Nachrichtenbeitrag

Armut steigt sogar im reichen Stuttgart

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Von NNA-Korrespondentin Cornelie Unger-Leistner

In allen deutschen Großstädten ist ein Anstieg des Anteils der Menschen, die armutgefährdet sind, zu verzeichnen. Sogar das reiche Stuttgart ist davon nicht ausgenommen, hier gab es zwischen 2005 und 2011 sogar eine der höchsten Steigerungsraten. Dies ging aus einer Veranstaltung mit dem Thema „Armut in der reichen Stadt? - Soziale Teilhabe in Stuttgart“ hervor, die Ende Januar in der Stuttgarter Leonhardskirche stattfand. Sie ist auch Schauplatz der traditionsreichen „Vesperkirche“. NNA-Korrespondentin Cornelie Unger-Leistner berichtet.

STUTTGART (NNA) – Die Leonhardskirche ist die zweitälteste Kirche in Stuttgart. Hier wurden schon im Mittelalter Pilger beherbergt. Heute steht das imposante Gotteshaus an einer Art Nahtstelle in der Stadtmitte: Auf der Straßenseite gegenüber findet sich der renommierteste Teil der Stuttgarter Einkaufsmeile, auf der anderen Seite zieht sich zwischen den Altstadtkneipen der Straßenstrich hin. So ist es in der Leonhardskirche schon seit Mitte der neunziger Jahre Tradition, nicht am Thema Armut und Not vorbeizuschauen. Die Einrichtung der Vesperkirche, die von Januar bis März eine feste Einrichtung geworden ist, bietet bedürftigen Stuttgartern sieben Wochen lang einen Raum der Begegnung mit warmem Essen. So auch in diesem Jahr, bis zu 1.000 Gäste beherbergt die Kirche täglich. Rund 500 ehrenamtliche Helfer sind im Einsatz zusammen mit Sozialarbeitern und Kirchenbediensteten. 240.000 Euro an Spenden werden dafür gesammelt.

Insofern bot die Leonhardkirche den passenden Rahmen für das Fritz-Erler-Forum Baden-Württemberg – so heißt dort die SPDnahe Friedrich-Ebert-Stiftung – um dem Thema „Armut in der reichen Stadt?“ mithilfe von Experten einmal auf den Grund zu gehen. Ariane Krentz vom Statistischen Landesamt, Pfarrerin Karin Ott vom Evangelischen Kirchenkreis Stuttgart und dem Pfarramt für Diakonie sowie Bernhard Löffler, der Vorsitzende des DBG Nordwürttemberg lieferten in ihren Impulsreferaten die Fakten für die anschließende Diskussion im fast vollständig gefüllten Kirchenraum.

Statistikerin Krentz belegte mit ihren Zahlen den deutschlandweiten Trend der immer weiter auseinanderklaffenden Schere zwischen arm und reich: In allen Großstädten sei der Anteil derjenigen, die über weniger als 60% des Durchschnittseinkommens verfügten und damit zur armutsgefährdeten Bevölkerung zählten, im Durchschnitt um 0,9% angestiegen. Im reichen Stuttgart habe man in diesem Zeitraum einen Anstieg von 4% auf 20,8% zu verzeichnen, das damit den höchsten Zuwachs zu verzeichnen habe. Krentz wies darauf hin, dass es wichtig sei, den Durchschnittswert auf die jeweilige Region zu beziehen, da die Lebenshaltungskosten in Deutschland sehr verschieden seien. In den östlichen Bundesländern sei ein Rückgang des Anteils der von Armut gefährdeten Bevölkerungsteile zu verzeichnen. Als besonders betroffene Gruppe nannte Krentz Erwerbslose, gering Qualifizierte sowie angelernte Arbeitskräfte. Auch Kinderreiche und ältere Singles, vor allem Rentnerinnen mit langen Familienphasen in ihrem Lebenslauf zählten zu den Armutsgefährdeten.

