Nachrichtenbeitrag
Anthroposophie soll „nahbar“ werden - Jahrestagung umgekrempelt
STUTTGART (NNA) – Neue Wege hat die Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland bei der Jahrestagung vom 19.- 21.Juni in Stuttgart beschritten: Junge Mitglieder wurden bewusst in die Vorbereitung einbezogen. Ihre Ideen brachten zumindest bei der Tagung einiges in Bewegung. „Krusten wurden gesprengt“ - so der Kommentar eines Teilnehmers beim Abschluss.
Schon der Tagungstitel, der aus Anthroposophie das abgewandelte „AnthroposoWie“ verbunden mit einem Fragezeichen gemacht hatte, verwies auf Veränderung: Die „vielfältigen Erfahrungen als Erinnerung“ der Älteren mit denjenigen der Jüngeren, die sich „zukunftsorientiert“ sehen und „das Morgen mit sich wissen“, zusammenzubringen, wie es der Generalsekretär der Gesellschaft, Hartwig Schiller in seinem Einladungswort an die Mitglieder formulierte. Begonnen hatte der Prozess mit der Tagung Campus A in Stuttgart, wo sich junge Menschen zusammengefunden hatten, die sich für das Thema Anthroposophie engagieren wollten. In einer Reihe von Arbeitstreffen hatten sie ihre Vorstellungen konkretisiert.
Nahbare Anthroposophie
In ihren Sonderseiten zur Tagung, die zusammen mit der Jahresversammlung der Gesellschaft mit einer Neuwahl des Vorstandes stattfand, beschrieben die jüngeren Mitglieder des Vorbereitungsteams, wie sie sich die Anthroposophische Gesellschaft der Zukunft vorstellen. Eine Anthroposophie, die „mit weniger Urteilen über andere auskommt“, die „sich nicht vor der Welt zurückzieht, sondern sich traut, sich zu öffnen“, eine “nahbare Anthroposophie“, die nicht von dem „Gefühl überragender Erkenntnis“, sondern von „echtem Interesse und wachen Fragen lebt“, hieß es dort zum Beispiel. Entsprechend den Vorschlägen waren neue Elemente in den Ablauf von Tagung und Jahresversammlung aufgenommen worden.
„Es war unser Anliegen, wenn man es einmal mit der Theatergeschichte vergleicht, vom Theater vor Brecht mit seiner Trennung von Bühne und Publikum wegzukommen, beide Ebenen sollten durchlässig werden“, erläutert Matthias Niedermann von der Vorbereitungsgruppe gegenüber NNA. Inhalte sollten mehr im Gespräch entstehen und nicht „topdown“ durch Vortragsredner vermittelt werden. Weniger als fertiger Inhalt solle Anthroposophie so erscheinen, was interessiere, sei der Umgang jedes einzelnen mit ihrem Erkenntnispfad. Auch der Untertitel der Tagung mit seinem Plural „Wege zum Geist“ brachte die angestrebte Vielfalt zum Ausdruck.
Um den Gesprächscharakter zu verstärken, enthielt die Tagung ein fortlaufendes Podium an drei Tagen, bei dem jeweils dieselben Gesprächspartner anwesend waren. Die Vermittlung von persönlichen Erfahrungen mit Erkenntnis- und Forschungsweg der Anthroposophie sollte im Vordergrund stehen. Der Rolle der Kunst habe man, so Niedermann, auch die Aufgabe zugedacht, blinde Flecken im eigenen Selbstverständnis zu beleuchten. So wurde das Podium jeweils durch einen kurzen Clownauftritt ergänzt. Auch eine Satire von Rudolf Steiner „Das Lied von der Initiation“, die als Auftakt des zweiten Tages eurythmisch aufgeführt wurde, passte zu dieser Intention, da sie menschliche Schwächen im geistigen Streben thematisiert.
Entsprechend wurde das Thema des Podiums „Wege zum Geist“ dann auch umgesetzt mit Unterzeilen wie „Welchen Weg gehe ich?“ oder „Erfahrungen auf meinem Weg“ und der Frage nach der eigenen Lebenspraxis.
Weg nach innen
Gioia Falk, Eurythmistin, bekannt durch die Inszenierung der Mysteriendramen an der Goetheanum-Bühne und der Bildekräfteforscher Dorian Schmidt folgten zusammen mit dem Dozenten Christoph Hueck und dem Künstler Alexander Schaumann der Einladung, im Podiumsgespräch von ihrer persönlichen Annäherung an den Erkenntnisweg der Anthroposophie zu berichten.
Falk, die neben Hartwig Schiller zukünftig auch das Amt einer Generalsekretärin der Anthroposophischen Gesellschaft bekleiden wird, verdankt ihre Hinwendung zum Spirituellen nicht zuletzt ihrem beruflichen Weg. Es sei das Studium der Eurythmie gewesen, erläuterte sie, das sie auf den „Weg nach innen“ gebracht habe. Sie habe erübt, sich angesichts der Vielfalt der Erscheinungen auf einzelne Qualitäten zu konzentrieren. Sich Form ohne Farbe oder Farbe ohne Form vorzunehmen, nannte sie als Beispiel. Eine Erfahrung dabei sei gewesen: „Etwas Fremdes spricht mit mir“. Um die entsprechenden Qualitäten schließlich hervorzubringen, sei es notwendig gewesen, sich in die entsprechende Geste „einzuschwingen“, was zu einem Gefühl der totalen Verbundenheit geführt habe. Das zunächst Fremde habe sie „wie von innen erschlossen“ erlebt.
