Nachrichtenbeitrag
Anthroposophische Bewegung vor neuer Herausforderung
MAINZ (NNA) - Das Verhältnis von Anthroposophie zu völkischen und rassistischen Theorien sowie die Kontakte zwischen Anthroposophen und Repräsentanten des NS-Regimes sind das Thema der Forschungsarbeit des US-Historikers Peter Staudenmaier, die jetzt als über 800 Seiten umfassende Online-Ressource und in Kurzfassung in einem deutschen Sammelband vorliegen (siehe Literaturhinweis). Für die anthroposophische Bewegung in Deutschland und ihre Einrichtungen ergibt sich so die Notwendigkeit, sich erneut mit dem Thema auseinanderzusetzen.
Staudenmaier ist Juniorprofessor für Neuere deutsche Geschichte an der Marquette University (Milwaukee, Wisconsin). Für seine Forschung zum Thema hat er in größerem Umfang Dokumente u. a. aus dem Bundesarchiv in Berlin ausgewertet. Die Forschung, eine Dissertation, wurde mit Unterstützung der Cornell University, Ithaka (NY) durchgeführt. Die Kurzfassung wurde bei einem Workshops des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung an der Universität Dresden vorgestellt.
Grundsätzlich geht der US-Historiker von einer „ideengeschichtlichen Nähe“ von anthroposophischen und völkischem Gedankenguts aus. Die Verknüpfung liegt für ihn vor allem im Begriff des deutschen Wesens und Geistes und der damit verbundenen Weltmission. Staudenmaier sieht im Werk Rudolf Steiners auch eine „Rassenlehre“ als „tragende Säule“ sowie ein ambivalentes Verhältnis zur Demokratie und eine Abneigung gegen Liberalismus und Sozialismus. Dieses rechtslastige Erbe der anthroposophischen Bewegung habe aber auch in Spannung zu anderen, entgegengesetzten Elementen gestanden. In seiner Dissertation spricht Staudenmaier von einem “left-right crossover that has marked anthroposophical politics from the beginning”.
Staudenmaier betrachtet seine Forschung als Korrektiv zur 1999 erschienenen Arbeit von Uwe Werner „Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus, die aus seiner Sicht Abgrenzung und Gegnerschaft der anthroposophischen Bewegung zum NS-Regime und seinen ideologischen Grundlagen zu sehr in den Vordergrund stellt. Demgegenüber legt er den Schwerpunkt auf die Verbindungen der Anthroposophie zu völkischem und rassistischem Denken und seinen Repräsentanten vor und während der NS-Zeit.
Die Bandbreite der Verbindungen durch Publikationen oder persönliche Kontakte, die Staudenmaier auflistet, reicht von der Wertschätzung von Rudolf Steiner für Friedrich Lienhards Weltkriegs-Pamphlet über die Publikation seines Seelenkalenders in einer ariosophischen Zeitschrift über die Mitwirkung der Vereinigung anthroposophischer Ärzte bei der Reichsarbeitsgemeinschaft für eine Neue Deutsche Heilkunde bis zur Förderung der bio-dynamischen Landwirtschaft durch führende Repräsentanten des NS-Staats wie Heß, Rosenberg oder Ohlendorf. „Die führenden Männer der Demeter-Bewegung“ hätten sich rückhaltlos dem nationalsozialistischen Deutschland zur Verfügung gestellt, schreibt z. B. Erhard Bartsch 1937 in einem Brief, den Staudenmaier im Bundesarchiv ausfindig gemacht hat.
Für Staudenmaier ist die seiner Meinung nach bisher nicht ausreichend geleistete Aufarbeitung dieser „geschichtlichen Gemengelage“, in der es zu einer Begegnung und Befruchtung von lebensreformerischen, völkischen und esoterischen Ansätzen gekommen sei, auch ein weiteres Hindernis für die „ohnehin mühsame Diskussion“ zwischen Anthroposophie und akademischer Wissenschaft. Möglicherweise stehe die Anthroposophie, die sich als „Sprachrohr des deutschen Geistes“ verstehe, dadurch erneut an einem Scheideweg, betont der US-Wissenschaftler zum Abschluss seines Beitrags.
In seiner großen Forschungsstudie widmet Staudenmaier 90 Seiten der Geschichte der Anthroposophie in Italien, wo er wesentlich intensivere Verquickungen anthroposophischer Denker mit dem Faschismus und sogar mit der Judenverfolgung belegt.
