Nachrichtenbeitrag

„Baustopp als neue Denkpause für Stuttgart21 nutzen“

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Von NNA-Korrespondentin Cornelie Unger-Leistner

STUTTGART (NNA) - Der Baustopp, den der Verwaltungsgerichtshof über das Bahnprojekt Stuttgart 21 verhängt hat, weil Aspekte des Artenschutzes bei der Umplanung des Grundwassermanagements nicht berücksichtigt worden sind, sollte genutzt werden, um erneut über das Projekt nachzudenken und Kompromisslösungen zu prüfen. Diese Auffassung vertritt der ehemalige Bahnmanager und profilierte Gegner des Projekts, Prof. Ing. Karl-Dieter Bodack in einem Interview mit NNA zum Jahresende. Gleichzeitig weist Bodack auf die grundsätzliche Bedeutung des Widerstands gegen Stuttgart 21 für die Zukunft unserer Gesellschaft hin.

NNA: Wie beurteilen Sie die Lage bei Stuttgart 21, nachdem jetzt der Verwaltungsgerichtshof den Artenschutz reklamiert hat und die Volksabstimmung zugunsten der Befürworter ausgegangen ist?

Bodack: Bis zum Schluss schien es undenkbar, dass eine große Mehrheit der Bürger gegen Verhandlungen zum Ausstieg aus „Stuttgart 21“ votierte. Offensichtlich gelang es nicht, der Mehrheit der Bürger die Fakten zu vermitteln! Und man darf auch nicht vergessen: Auch wenn es Zehntausende waren, die demonstrierten und protestierten, so waren dies jedoch stets Minderheiten der Millionen Bürger im Land.

Die Mehrheit wurde offensichtlich von den Argumenten der DB AG beeindruckt: Die Schnellzüge der „Magistrale Paris-Bratislava“ würden um Stuttgart herum („über Ingolstadt“ – so Bahnchef Grube) fahren, die Neubaustrecke würde nur gebaut, wenn auch der Tiefbahnhof käme, eine Beendigung der Projekte würde Milliarden Euro kosten, die Baukosten würden dem Land und der Stadt großenteils „geschenkt“ -- Argumente, die nie mit Fakten belegt wurden oder je belegt werden könnten.

NNA: Muss man daraus nicht die Konsequenz ziehen, dass Volksabstimmungen zu solchen komplexen Themen generell zu riskant sind?

Bodack: Volksentscheide sind und bleiben ein wesentliches Element der Demokratie, weil bislang erfahrbar war, dass die Bürger weit weniger anfällig für Versuchungen zur Geltungssucht sind als Politiker. Immer wieder haben Volksentscheide dazu geführt, dass das „rechte Maß“ gefunden und schwere Schäden am Gemeinwohl vermieden werden konnten. Die Schweizer Bürger haben z.B. durch Volksentscheide dafür gesorgt, dass statt gigantischer Prestigestrecken die Bahninfrastruktur im ganzen Land ausgebaut wurde: Nun fahren die Schweizer zweieinhalb so viele Bahnkilometer wie die Deutschen!

Das Risiko liegt nicht in der Volksabstimmung, sondern darin, dass sachliche Auseinandersetzungen zu Machtfragen verkommen: „Wir setzen das durch“. Das dürfte vor allem auch die Stammwähler der über Jahrzehnte herrschenden CDU und FDP bewogen haben, nach der Wahlniederlage bei den Landtagswahlen nun „zurückzuschlagen“.

Diese Spaltung der Bürgerschaft in zwei Lager erklärt auch die unerwartet hohe Wahlbeteiligung, unerwartet, weil von den Großprojekten noch einmal nicht die Hälfte der Bürger tangiert ist. Außerdem erklärt dies, warum die Befürworter sich für die Sache, für Fakten und Daten der Projekte gar nicht interessierten. Sie wollten siegen – egal wie mit welchen Konsequenzen!

NNA: Das heißt, eine Polarisierung, wie sie ja jetzt auch noch besteht, blockiert im Grunde vernünftige Lösungen?