Wie eine solche „Wesensbegegnung“ sichtbar und für das gegenseitige Verständnis fruchtbar gemacht werden kann, zeigte Falk im Anschluss anhand einer kurzen eurythmischen Darstellung mit zwei Künstlern. Polare Gesten, die der Härte und der Weichheit, wurden gezeigt, man identifizierte sofort die Personen mit den Qualitäten der Bewegungen. Im Verlauf der Darstellung begann das jeweilige Gegenüber zunehmend die Qualität des Anderen zu übernehmen und in die eigene Bewegungsart zu integrieren. Am Ende war jeder in der Bewegungsart des Anderen angekommen – und dies ohne Selbstaufgabe.
Lehrstück
Dorian Schmidt schilderte als eine Facette persönlicher Erfahrung „auf dem Wege“, wie aus dem Bemühen, das Wesenhafte der Bäume und das Lebendige überhaupt gegenüber einer rein chemisch-mechanistischen Betrachtungsweise zu verteidigen, beinahe durch Zufall eine neue, ihm wertvolle Forschungsmethode entstanden ist.
Um mit dem Wesenhaften der Bäume in Kontakt zu kommen, war es notwendig, die Lebenskräfte der beteiligten Seminaristen anzuregen, sie hätten sich als zu wenig flexibel und durchlässig erwiesen, erläuterte Schmidt. Um die Hülle der Lebenskräfte bzw. die Aura der beteiligten Personen in Bewegung zu bringen, wurden Gefühle durchgespielt. „Das war wie im Theater, wir haben uns mit unseren Gefühlen beschäftigt, aber daraus wurde ein ganz eigenes Lehrstück“. Schmidt schilderte, wie sich durch das Erleben von Gefühlen unabhängig von ihrem körperlichen Ausdruck die gleiche Kräftewelt erschlossen habe wie draußen in der lebendigen Natur. Heiterkeit, Freude, Ernst, Strenge – man könne diese Gefühle wie ein Theaterstück aufführen, sei die Erfahrung gewesen. „Gefühle sind hochgradig objektiv“, betonte Schmidt.
In einem nächsten Schritt ließen sich die so gemachten Erfahrungen auch im Denken und an Begriffen erproben. Hier schilderte Schmidt Variationen zu der von Rudolf Steiner empfohlenen ersten Nebenübung: die Konzentration auf einen belanglosen Gegenstand wie z.B. einen Nagel. Der Raum beginne sich zu verändern z.B. hinsichtlich seiner Dichtigkeit oder Helligkeit, je nachdem, welche Fragen man an den Gegenstand stelle, z.B. „Was kann ich mit einem Nagel alles machen außer nageln?“ Oder: „Wie kann ich nageln ohne Nagel?“. Hier heiße es, dranzubleiben an den Erfahrungen: „Meistens geben wir zu schnell auf“, betonte Schmidt.
Der Weg nach innen im Alltag
Beim Podium zum Thema Alltagspraxis kam der frühere Abgeordnete der Grünen/Bündnis 90 im Bundestag Gerald Häfner zu Wort, der noch bis Anfang Juli dem Europaparlament angehört. Moderator Michael Schmock bezeichnete Häfner als „Radikalfall“, wenn man die Frage stelle, wie der an den Vortag beschriebene Weg nach innen sich denn im Alltag auswirke. Als Politiker habe Häfner doch am allerstärksten überwiegend mit Öffentlichkeit und auch mit den damit verbundenen Angriffen zu tun.
Häfner schilderte zunächst, wie er schon als Kind auf politische und soziale Prozesse aufmerksam geworden war durch Bilder von hungernden Kindern. Bis heute sei sein Engagement von seinem damaligen Empfinden geprägt, dass es solches Elend auf der Welt mit all ihren Reichtümern nicht geben dürfe. Später sei der Wunsch hinzugekommen, die Ursachen zu durchdringen, die zu diesen Verhältnissen führten. Es seien Strukturen, die – oft auch durch Gesetze bedingt – die Menschheit in einem „eisernen Griff“ hielten und „Böses wie mechanisch“ erzeugten. Allerdings seien diese Strukturen weder natur-, noch gottgegeben, sondern immer von Menschen erzeugt, die diese jederzeit auch verändern könnten.