In den letzten Jahrzehnten kam es des öfteren zu Debatten über das Ausmaß der Nähe der Anthroposophie Rudolf Steiners zu rassistischem Gedankengut, da Kritiker immer wieder Anstoß nehmen an Äußerungen in Steiners Vorträgen, die mit dem rassistisch geprägten Evolutionsdiskurs seiner Zeit parallel gehen und auch nach heutigem Empfinden diskriminierend für bestimmte Völker oder Ethnien wirken.
Bereits 1996 hatte die Mitgliederversammlung der Anthroposophischen Gesellschaft in den Niederlanden dazu eine Untersuchungskommission unter Vorsitz des Menschenrechtlers Ted. A van Baarda eingesetzt, die 1999 ihr Gutachten vorlegte.
Sie hatte rund 150 Zitate aus dem Werk Rudolf Steiners untersucht, später wurden sie auf 250 Stellen erweitert. Abschließend kommt die Kommission zu dem Ergebnis, dass als „eindeutig diskriminierend oder beleidigenden Charakters“ zwölf kleinere Zitate aus dem 89.000 Seiten umfassenden Gesamtwerk Steiners anzusehen seien. Sie legt dabei die Definition des niederländischen Strafrechts zugrunde, die mit den international gültigen Bestimmungen übereinstimmt. Danach kommt es bei dem Tatbestand der Diskriminierung nicht nur auf die Absicht der sich äußernden Person, sondern auch auf die Wirkung bei den betroffenen Menschen an. Die Verletzung der Menschenrechte sei grundsätzlich im subjektiven Erleben des Opfers begründet, heißt es dazu in der Einführung. Das Vorliegen einer Rassenlehre im Werk Rudolf Steiners wird von der Kommission dagegen verneint.
Die niederländische Kommission hatte keine Bedenken gegen das Werk „Die Mission einzelner Volksseelen“ von Steiner. Das Rassebild jener Vorträge beinhalte allenfalls „eine leichte Form von Diskriminierung als Folge einer zeitgebundenen Wortwahl“. Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien in Deutschland, die auf Initiative von Anthroposophiegegnern hin diese Steiner-Schrift 2006 begutachtet hatte, stufte die Texte dagegen als „in Teilen … rassendiskriminierend“ ein. Die Prüfstelle bestand darauf, dass die Schrift mit einem Kommentar versehen werden muss.
Der Bund der Freien Waldorfschulen in Deutschland hatte die Debatte zum Anlass genommen, die sog. Stuttgarter Erklärung zu verabschieden, in der jede Form der Diskriminierung anderer Völker oder Ethnien als unvereinbar mit den Prinzipien der Waldorfpädagogik erklärt wird. Die problematisierten Passagen in Steiners Werk stuft die Stuttgarter Erklärung als zeitgebunden ein und gesteht zu, dass sie heute diskriminierend wirken.
Im 2011 erschienenen Sammelband „Anthroposophie in Geschichte und Gegenwart“ setzt sich Uwe Werner erneut mit dem Thema Anthroposophie im Nationalsozialismus auseinander. Werner betont darin zunächst die Berechtigung von Kritik an Steiners Rassenbegriff: „Es ist die Rede von Dekadenz, Degeneration, von auf- und absteigender Entwicklung. Diese Äußerungen werden nicht ohne Grund seit den neunziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts von Kritikern moniert. “ Im Folgenden verweist Werner auf Steiners Sicht des Individuums, das eine Abwertung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Ethnie ausschließt. Nach Steiner sei jedes Individuum eine „Art für sich“. Diese Sichtweise Steiners werde durch die moderne DNA-Forschung bestätigt. Werner wirft den Kritikern Steiners vor, dass sie diesen Hintergrund seiner missverständlichen Äußerungen nicht zu deren Interpretation mit heranziehen.
Steiner sei sich bewusst gewesen, dass Äußerungen von ihm missdeutet werden können. Eindeutig habe er sich gegen Rassenvorurteile geäußert, die den Menschen hindern, den anderen zu verstehen, im „in die Seele zu blicken“. Steiner habe deutlich gemacht, dass es wichtig sei, die Unterschiede der leiblichen Herkunft zur Kenntnis zu nehmen, diese dürften aber nicht zum Bewertungskriterium werden.