Bodack: Daraus resultiert auch, dass die Kombilösungen gar nicht ernsthaft diskutiert wurden: Jede Gruppe sieht sich siegesgewiss und brauchte keine Vermittlung.

NNA: Das sind aber keine guten Aussichten für 2012! Die Stuttgarter Zeitung hat vor kurzem ein Papier veröffentlicht, aus dem hervorgeht, dass der Kostendeckel, den die Landesregierung dem Projekt strikt verordnet hat, schon fast erreicht ist... Sollte unter diesem Umständen der Baustopp, den das Verwaltungsgericht verordnet hat, nicht zu einem neuen Kompromissversuch genutzt werden?

Bodack: Für die Zukunft verheißt diese Situation wirklich nichts Gutes: Gelingt keine Mediation, so erscheint die Eskalation unvermeidbar: Anzeigen und Gerichtsverfahren werden den Baufortschritt hemmen, massive Demonstrationen können den Konflikt verschärfen, gewalttätige Auseinandersetzungen den Frieden und das Ansehen der Stadt zerstören. Dadurch werden Kosten und Zeitaufwand unermesslich steigen und zu fortwährendem Streit unter den Vertragspartnern führen.

NNA: Was schlagen Sie stattdessen vor?

Bodack: Ein Ausstieg im Konsens, eine De-Eskalation der Konflikte erscheint durchaus möglich mit einer wirklichen Schlichtung, in der die „Schlichtungsvorschläge“, z.B. die Kombilösungen ernsthaft geprüft und erwogen werden. Sie bieten ja – leicht nachvollziehbar - bessere Lösungen für weit weniger Aufwand und sind mit den derzeitigen Planungen kompatibel: Es fallen Teile der geplanten Anlagen weg, der ohnehin zu erhaltende Kopfbahnhof wird teilweise saniert, teilweise stillgelegt.

SMA und Heiner Geißler haben eine Kompromiss-Planung, die „Kombilösung“, vorgeschlagen: Der Kopfbahnhof soll mit etwa 8 Gleisen erhalten bleiben, der Tiefbahnhof auf 4 Gleise reduziert werden. Einige geplante Zulaufstrecken zum Tiefbahnhof entfallen. Die Verkehrsplaner Vieregg und Rößler schlagen eine Kombilösung vor, bei der ein viergleisiger Tiefbahnhof und ein unterirdischer Tunnel parallel zur bestehenden S-Bahn Trasse zum Flughafen gebaut werden sollen.

Diese Kombilösungen vermeiden einen großen Teil der Nachteile von Stuttgart 21; vor allem halbiert sich das geplante Bauvolumen im Stadtbereich mit allen Risiken und Beeinträchtigungen. Die Neubaustrecke Wendlingen-Ulm ist davon nicht betroffen.

NNA: Wie rechnen sich denn diese Lösungen?

Bodack: Schätzt man die voraussichtlichen Kosten dieser Lösungen auf der Basis der DB-Kalkulationen und Erfahrungen ab, so ergeben sich folgende Kosten: Kalkulierte Baukosten 50% von 4,5 Mrd.€, d.h. 2,3 Mrd.€; Risikoabdeckung für Baudurchführung 50%, d.h. 1,2 Mrd.€; Sanierung Kopfbahnhof und Planungskosten 0,6 Mrd.€ und Rückzahlung Grundstückserlöse an die Stadt 0,4 Mrd.€. So kommt man insgesamt auf eine Summe für Planung und Bau der Kombilösungen auf 4,5 Mrd.€.

NNA: Wo liegen denn die Ursachen dafür, dass diese Alternativen bisher nicht sachlich diskutiert worden sind?

Bodack: Das ist zu allererst die Deutsche Bahn Aktiengesellschaft: Zwei Drittel ihrer Gewinne schafft sie aus steuerfinanzierten Geschäften; die weltweiten Geschäftsfelder sowie auch der Personenfern- und Güterverkehr erzeugen nur geringe Gewinne. Ein weiterer Zufluss vieler Milliarden Euro Steuergelder ist da hoch willkommen! Daraus resultiert, dass die DB AG Geheimhaltung pflegt, um die negativen Folgen der Pläne zu verheimlichen. Mehr noch: Es wurden sogar falsche Behauptungen und Unsinniges propagandaartig kommuniziert.

