wichtigen Gedanken!

END/nna/bra

Literaturhinweis:
Riane Eisler, The Real Wealth of Nations, 318 Seiten, Englisch, Berrett-Koehler Publishers; November 2008. ISBN: 978-1576756294.

Bericht-Nr.: 260926-02DE Datum: 26. September 2016

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Riane Eisler fordert eine Neubestimmung der produktiven Arbeit in der auch der enorme wirtschaftliche Wert der Fürsorge und des Umweltschutzes anerkannt wird.<br>Foto: Michael Collopy