Werner betont, dass sich Rudolf Steiner von allen Auffassungen distanziert hat, die davon ausgingen, dass Rassen für die Zukunft noch eine Bedeutung haben könnten. Halte man daran fest, konserviere so den Hass und löse ihn nicht durch Liebe auf, so müsse „das Allerschlimmste daraus folgen“, so zitiert Werner Steiners Vortrag aus dem Jahr 1905. Steiners Aussagen zu Atlantis und „Rasseneigentümlichkeiten“ seien in diesem Kontext zu interpretieren, da sie in zeitlicher Nähe erfolgten.
Steiners Bekenntnis zum Deutschtum sieht Werner so, dass es sich hier um ein „unpatriotisches, unpolitisches Verständnis“ gehandelt habe, das sich in der schöpferischen Leistung einzelner Menschen geäußert habe. Allerdings habe dies nach dem Ausbruch des 1. Weltkriegs und Steiners Argumentation gegen die Kriegsschuld des deutschen Volkes missverstanden werden können, konzediert Werner. In diesem Zusammenhang habe Steiner sich auch für die Finanzierung der verschwörungstheoretischen Schrift „Die Entente-Freimaurerei und der Erste Weltkrieg“ von Karl Heise eingesetzt. Bereits der Steiner-Biograph Christoph Lindenberg hatte 1989 dafür plädiert, Steiners Äußerungen im Kontext des Ersten Weltkriegs „nicht nur als zeitgeschichtliche, sondern auch als zeitbedingte Darstellungen einzuschätzen“.
Werner stellt auch fest, dass sich viele Anthroposophen nach der Machtergreifung „in den von Hitler ausgelösten Begeisterungssog für eine Erneuerung und Einigung Deutschlands hineinziehen“ ließen. Der damalige Vorsitzende der Anthroposophischen Gesellschaft, Hans Büchenbacher, der selbst einen jüdischen Elternteil hatte, schätze den Anteil der in dieser Hinsicht anfälligen Gesellschaftsmitglieder in seinen Erinnerungen auf zwei Drittel. Als Beispiel für diejenigen Anthroposophen, die den Nationalsozialismus von Anfang an richtig einschätzten, nennt Werner Ita Wegmann, die von einer „Verführung ohnegleichen“ sprach und Albert Steffen, der in seinem Tagebuch seine Angst vor Nazideutschland in eindringliche Worte fasste.
Werner bezieht auch kritisch zu Staudenmaiers Dissertation Stellung: Die Fokussierung auf die „Gemengelage“ von völkischen und anthroposophischen Themen berge die Gefahr, deren Relevanz für die damalige Anthroposophie zu überschätzen. Denn die „Schwerpunkte anthroposophischer Tätigkeit und schriftstellerischer Erörterung“ hätten an anderer Stelle gelegen. „Trotzdem“, so Werner, komme Staudenmaier „stellenweise zu einer adäquaten Einschätzung. “
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Literaturhinweise:
INFO3-Verlag (Hg.): Anthroposophie und die Rassismus-Vorwürfe - Der Bericht der niederländischen Untersuchungskommission „Anthroposophie und die Frage der Rassen“, 4. Aufl. Frankfurt 2006, Schriftenreihe „Kontext“ Bd. 1, Vorwort von Justus Wittich.
Lindenberg, Christoph: Rudolf Steiner und die geistige Aufgabe Deutschlands, in: Die Drei, Nr. 12/1989, S. 800-910.
Staudenmaier, Peter: Between Occultism and Fascism: Anthroposophy and the Politics of Race and Nation in Germany and Italy 1900-1945, Diss. Cornell University 2010.
Staudenmaier, Peter: Der deutsche Geist am Scheideweg: Anthroposophen in Auseinandersetzung mit völkischer Bewegung und Nationalsozialismus, in: Puschner, Uwe/Vollnhals, Clemens (Hg.): Die völkisch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus. Eine Beziehungs- und Konfliktgeschichte, Göttingen/Oakville (USA) 2012, S.473-491.
Werner, Uwe: Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus (1933-1945) München 1999.
Werner, Uwe: Rudolf Steiner zu Individuum und Rasse, in: Uhlenhoff, Rahel (Hg.): Anthroposophie in Geschichte und Gegenwart, Berlin 2011, S. 705-778.
Bericht-Nr. : 120415-01DE Datum: 15. April 2012
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