Als im Rahmen der Schlichtungsrunden mit Heiner Geißler bislang verborgene Sachverhalte ans Tageslicht kamen, verstand es die DB AG, sie mit vielen Details zuzuschütten: Ein Erkenntnisprozess fand dabei kaum statt.

NNA: Sie haben ja schon auf viel grundsätzlichere Aspekte des Stuttgart21-Kampfes hingewiesen, die die Frage nach den Werten aufwerfen, die unserer Gesellschaft zugrunde liegen sollen.

Bodack: Die Verantwortlichen der DB AG werden am Gewinn gemessen, sie erhalten „Boni“, abhängig vom Gewinn. Klar ist, dass sie die Dimension der „Egoität“ expandieren indem sie „Egoismus“ pflegen: Das geht zu Lasten der „Solidarität“: Das Gemeinwohl, die Fragen nach Staatsverschuldung und Steuerlast, stehen hintan. Die Politiker, die die gigantischen Projekte unkritisch beschlossen haben, pflegen offensichtlich ihre „Authentizität“, indem sie sich profilieren möchten, auch hier mit der Tendenz, das Gemeinwohl, den Bereich der „Solidarität“ zu dezimieren.

Dieses Zusammenwirken zeigt die unheilvolle Tendenz, dass beide Gruppen das Gemeinwohl tendenziell ignorieren und de facto beschädigen.

Die im Bündnis in freier Weise zusammenwirkenden Bürger entwickelten demgegenüber einen erstaunlichen Gemeinsinn über alle Vereine, Gruppen und Initiativen hinweg. Sie brachten persönliche Opfer, spendeten und sammelten hunderttausende Euro.

NNA: Das heißt, die Bürger müssen wirklich jetzt die Dinge in die Hand nehmen, wenn die Gesellschaft, in der wir leben, lebenswert bleiben soll. Es geht nicht nur um dem Artenschutz für den Juchtenkäfer, sonder für uns alle.... Kann man das auch so sehen, dass Stuttgart21 der Vorreiter der Occupy-Bewegung ist?

Bodack: Diesen Zusammenhang sollte man schon sehen. Die Stuttgarter Großprojekte sind nur der Schlussstein eines Gesellschaftsgebäudes, das jahrzehntelang auf Schuldenmachen aufgebaut wurde, mit der Erwartung, Reiche und Superreiche, Versicherungen, Fonds und Banken würden endlos immer neue Schulden finanzieren.

Der kollektiv verdrängte Gemeinsinn hat dazu geführt, dass Bund, Länder und Gemeinden in Deutschland inzwischen mit 2.100 Milliarden Euro verschuldet sind! Allein im Jahre 2012 müssen 280 Milliarden Euro getilgt werden. Das ist völlig unmöglich, betragen doch die gesamten Steuereinnahmen nur 570 Milliarden.

NNA: Insofern könnte Stuttgart21 zum zukunftsweisenden Vorbild werden, wenn eine Lösung gefunden werden könnte, die das Gemeinwohl berücksichtigt und neue Schulden vermeidet.

Bodack: Gelingt das nicht, wird unser Gemeinwesen zu Recht in Unruhen und Aufstände geraten, die von überwältigender Mehrheit der Bürger getragen werden. Dann, wohl erst dann, werden die Mehrheiten der Politiker und der Bürger erkennen, was versäumt worden ist und wie sie ungewollt dazu beigetragen haben, unser Gemeinwesen in eine Krise zu steuern, die derzeit noch gar nicht vorstellbar ist!

End/nna/ung

Die Fragen stellte NNA-Korrespondentin Cornelie Unger-Leistner

Bericht-Nr.: 111230-01DE Datum: 30. Dezember 2011

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