DGB-Vertreter Bernhard Löffler machte vor allem den stetig anwachsenden Anteil an prekären Arbeitsverhältnissen für die aufgezeigte Situation verantwortlich: ihr Anteil liege in Baden-Württemberg bei 38%. Löffler rechnete hier Minijobber und Arbeitskräfte mit einem Stundenlohn von unter 8 Euro ein und forderte die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns als Maßnahme zur Armutsbekämpfung. Geringfügige Beschäftigungen seien „die Armutsfalle schlechthin“, betonte er. 1,3 Millionen Menschen seien bundesweit in Vollzeit tätig und trotzdem auf die Aufstockung ihres Lohnes durch Hartz-IV-Bezüge angewiesen, weil sie von ihrem Verdienst nicht leben können. „Die Armutsgefährdung reicht inzwischen weit die Reihen der Bevölkerung hinein“, betonte Löffler. Betroffen sei in zunehmendem Maße auch die Mittelschicht. Die immer ungünstiger Vermögensverteilung in Deutschland, bei der zehn Prozent der Reichsten über mehr als 60 % des Vermögens verfügten, sei ein „sozialpolitischer Skandal ohne Ende“.

Pfarrerin Karin Ott berichtete über ihre Erfahrungen mit dem Thema Armut in der Stuttgarter Vesperkirche. Seit Einführung von Hartz IV sei die Besucherzahl kontinuierlich angestiegen, derzeit würden in den sieben Wochen rund 30.000 Mittagessen ausgegeben. Zu Beginn habe man vor allem Obdachlose und Junkies in der Vesperkirche verköstigt. Inzwischen mehre sich aber die Zahl derjenigen Gäste, die versicherten, sie hätten nie gedacht, einmal selbst auf das Essen in der Vesperkirche angewiesen zu sein. „Da sind die Alleinerziehenden, die jungen Schulabgänger, die Dauerpraktikanten mit Hochschulabschluss, der langzeitarbeitslose Abteilungsleiter, der von Hartz IV leben muss, die Frührentnerin, deren Rente zum Sterben zu viel und zum Leben zu wenig ist,“ schilderte die Pfarrerin ihre erschütternden Begegnungen mit den Hilfesuchenden. Seltener als früher seien auch die Frauen aus dem Rotlichtmilieu hinter der Kirche Gäste: „Ihre Arbeitsbedingungen sind inzwischen so brutal geworden, dass noch nicht einmal Zeit für ein warmes Mittagessen ist“, schilderte die Pfarrerin.

Abschließend forderte sie ein grundsätzliches Umdenken beim Thema Armut. „Wenn wir hier wirklich was bewirken wollen, müssen wir an die strukturellen Ursachen heran. Mir fehlt es an Entschiedenheit von Seiten der Politik, das Problem anzugehen“. Auf der einen Seite seien die Unternehmensgewinne, auf der anderen die steigende Armut. „Wir brauchen eine gerechtere Verteilung“, forderte Ott.

Auch in der anschließenden Diskussion, in der sich mehrfach Profis aus der sozialen Arbeit zu Wort meldeten, ging es vor allem um die grundsätzlichen Ursachen für die steigende Armut im reichen Deutschland. Verantwortlich gemacht wurden vor allem die nicht bedarfsgerechten Sätze von Hartz IV, der fehlende soziale Wohnungsbau und die Einführung von Sanktionen im SBG II. Eine Vertreterin der Erwerbsloseninitiative der Gewerkschaft verdi beklagte außerdem eine Diskriminierung der Arbeitslosen in der Öffentlichkeit und warf den politisch Verantwortlichen vor, die steigende Armut in Deutschland sei „politisch gewollt“. Dadurch, dass die Arbeitslosen gezwungen worden seien jede Arbeit anzunehmen, seien die Niedriglöhne durchgesetzt worden, betonte sie.

Am Ende stand die Einsicht in die Notwendigkeit des „Fairteilens“ und auch der Appell an die Stuttgarter, der steigenden Armut in der eigenen Stadt aktiv von Bürgerseite entgegenzutreten. Die Bewegung Stuttgart 21 könne hier als Beispiel gelten: „Wir können nicht immer auf Berlin warten. Wenn eine ganze Stadt aufsteht gegen die Armut, gibt das ein Beispiel für alle!“

END/nna/ung

Spendenkonto Vesperkirche: Kto 2464 833 Landesbank Baden-Württemberg BLZ 600 501 01

Bericht-Nr.: 130205-04DE Datum: 5. Februar 2013

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In Stuttgart gibt es eine der höchsten Steigerungsraten an armutgefährdeten Menschen
Die Leonhardskirche schaut mit der Einrichtung der Vesperkirche nicht dran vorbei
Fotos: Gottfried Stoppel, © Ev. Diakoniepfarramt Stuttgart