Der Mensch als Wagenlenker
Als Bild stehe ihm dabei in Berlin der Wagenlenker der Quadriga auf dem Brandenburger Tor oft vor Augen: Der Mensch habe alles in sich, die Rosse könne man als Seelenkräfte auffassen, die es zu meistern gelte, wenn Wut, Angst oder Machtstreben einen zu überwältigen drohten. „Diese Kräfte zu bändigen und im Ich frei zu werden für zukunftsoffene Gestaltung – darum bemühe ich mich in meinem individuellen Schulungsweg“, erläuterte Häfner. Diesen individuellen Schulungsweg brachte er dann in Zusammenhang mit einem größeren „Schulungsweg im Sozialen“, auf dem er den heutigen Menschen sieht.
„Wer ist denn der Wagenlenker im Sozialen? Wer lenkt im Zeitalter der Bewußtseinsseele und der Demokratie ein Land, Europa, die Welt?“, lautete eine seiner Fragen. Um sie zu veranschaulichen, schilderte Häfner eine dramatische Episode aus seinem parlamentarischen Alltag, eine Darstellung, die die Anwesenden sehr bewegte. Er berichtete aufgrund seiner unmittelbaren Beteiligung von den Ereignissen in Parlament und Bundesregierung nach dem 11.September 2001, als es darum gegangen war, ob Deutschland auf breiter Front die USA in ihrem militärisch geführten Antiterrorkrieg unterstützen sollte.
Am Beispiel der Abläufe dokumentierte Häfner, wie auch ein einzelner mit Mut und Geistesgegenwart den Lauf der Ereignisse beeinflussen kann. „Es kommt immer auf den Menschen an, auch wenn ein einzelner einer ganzen Maschinerie gegenübersteht – denn auch sie wird ja mit Gedanken und Entschlüssen von Menschen gefüttert“, betonte Häfner. Ob man im entscheidenden Augenblick den Mut dazu finde und den richtigen Weg im Sozialen einschlage, hänge allerdings davon ab, ob „ich in mir verlebendigen kann, was werden will“, betonte Häfner und schlug damit den Bogen zu den Wahrnehmungsübungen der anderen Podiumsteilnehmer.
„Frischer Wind“
Häfner zeigte sich begeistert vom Tagungsablauf mit den neuen Elementen, er sah die Anthroposophische Gesellschaft, wie er im Abschlussplenum betonte, „im Licht am Ende eines langen Tunnels.“ Auch das Plenum war gestaltet im Sinn eines sozialkünstlerischen Prozesses, bei dem sich die Teilnehmer wie schon in Passagen zuvor über ihr Erleben während der Tagung austauschten. Sicher und gekonnt führten die beiden jungen Moderatoren, Felix-Dan Müller und Eva-Maria Koch durch die Veranstaltung und ermutigten die Teilnehmer zum Austausch. Im Abschlussplenum ging es dann um Qualitäten und „Samen“, die jeder einzelne von der Tagung mitnehmen konnte.
Die älteren Teilnehmer, die sich äußerten, beurteilten das Geschehen positiv: Erstaunt war man, dass in „so kurzer Zeit so etwas möglich“ geworden war, gelobt wurde der „frische Wind“, den die jungen Leute in die Tagung gebracht hatten und die Offenheit, mit der die Generationen dabei miteinander umgegangen waren. „Alte Disziplin trifft junge Kreativität“, fasste ein Teilnehmer zusammen. Voll des Lobes waren die Teilnehmer auch über die künstlerischen Darbietungen beim abendlichen Campus-Festival, das von Studierenden der verschiedenen Stuttgarter Ausbildungsstätten und freien Ensembles gestaltetet worden war mit Aufführungen von Eurythmie, Musik und Schauspiel. Es ging ebenfalls auf die Vorschläge der jüngeren zurück ebenso wie ein „Raum der Ungeborenen“ im Gebäude der Freien Waldorfschule Uhlandshöhe, der ein Gegengewicht zum traditionellen Totengedenken bei den Jahresversammlungen bilden sollte.
Neue Vorstandsmitglieder
Bei den Wahlen zum neuen Vorstand, dem sog. Arbeitskollegium, wurden der Kunsthistoriker und -therapeut Reinhold Väth, Benjamin Kolass – bekannt durch die Herausgabe der projekt.zeitung, Angelina Sandtmann aus der Redaktion von „Die Drei“ sowie Falk Zientz, Vorstandsmitarbeiter der GLS-Bank mit überwältigender Mehrheit neu ins Arbeitskollegium gewählt. Wiedergewählt wurden auch Hartwig Schiller, Jasmin Mertens und Michael Schmock. Dem Vorstand gehören außerdem Peter Krüger und Gioia Falk an. Im Gespräch mit NNA zeigte sich Hartwig Schiller sehr zufrieden mit dem Ablauf der Tagung: Er sei „begeistert vom Schwung und vom Leben“, den die jungen Leute hereingebracht haben. Mit Gioia Falk als zweiter Generalsekretärin verfügt die Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland jetzt über eine Doppelspitze. Damit trage man der Größe der Landesgesellschaft Rechnung, wurde betont. Eine Filmdokumentation über die Tagung wird nach den Sommerferien auf der Homepage der Gesellschaft zu finden sein.
END/nna/ung
Bericht-Nr.: 140630 Datum: 30. Juni 2014
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